„Die EU ist genau wie die Sozialdemokratie Opfer ihres eigenen Erfolgs“

Cas Mudde über das Erstarken extremistischer Bewegungen in Europa, die Fehler der etablierten Parteien und wie man die Diskurshoheit von Populisten zurückgewinnt.

Cas Mudde ist einer der renommiertesten Forscher zu den Themen politischer Extremismus und Populismus in Europa. Mit dem Progressiven Zentrum sprach er über die strukturellen Gründe für das Erstarken des Populismus in Europa, die Krise der Sozialdemokratie und warum trotz „Paradise Papers“ mehr über Einwanderung debattiert wird als über Steuergerechtigkeit.

Professor Mudde, das Jahr 2017 war gekennzeichnet durch Niederlagen, aber auch Siege populistischer Parteien in ganz Europa – Le Pen und Wilders verloren in Frankreich und den Niederlanden, während FPÖ, AfD und ANO beachtliche Ergebnisse in Österreich, Deutschland und Tschechien erzielten. Im Hinblick darauf haben Sie – anders als viele andere – bereits vor den Wahlen in den letztgenannten Ländern gesagt: „Populismus ist nicht tot“. Was macht Sie da so sicher?

Zunächst einmal haben auch Le Pen und Wilders nicht verloren. Le Pen hat in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen ein Allzeithoch an Wählerstimmen erreicht. Sie hat sich in der ersten Runde der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen sehr gut geschlagen, fast mit einem Rekordergebnis. Wilders gewann, verglichen mit der letzten Wahl, Stimmen hinzu und erzielte so fast sein bestes Ergebnis. In diesem Sinne waren das einzige, was sie nicht erreichten die sehr hohen Erwartungen, sowohl von ihnen selbst als auch die der Medien.

Der Hintergrund für meine Aussage, dass der Populismus nicht tot ist lag in den Wahlergebnissen, die ja ziemlich gut, beinahe Rekordergebnisse, waren. Zweitens sind die Faktoren, die den Erfolg Populismus, vor allem von Rechts, im Allgemeinen erklären zu großen Teilen struktureller Natur. Sie haben nicht viel mit dem Aufstieg von Trump oder Brexit, oder sogar der Großen Rezession zu tun, die viel mehr ein Katalysator als eine Hauptursache sind.

Was sind also die Hauptursachen und strukturellen Gründe für den Aufstieg des Populismus in ganz Europa?

Im Großen und Ganzen sind dies sowohl Ursachen politischer Dezentralisierung als auch Ausdruck politischen Protests, von denen Populisten derzeit am meisten, aber nicht unbedingt als einzige, profitieren. Hierfür kann man sich insbesondere auf den Politologen Ronald Inglehart beziehen, der das Buch „Die stille Revolution“ in den 70er Jahren schrieb. Darin argumentierte er, dass die Folgen der postindustriellen Revolution eine sich wandelnde Gesellschaft und sich verändernde politische Präferenzen bedeuteten, welche das Mitte-Rechts-Lager, wie auch das Mitte-Links-Spektrum schwächen würden. Er erklärte damit vor allem den Aufstieg der Grünen, aber tatsächlich kann man mithilfe seines Buchs in gewissem Maße auch den späteren Aufstieg der radikalen Rechten erklären.

Auf der anderen Seite steht der Aufstieg des „Neoliberalismus“, als einfacher Begriff für marktwirtschaftliches Denken, der alle möglichen unterschiedlichen Mechanismen hervorgebracht hat, die politische Unzufriedenheit verstärkten. Dazu gehören natürlich vor allem wirtschaftliche Ungleichheit und die politische Konvergenz zwischen den Mitte-Rechts- und Mitte-Links-Parteien. Mit dem Aufstieg des Neoliberalismus einher ging auch die Aushöhlung der Politik durch Privatisierungsmaßnahmen und die Einsetzung von Expertengremien wie den Zentralbanken.

