1990 setzte die Regierung die Treuhand als Notfallinstrument ein, um die angeschlagene DDR-Wirtschaft zu retten. Brauchen wir 2020 angesichts der drohenden Wirtschaftskrise eine Corona-Treuhand? Marcus Böick über Lehren aus der Geschichte.
Keiner der Akteure ist hierauf wirklich vorbereitet. Überall mangelt es an Fixpunkten und Erfahrungswerten, während zugleich die Erwartungen ins Unermessliche steigen. Die sich im Umbruch befindliche Öffentlichkeit verfolgt atemlos und staunend die sich überstürzenden Entwicklungen.
Die weitgehend von den welthistorischen Ereignissen überrumpelte Bundesregierung fährt auf Sicht und ihre Beamten treffen nahezu im Tagesrhythmus spektakulärste Entscheidungen; sie jonglieren mit sagenhaften Milliardenbeträgen oder verfügen einschneidende Notfallmaßnahmen, die sonst in Monaten, Jahren oder gar Jahrzehnten kaum denk- oder gar realisierbar gewesen wären.
So viel Bewegung und Dynamik war selten – und auch in der Gesellschaft macht sich allmählich Verunsicherung breit: Die Zukunft erscheint zunehmend ungewiss. Ebenso müssen die Unternehmen unmittelbar ins Dunkel springen; ökonomische Rezepte, Prognosen und Vorschläge überschlagen sich, können aber kaum mit der dramatischen Realität Schritt halten.
Ein Jahr unglaublicher Umbrüche
Die Rede ist vom Jahr 1990, einem Jahr unglaublicher Umbrüche im bis zum 3. Oktober noch geteilten Deutschland, aber auch im östlichen Europa. Der Politikwissenschaftler Klaus von Beyme hat einmal prägnant von der „Stunde der Exekutive“ geschrieben, so wie man es heute ebenfalls oft hört. Besonders der Übergang der Plan- zur Marktwirtschaft sollte sich seinerzeit als enorme Herausforderung erweisen.
Vornehmlich liberal-konservative Politiker hatten den ostdeutschen (Erst)-WählerInnen im Frühjahr 1990 „blühende Landschaften“ und die D-Mark als starkes „Signal zum Bleiben“ versprochen, während sich im „goldenen Westen“ nichts ändern sollte, wie man zugleich den AltbundesbürgerInnen versicherte.
Nach Monaten bangen Abwartens trat dann zum 1. Juli 1990 die in kürzester Zeit zwischen der von Helmut Kohl geführten Bundes- sowie der von Lothar de Maiziére geleiteten DDR-Regierung ausverhandelte Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion in Kraft. Für die knapp achttausend ostdeutschen Betriebe mit ihren vier Millionen MitarbeiterInnen, die die scheidende SED-Regierung unter Hans Modrow noch im März an eine neue Treuhand-Stelle übertragen hatte, erwies sich dieses Datum als Zäsur. Statt dem erhofften marktwirtschaftlichen „Urknall“ entpuppte sich die paritätische Währungsunion aber als extreme Schocktherapie für die nach Jahren der Planwirtschaft ohnehin notleidendenden Großbetriebe der ihrem Ende entgegentaumelnden DDR. Welcher Weg sollte nun aus dieser aufbrechenden Misere herausführen?
Interessante Wechselverhältnisse
Eine Frage, die sich gegenwärtig aufs Neue stellt. 2020 war eigentlich als Jahr der dreißigsten Jahrestage prädestiniert. Daraus wurde nichts; auch hier führte die globale Pandemie zu einem beispiellosen Streichkonzert: Konferenzen wurden abgesagt, Podiumsdiskussionen gecancelt, TV-Programme umgestellt. Dabei stehen 1990 und 2020 in einem ziemlich interessanten Wechselverhältnis, auch wenn die Situation auf den ersten Blick enorme Unterschiede aufweist: Der Zusammenbruch der über Jahre durch das SED-Regime auf Verschleiß gefahrenen Planwirtschaft durch den raschen Eintritt in die westlichen (Welt-)Märkte bedeutete für die Ost-Industrie seinerzeit einen disruptiven Aufwertungs- und Beschleunigungsschock, auf den diese weder materiell noch mental vorbereitet waren.
2020 erleben wir quasi eine Umkehr dieses Szenarios – einen unerwarteten wie bis dato undenkbaren Entschleunigungs- und Deglobalisierungsschock, der zuvor wettbewerbsfähige Unternehmen mit staatlicherseits verfügten Unterbrechungen, Schließungen und anderen Notmaßnahmen konfrontiert und mithin von ihren Märkten abschneidet. Das Verhältnis von „Gesundheit“ und „Wirtschaft“ wird intensiv diskutiert; Staaten weltweit versuchen diese ökonomischen Schockstarre kurzfristig mit massiven Hilfsprogrammen abzumildern. Wiederum mangelt es an Orientierungspunkten und Handlungswissen.
