Lisa Paus: “Es ist unser aller Problem, wenn Jugendliche einsam sind – auch wegen der drastischen Auswirkungen auf die Demokratie”

Das war die Diskussion zur Studie “Extrem einsam?”

Viele Jugendliche in Deutschland fühlen sich einsam. Unter den einsamen Jugendlichen wiederum sind antidemokratische Einstellungen verbreiteter. Das zeigt die neueste Studie des Progressiven Zentrums, die am Freitag in Berlin vorgestellt und diskutiert wurde.

Zur Vorstellung und Diskussion der Studie “Extrem einsam?” waren neben Bundesfamilienministerin Lisa Paus auch Sozialpsychologin und CeMAS-Geschäftsführerin Pia Lamberty sowie Melanie Eckert, Mitgründerin von krisenchat, geladen. Neben der Studie wurde auch zum ersten Mal der im Rahmen des Projekts entstandene Kurzfilm „Erst einsam, dann extrem?“ mit jugendlichen Stimmen aus ganz Deutschland vorgestellt. Sehr beunruhigend seien zwar die Ergebnisse der Studie, leitete Moderator Bent Freiwald ein, beruhigend jedoch, wie viele Menschen an einem Freitagabend in Berlin zusammenkämen, um über das Thema zu sprechen. Über hundert Gäste aus Politik, Wissenschaft, Medien, vor allem aber auch Jugendliche und Menschen aus der Jugend- und Sozialarbeit waren der Einladung gefolgt.

Bundesfamilienministerin Lisa Paus während der Paneldiskussion.

Thema Jugendeinsamkeit “mit voller Wucht angekommen”

Als im November letzten Jahres eine Social-Media-Kampagne des Familienministeriums mit Hilfsangeboten bei Einsamkeit startete, stellte sich Lisa Paus die Frage: An wen muss sich die Kampagne eigentlich richten? Lange Zeit lag der Fokus vor allem auf einsamen Senior:innen. Erst durch das neu gegründete Kompetenznetz Einsamkeit in ihrem Ministerium und Studien wie etwa “Extrem einsam?” wisse man nun immer besser, wie stark auch Jugendliche betroffen sind. Das Thema Einsamkeit bei Jugendlichen sei inzwischen mit voller Wucht im Familienministerium und auch im Bundestag angekommen, sagte Lisa Paus. Bei der Frage, was die Politik konkret tun könne, sei man indes noch ganz am Anfang. Eine Strategie gegen Einsamkeit, bei der auch Jugendliche stärker im Fokus stehen, werde gerade entwickelt. “Wenn wir nichts tun, wird das was die Zahlen der Studie ‚Extrem einsam?‘ belegen, noch schlimmer werden.” betonte die Bundesministerin.

Die Studie „Extrem einsam?“ ergab, dass 55% der Jugendlichen manchmal oder immer Gesellschaft fehlt.

Einblicke aus der Jugend- und Beratungsarbeit

Konkrete Einblicke aus ihrer Zeit in der offenen Jugendarbeit teilte Sozialpsychologin Pia Lamberty: Vor allem Jugendliche aus prekären Verhältnissen seien oft mit ihren Einsamkeitserfahrungen allein. Gleichzeitig sind sie häufiger von Einsamkeit betroffen, wie die Studie zeigt. Weiterhin fehlten in den Schulen oft Kapazitäten, es mangelte an Schulsozialarbeiter:innen, die Jugendarbeit sei unterfinanziert. Gleichermaßen fehlten Vertrauensräume, denn prekär lebende Jugendlichen hätten oft etwa Angst vor einer Intervention des Jugendamts, berichtete Lamberty. Einen niedrigschwelligen, digitalen Vertrauensraum will der krisenchat bieten. Das psychologische Beratungsangebot gibt es seit Beginn der Coronapandemie, aktuell beraten dort über 350 ehrenamtliche Fachkräfte. Mitgründerin Melanie Eckert schilderte, dass es bei etwa 10 % der Beratungsanliegen um Einsamkeit ginge, und diese oft im Zusammenhang mit sozialen Ängsten auftrete. Vor allem junge Männer würden im anonymen Chat im Vergleich zu anderen Beratungsanliegen oft von ihrer Einsamkeit sprechen.

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Aufzeichnung des Livestreams der Veranstaltung