All dies zusammen schuf ein Gefühl, dass auf der einen Seite alle Politiker gleich waren und auf der anderen Seite die Politik wichtige Themen nicht auf die Tagesordnung setzte, da sowieso alle die gleiche Meinung hatten. Denken Sie an die europäische Integration und weitgehend an die Zuwanderung in den 1980er und 1990er Jahren. Später wurde die Politik zu einer Art technokratischer Debatte, bei der alles mit dem „TINA“-Motto beantwortet wurde: „There Is No Alternative“.

Die Politik selbst hat ihren eigenen Zweck untergraben, indem sie marktfreundliche Ideen übernommen hat, bei der der Markt immer der beste Mechanismus ist, um alles zu lösen. Aber wenn das der Fall ist, warum braucht man dann überhaupt noch Politiker?

All das zusammen verursachte Frust gegenüber der Politik. Die Politik selbst hatte ihren eigenen Zweck untergraben, indem sie diese marktfreundliche Idee übernommen hatte, bei der sinngemäß der Bürger der Kunde ist, der Kunde immer Recht hat und der Markt der beste Mechanismus ist, um alles zu lösen. Aber wenn das der Fall ist, wozu braucht man dann überhaupt noch Politiker?

Populisten waren besonders dazu geeignet, dies aus einer Vielzahl von Gründen zu kritisieren, vor allem indem sie propagierten, dass alle Politiker gleich seien. Populisten sind dabei gleichermaßen antipolitisch wie überpolitisch. Sie sind antipolitisch in dem Sinne, dass sie bei Konflikten interne Streitigkeiten beenden, indem sie sagen, dass es nur ein Volk gibt und alle dieselben Interessen haben. Aber sie sind auch überpolitisch in dem Sinne, dass die Leute etwas bekommen sollen, wenn sie es möchten. In gewisser Weise argumentieren sie, dass alles politisch und diese TINA-Politik Unsinn sei. Zum Beispiel behaupten sie: „Wenn die EU nicht will, dass wir etwas tun, dann werden wir einfach aus der EU austreten. Was immer wir wollen, wir bekommen es!”

All diese gerade genannten strukturellen Ursachen, sind älter als die Große Rezession (von 2007-2009, Anm. d. Red.), aber viele von diesen Faktoren wurden durch die Krise noch verstärkt. Das ist auch der Grund, warum seit dieser Zeit populistische Parteien ihre Unterstützerzahlen verdoppelt haben. Das bedeutet aber natürlich, dass sie vorher schon da waren. Daher wird der Erfolg von Populisten durch solche Ereignisse wie die Große Rezession nicht verursacht, aber zumindest verstärkt.

Sie sprachen gerade die Konvergenz des politischen Zentrums an. Kritisieren Sie die Parteien aus der politischen Mitte, insbesondere die Mitte-Links-Parteien, dafür, dass diese Konvergenz in weiten Teilen der Bevölkerung eine gewisse Frustration hervorgerufen hat, da sie sich nicht mehr repräsentiert fühlen?

Sozioökonomisch kam die Konvergenz hauptsächlich durch den Rechtsruck von sogenannten sozialdemokratischen Parteien zustande, deren extremstes Beispiel natürlich New Labour von Tony Blair ist, der wiederum zu großen Teilen Bill Clinton und den US-Demokraten folgte. Darauffolgend kamen dann Schröder und seine „Neue Mitte“ in Deutschland, wie auch viele andere, etwa Wim Kok in den Niederlanden. Die französischsprachigen Parteien waren etwas gespaltener, auch in Ländern wie Schweden und Dänemark ging es etwas langsamer in diese Richtung. Aber letztendlich gaben alle ihre grundlegende Skepsis gegenüber dem Markt auf. Die marktfreundliche Einstellung unterschied sich zwar je nach Land und Partei, jedoch betraf dies grundsätzlich alle.

