Unsere Demokratie ist divers und wird in Zukunft noch viel diverser werden. Führt dies zu gesellschaftlichen Spannungen oder ist diese Problemdiagnose fehlgeleitet? Wie begegnen wir uns in einer diversen Demokratie auf Augenhöhe? Kann ein inklusiver Patriotismus dabei helfen, uns das Gemeinsame vor Augen zu führen? Die Diskussion zwischen Yascha Mounk und Kübra Gümüşay hat gezeigt: Die Ansichten darüber, wie Demokratie in einer diversen Gesellschaft funktionieren kann, gehen deutlich auseinander.
Wir wagen hier ein Experiment, das in der Geschichte einzigartig ist […]. Und zwar, eine monoethnische und monokulturelle Demokratie in eine multiethnische zu verwandeln.”
Mit diesem Bild steigt der Politikwissenschaftler Yascha Mounk in sein kürzlich erschienenes Buch Das große Experiment: Wie Diversität die Demokratie bedroht und bereichert ein. Er beschreibt darin, wie ethnische und religiöse Diversität historisch betrachtet eine Herausforderung für das Zusammenleben in Demokratien waren und auch heute noch sind. Ausgehend von dieser Analyse formuliert er seine Vision davon, wie ein auf Gleichheit beruhendes Miteinander in diversen Demokratien gelingen könnte.
In seiner Buchvorstellung, einer gemeinsamen Veranstaltung mit dem Zentrum Liberale Moderne und den Open Society Foundations, diskutierte Yascha Mounk seine zentralen Thesen mit Kübra Gümüşay, Visiting Fellow am Progressiven Zentrum und Autorin des Spiegel Bestsellers Sprache und Sein. Im Mittelpunkt der Debatte stand die Frage, wie wir uns hin zu einer Gesellschaft bewegen können, in der wir uns als freie und gleiche Bürger:innen – unabhängig von selbstgewählten Gruppenzugehörigkeiten – begegnen können. Moderiert wurde die Runde von Ferda Ataman.
Diskussion jetzt nachhören:
Diversität und Demokratie
Historisch betrachtet, so Mounk, seien Demokratien, in denen ein großer Teil der Menschen in gleicher Weise am politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben teilnehmen konnten, ethnisch, kulturell oder religiös immer relativ homogen gewesen. Das Zusammenleben in diverseren Gesellschaften wiederum, sei nicht selten durch Konflikte, Auseinandersetzungen und den systematischen Ausschluss von großen Teilen der Bevölkerung geprägt gewesen.
Nun ist das heutige Deutschland zweifelsohne ein Einwanderungsland und die Gesellschaft wird zunehmend diverser. Gegenwärtig haben 26% der deutschen Bevölkerung einen Migrationshintergrund – und dies ist nur ein sehr grober Indikator, der nicht ansatzweise die Diversität unserer Gesellschaft abbildet.
Doch inwiefern waren jene Gesellschaften, die wir im Rückblick als mehr oder weniger erfolgreiche Demokratien bezeichnen würden, tatsächlich homogen? Könne es nicht sein, dass es diese Demokratien lediglich besser geschafft haben, die Illusion einer relativ homogenen Gesellschaft zu schaffen? Mit diesen Fragen konfrontierte Kübra Gümüşay die zentralen Annahmen Mounks. Und sie fügte weiter hinzu:
Vielleicht ist die zentrale Herausforderung unserer Zeit gar nicht Diversität. Vielleicht ist es, wie Naika Foroutan sehr treffend beschreibt, vielmehr das an vielen Stellen wahrnehmbar gescheiterte Gleichheitsversprechen der Demokratie, das gesellschaftliche Spannungen erzeugt und unser demokratisches Zusammenleben untergräbt.
Visionen einer diversen Demokratie
Gümüşay und Mounk sind sich einig darüber, dass ein Grundoptimismus unbedingt notwendig ist. Eine Vision einer diversen Demokratie zu entwerfen, helfe dabei, Handlungsfähigkeit im Umgang mit gegenwärtigen Herausforderungen und mit in der Zukunft potenziell aufkommenden Problemen zu entwickeln.
Das Ziel müsse sein, eine demokratische Gesellschaft zu gestalten, in der Menschen selbstbestimmt zwischen verschiedenen Identitäten und Gruppenzugehörigkeiten auswählen können, ohne dass solche Unterschiede sich dann in ungleiche Behandlungen übersetzten, so Gümüşay.
Über den Weg hin zu einem solchen Idealzustand gehen die Meinungen der beiden jedoch auseinander. Mounk plädiert in seinem Buch für einen inklusiven Patriotismus. Ergänzend zum Verfassungspatriotismus, also dem Bekenntnis zu den im Grundgesetz verankerten liberal demokratischen Idealen und Werten, bedürfe es einen zukunftsorientierten und inklusiven – also keine Gruppe bevorzugenden – Kulturpatriotismus. Während der alleinige Verfassungspatriotismus nicht ausreichend Identifikationskraft besäße, böte der Kulturpatriotismus die Möglichkeit, eine diverse solidarische Gesellschaft aufzubauen, welche sich stärker durch die Gemeinsamkeiten definiere, als durch die vielen Unterschiede.
Identitäten als Mittel zum Zweck
Wie aber gelangen wir nun zu dem Ideal einer diversen Gesellschaft, die keine Gruppen und keine Menschen aufgrund irgendwelcher Merkmale schlechter behandelt oder gar ausschließt?
In identitätspolitischen Debatten wird immer wieder folgendes Argument vorgebracht: Essentialisierung, also das Absolutsetzen von Gruppenzugehörigkeiten, sei nicht förderlich, da es zur Spaltung oder Fragmentierung der Gesellschaft beitrage. Gümüşay wies hier jedoch auf das emanzipatorische Potenzial dieser strategischen Essentialisierung hin:
Das große Paradoxon in antirassistischer Arbeit, auch in feministischer Arbeit ist, dass sich Menschen bestimmter Kategorien bedienen müssen, die sie letztlich eigentlich abschaffen möchten. Sie tun dies aber nur, um sichtbar zu machen, dass die Strukturen, die Systeme innerhalb derer wir leben, Menschen aufgrund dieser Faktoren ausschließen.”
Mounks Einwand, dass hierbei stets die Gefahr existiere, das strategische Element auf der Strecke zu verlieren und so zur Verfestigung der Unterschiede beizutragen, zeigt auf, dass die Umsetzung dieser Strategie herausfordernd sein kann.
Das Experiment der Gleichheit
Ist das große Experiment also die zunehmende ethnische oder religiöse Diversität unserer Demokratien? Vielleicht nicht. Die große Herausforderung, so Ferda Ataman, liege womöglich eher darin, das Gleichheitsversprechen der Demokratie auch in diversen Gesellschaften Wirklichkeit werden zu lassen.
Die Diskussion hat gezeigt: Mounk und Gümüşay unterscheiden sich in ihren Grundannahmen und Zielsetzungen durchaus. Für uns besteht jedoch eine zentrale Erkenntnis der Debatte hierin:
Auf der Suche nach dem Gemeinsamen sollten wir vor allem denen Gehör schenken, die sich an den Rändern der Gesellschaft befinden und die tagtäglich die Erfahrungen machen, nicht als gleichwertiger Teil unserer Demokratie wertgeschätzt zu werden.
Die Veranstaltung fand im Rahmen der Roundtable-Reihe Democratic Futures statt, eine von dem Progressiven Zentrum und dem Zentrum Liberale Moderne durchgeführtes Diskussionsformat. Die Open Society Foundation unterstützte die Veranstaltung als Partner.