Ein Rückblick ins Jahr 1990 hilft zumindest, für bestimmte Problemlagen zu sensibilisieren und dabei insbesondere die zeitgenössischen Wahrnehmungs- und Reaktionsmuster zu studieren. Im Sommer nach dem Mauerfall überließ die Bundesregierung den Wirtschaftsumbau einer neu geschaffenen und von hastig rekrutierten West-ManagerInnen geführten Treuhandanstalt. Deren Auftrag hatte man am 17. Juni 1990 im Treuhand-Gesetz auf eine rasche „Re-Strukturierung“ der DDR-Wirtschaft umprogrammiert, vorwiegend durch schnelle Privatisierungen und konsequente Stilllegungen. Diese neue Privatisierungsagentur sollte unter der Leitung des erfahrenen Ruhrgebiets-Sanierers Detlev Karsten Rohwedder an der Schnittstelle zwischen Staat und Markt den Übergang vom Plan zum Markt gestalten.
Rohwedder und seinen Getreuen wurde aber nach dem Umstellungsschock im Spätsommer schnell bewusst, dass es hierbei nicht um die Führung einer erlesenen „Privatisierungsboutique“ gehen würde, sondern um dramatisches, handfestes Krisen- und Notfallmanagement ungeahnten Ausmaßes. Der Großteil der Ostbetriebe, so wurde schnell klar, würde den massiven Schock kaum verkraften; die Treuhand-Betriebe verschlangen im Spätsommer monatlich zweistellige Milliardenbeiträge allein für Personalkosten. Die Zukunft vieler Betriebe schien völlig ungewiss.
Was die Treuhand zu leisten vermochte
Rohwedder fuhr auf Sicht und baute die Treuhand pragmatisch wie radikal zu einer Art simuliertem Unternehmen aus. Die Organisation funktionierte wie ein wirtschaftliches Ausnahmeregime, als eine zentralistische Nebenregierung im Osten, in dem sich zeitgleich die aus dem Westen transferierten föderalen Institutionen – allen voran die Länder, aber auch Verbände oder Gewerkschaften – erst noch sortieren mussten.
Wolfgang Seibel und Roland Czada haben bereits als scharfe zeitgenössische Beobachter beschrieben, wie die Treuhandanstalt binnen weniger Monate zu einem „Blitzableiter“ für den massiven Frust vieler Ostdeutscher wurde, die statt des versprochenen Wirtschaftswunders nun Arbeitslosigkeit, Abwicklung und Abwanderung vor Augen hatten.
Der ostdeutsche Wirtschaftseinbruch in den frühen 1990er-Jahren erwies sich, ökonomischen Diagnosen zufolge, letztlich als einer der größten zu Friedenszeiten. Die Treuhand, die nach dem Mord an Rohwedder am 1. April 1991 von der CDU-Politikerin Birgit Breuel geführt wurde, setzte weiterhin unverdrossen auf schnelle, vornehmlich betriebswirtschaftlich orientierte Privatisierungen, die die „wirksamste Form der Sanierung“ seien: Lieber kurz und schmerzhaft als lang und qualvoll. Die enorme marktwirtschaftliche Rosskur sowie deren volkswirtschaftliche, gesellschaftliche wie kulturelle Folgewirkungen sind bis heute sichtbar.
Erinnerungskulturelle „Bad Bank“
Es verwundert nicht, dass auch noch nach drei Jahrzehnten mit größter Leidenschaft über die Treuhand und ihr Vermächtnis gestritten wird. Deren Bilanzen könnten gegensätzlicher kaum ausfallen. Während sie den einen als Best-Practise-Beispiel für ökonomische Umbruchsbewältigung gilt, verteufeln sie andere als radikalkapitalistische Abwicklungsmaschine oder als bürokratisches Milliardengrab.
Interessanterweise flackerten bereits im März 2020 erste Diskussionen auf, ob der Bund für die bevorstehenden Beteiligungen an notleidenden Unternehmen eine Art „Corona-Treuhand“ brauche, um die notleidende Wirtschaft wieder zum Laufen zu bringen. Der Blick auf das Original mit seiner wechselvollen Geschichte lehrt hier eher Demut und schützt vor überzogenen Erwartungen.
Richtig ist: Man kann die Treuhand durchaus als extremes Beispiel für die Bewältigung enormer Umbruchs- und Schocksituationen im Schnittfeld von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft betrachten. Kurzfristig funktionierte die historische Treuhand als unmittelbares Notfallinstrument und als Ausnahmeregime zum akuten Krisenmanagement für ihre Betriebe, die sie etwa mit dringend nötigem Kapital und Knowhow versorgte, durchaus. Mittelfristig jedoch fällt ihre volkswirtschaftliche Bilanz deutlich gemischter aus, da sie die zahlreichen Widersprüche und Interessengegensätze kaum sinnvoll auflösen und die noch immer fragile wie kleinteilige Ostwirtschaft im Grunde nie an ihr westliches Vorbild heranführen konnte. Und langfristig spukt die Treuhand bis in die jüngste Zeit als eine Art erinnerungskulturelle „Bad Bank“ durch die nicht mehr ganz so neuen Länder und erscheint vielen der damals Betroffenen – ob zu Recht oder nicht – als zentrales Symbol für eine feindliche Übernahme des Ostens durch den Westen.
Die historische Zäsur „1990“ hält also für ihre mögliche Nachfolgerin „2020“ die etwas ernüchternde Erkenntnis bereits, dass gerade in unerwarteten Krisen- und Umbruchszeiten immer alles anders bleibt – und wir dies mit etwas zurückgenommener Gelassenheit aushalten müssen, bis sich der Sturm verzogen hat. Immense Erwartungen, enorme Überforderungen und massive Enttäuschungen liegen oft sehr nahe beieinander – wie das historische Beispiel Treuhand eindrücklich zeigt.