In Folge dessen verlief sich sozio-ökonomische Politik in einzelnen politischen Maßnahmen. Es war nur eine Frage der Feinjustierung, weil das übergeordnete Ziel und die grundsätzlichen Annahmen die gleichen waren. Diese Annahmen waren, dass der Markt der beste Mechanismus nicht nur für Wirtschaftswachstum, sondern auch für Umverteilung ist. Das einzige Argument war technischer Natur und als Konsequenz wurden soziokulturelle Fragen viel wichtiger.

Politik wurde im Großen und Ganzen auf Details reduziert.

Auf der anderen Seite wussten sowohl Mitte-Rechts-Parteien als auch Mitte-Links-Parteien sehr gut, dass ihre Wählerschaft bei diesen Themen, insbesondere bei der Einwanderung, gespalten war. Folglich hatten sie keinen wahltaktischen Anreiz, dies weiterzuverfolgen. Darüber hinaus wurden die meisten rechtsgerichteten Parteien in soziokulturellen Fragen als relativ moderat wahrgenommen. Entsprechend gab es auch in diesem Sinne eine gewisse Konvergenz. Folglich wurde auch hier die Politik im Großen und Ganzen auf Details reduziert.

Später, als Konsequenz des Erfolgs von Schröder und Blair, rückten auch verschiedene Mitte-Rechts-Parteien in die Mitte. Die wichtigsten Beispiele sind natürlich die Tories unter Cameron und die CDU unter Merkel, die sowohl sozio-kulturell als auch sozio-ökonomisch einen Mittekurs fuhren. Zu diesem Zeitpunkt minimalisierte sich also der politische Raum. Gleichzeitig gab es immer mehr Frust in der Bevölkerung, was teilweise mit dem 11. September zusammenhing und langanhaltende Debatten über Zuwanderung und Integration befeuerte.

Die fortschreitende europäische Integration, vor allem die EU-Erweiterung, führte ebenfalls zu Frustration. Gleichzeitig wurden die Parteien der Mitte derart unideologisch, dass sie im Prinzip schon wieder eine sehr starke Ideologie hatten: nämlich die Befürwortung offener Märkte und relativ offener Gesellschaften, jedoch ohne weiterhin ihre alten Ideologien innezuhaben. Sie hatten keine Sozialdemokratie, keine christliche Demokratie, keinen Konservatismus als Ideologie. Stattdessen reagierten sie pragmatisch auf neue Themen. Sie sahen diese als schlichte Probleme an, die gelöst werden mussten. Das Problem bei diesem Ansatz ist, dass die Parteien der politischen Mitte nicht definieren, was und weshalb etwas ein Problem ist, sondern die populistische Rechte.

Das ideologische Vakuum liberaler Parteien ermöglicht populistischen Parteien erst, die öffentliche Debatte zu bestimmen.

Gleichzeitig kann man argumentieren, dass das Gleiche mit den linken Populisten in Ländern wie Griechenland oder Spanien passiert ist, wo die Austeritätspolitik der allgemeinen Politik übergeordnet zu sein scheint. Die dortigen Mainstream-Parteien akzeptieren dies als gegeben, aber verteidigten die Austeritätspolitik nicht einmal ideologisch, sondern sagten einfach, dass es schlicht keine Alternative zu ihr gebe. Dann repolitisierten Syriza und Podemos aber genau dieses Thema. Dies zeigt wiederum, dass das ideologische Vakuum liberaler Parteien populistischen Parteien erst die Möglichkeit gibt, die politische Agenda an sich zu reißen und die öffentliche Debatte bestimmen zu können.

Schadet der Konsens für die Austeritätspolitik innerhalb der europäischen Institutionen also langfristig dem europäischen Zusammenhalt und dem europäischen Projekt allgemein, da sie populistischen Parteien noch mehr Zulauf verschafft?