Es braucht ein breites Bündnis gegen Einsamkeit bei Jugendlichen

Welche Reaktion ist nun auf das Problem der Jugendeinsamkeit erfordert? Junge Menschen seien nicht nur von Einsamkeit betroffen, sondern es fehle insgesamt das Verständnis und Gefühl von Gesellschaft, das zeigten die Studie des Progressiven Zentrums und der Kurzfilm. Daher seien für die Familienministerin vor allem eine gemeinsame Anstrengung und ein gesamtgesellschaftliches Bewusstsein der erste Ansatzpunkt – statt in dieser Sache nur mit den Fachminister:innen in den Ländern zu verhandeln. Das Interesse am Thema, etwa auch an ihrem kurz zuvor mit Gesundheitsminister Lauterbach vorgestellten Bericht, sei groß. Lisa Paus wünscht sich, dass in Zukunft gemeinsam daran gearbeitet wird: mit Expert:innen, der Politik im Bund, in den Ländern und Kommunen. Zunächst müsse anerkannt werden, dass das Problem groß sei, um dann gemeinsam zu beraten, wo welches Geld zusätzlich gebraucht würde und welche Strukturen sich ändern müssten. Paus verwies etwa auf ihr Pilotprojekt der Mental Health Coaches an Schulen, die Kinder und Jugendliche bei Fragen zu mentaler Gesundheit und bei akuten Krisen unterstützen sollen. Besonders betonte die Ministerin darüber hinaus, dass als Gesellschaft über Einsamkeit gesprochen werden müsse, statt nur mit den Betroffenen: “Es ist nicht nur ein individuelles Problem, wenn Kinder und Jugendliche einsam sind. Sondern es ist unser aller gesellschaftliches Problem. Nicht nur wegen der Kinder und Jugendlichen, sondern auch wegen der drastischen Auswirkungen auf unsere Demokratie.” 

Im Anschluss an die Paneldiskussion beantworteten die Panelist:innen Fragen des Publikums.

Bisher kaum Studien zu jugendlichem Verschwörungsglauben

Eine dieser drastischen Auswirkungen auf unsere Demokratie kann etwa die unter einsamen Jugendlichen weiter verbreitete Verschwörungsmentalität sein. So stimmen etwa 46 % der einsamen Jugendlichen der Aussage zu, die Regierung wisse oft über terroristische Anschläge Bescheid, ließe diese aber geschehen (Nicht-Einsame: 31 %). Sozialpsychologin und Expertin für Verschwörungsideologien Pia Lamberty ordnete diese Ergebnisse ein: Bisher gebe es kaum Forschung zu Verschwörungsglauben bei Jugendlichen. Allerdings sehe man auch bei Erwachsenen diese Zusammenhänge, und wisse aus Experimenten, dass das Einsamkeitsgefühl mit einem Gefühl von sozialem Ausschluss einhergehe, weshalb die Betroffenen versuchten, Bedeutung herzustellen und so gegebenenfalls bei Verschwörungen landen würden. Auf gesellschaftspolitischer Ebene sei für sie Beteiligung zentraler Teil der Lösung: “Wir reden über Kinder und Jugendliche, aber wir reden nicht mit ihnen.” Beim Thema Medienbildung seien etwa eher die Jugendlichen selbst die Expert:innen, für die Räume geschaffen werden müssten – gerade auch im ländlichen Raum. Auch Ministerin Paus möchte Jugendliche mehr beteiligen und hat darum das Bündnis für die junge Generation ins Leben gerufen.

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Was braucht echte Beteiligung?

“Wir müssen mehr dafür tun, dass wir gemeinsam Demokratie leben”, meint auch Ministerin Paus. Im Kurzfilm habe man gesehen, dass Politik in dem Alter keine Rolle spiele – und damit de facto auch Demokratie nicht. Demokratie funktioniere aber nur mit Beteiligung. Derzeit würden Qualitätsstandards für Beteiligung entwickelt, die Kommunen und Schulen vor Ort implementieren können. Außerdem unterstrich die Familienministerin nochmals die Forderung zur Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre. In ihrem Impulsvortrag betonte Prof. Dr. Beate Küpper, Co-Autorin der Studie, dass gerade einsamen Jugendliche Beteiligung nicht leicht falle. Zudem mache Einsamkeit abholbar für antidemokratische Angebote, Beteiligung sei also nicht per se demokratisch: “Das Vermissen von Gleichgesinnten birgt Gefahr, auch problematische Gleichgesinnte zu suchen und zu finden.” Sie unterstrich die Wichtigkeit passgenauer, demokratischer Beteiligungsangebote, die vielerorts neu geschaffen werden müssen.

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“Mentale Gesundheit fördert Demokratie”

Bislang fehlende Beteiligung zeige sich auch durch die hohe Zahl der Beratungen beim krisenchat, so Mitgründerin Melanie Eckert: “Der Bedarf, gehört zu werden, ist da.” Im Chat könnten Beziehungen aufgebaut werden und Räume geschaffen werden, die es dringend bräuchte. Und es gehöre mittlerweile zu unserer Lebenswelt dazu, dass auch digitale Räume Teil der Lösung sein können. Zum Abschluss der Diskussion machte Eckert nochmals den Zusammenhang zwischen mentaler Gesundheit und Demokratie deutlich. Wer mental gesund sei, könne besser mit Konflikten und Komplexität umgehen, unterschiedliche Emotionen wahrnehmen und regulieren. “Mentale Gesundheit fördert die Demokratie”, so Eckert. Kinder und Jugendliche für die Welt und für Krisensituation fit zu machen, helfe nicht nur ihnen, sondern sei eine gesamtgesellschaftliche Kompetenz. Auch Paus betonte in der abschließenden Fragerunde, dass man jetzt an einer entscheidenden Stelle sei: Es gehe um Gesundheit, aber es gehe ebenso um das demokratische System, das habe die Studie sehr deutlich gemacht.

Fotos des Abends

Klicken zum Vergrößern und Herunterladen. Copyright: Fabian Melber

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