Darauf gibt es zwei Antworten. Vor allem auf allgemeiner Ebene besteht das Problem nicht nur in Sparmaßnahmen an sich, sondern in der Art und Weise, wie Sparmaßnahmen verteidigt werden. Es wird nämlich einfach behauptet, es gebe keine Alternative zur Austeritätspolitik. Das Argument ist nicht mehr, dass es gut ist und dem eine ideologische Argumentation zugrunde liegt. Das Argument ist entweder „Nun, wir haben zu viel investiert, um jetzt zurückzugehen“ oder „Es gibt keine Alternative“. Keines der beiden Argumente ist besonders überzeugend, vor allem für Menschen, die dafür den Preis zahlen müssen.

Auf einer eher normativen, sozioökonomischen Ebene denke ich, dass die Sparmaßnahmen sowohl die Gesellschaft als auch die EU eindeutig spalten. Vor allem die Vorstellung, dass Deutschland Millionen, wenn nicht Milliarden an der Eurorettung verdient, ist ziemlich pervers.

Würden Sie also sagen, dass es in den südeuropäischen Ländern immer mehr antieuropäische und antideutsche Ressentiments gibt, weil dort das Gefühl vorherrscht zu strengen Sparmaßnahmen gezwungen zu werden, während Deutschland von der aktuellen Situation sogar noch profitiert? Werden dadurch populistische Parteien gestärkt?

Ja, aber man muss das immer im Zusammenhang sehen. Ich denke, wir können uns nicht zu sehr oder ausschließlich auf den Aufstieg von populistischen Parteien konzentrieren. Dies geht nämlich auch einher mit einer abnehmenden Wahlbeteiligung. Eines der erstaunlichsten Dinge bei den letzten Wahlen in Griechenland war, dass der größte Stimmenanteil sozusagen auf die Nichtwähler entfiel. Das ist an sich nicht bemerkenswert, aber Griechenland hat eine Wahlpflicht. Selbst bei einer Wahlpflicht, hat der größte Teil der Leute nicht gewählt.

Das sagt viel darüber aus, wie unzufrieden die Menschen sind, aber auch, wie wenig Vertrauen sie in ihre politischen Vertreter haben. In gewissem Maße ist dieses Wahlverhalten sogar noch schlimmer, als wenn sie ihre Stimme populistischen Parteien geben. Damit würden sie nämlich immerhin noch am System teilnehmen und das Gefühl bekommen, beteiligt zu sein.

Neben der Debatte über die Sparpolitik in Europa ist Steuergerechtigkeit ein weiteres Thema. Erst kürzlich wurden die sogenannten „Paradise Papers“ veröffentlicht, die einmal mehr das riesige Ausmaß der globalen Steuerhinterziehung durch wohlhabende Einzelpersonen und multinationale Konzerne aufzeigen. Obwohl es für die Gesellschaft einen offensichtlichen Schaden gibt, emotionalisiert dieses Thema die Menschen nicht wirklich. Stattdessen haben politische Parteien, besonders aus dem linken Spektrum, Schwierigkeiten, dieses Thema auf die politische Agenda zu setzen. Wie erklären Sie sich das?

Ich denke, es gibt verschiedene Gründe. Zunächst einmal fällt es linken Parteien allgemein schwer, irgendetwas auf die Tagesordnung zu setzen, was viel damit zu tun hat, dass sie keine Ideologie mehr haben. Aber ich denke, was noch wichtiger ist, dass sie zu einem großen Teil mitschuldig an diesem ganzen Phänomen sind. Sie waren in den letzten Jahrzehnten Verfechter der neoliberalen Globalisierung und waren vor allem in den 90er Jahren und zu Beginn des 21. Jahrhunderts, als all dies passierte, in den Regierungen. Die Vorstellung, dass dies also nur etwas ist, was von rechts praktiziert wird, ist daher völlig falsch.

Die Niederlande zum Beispiel sind in dieser Hinsicht quasi eine Bananenrepublik. Wir sind derzeit die wichtigste Steueroase, schlimmer als Luxemburg. Das haben alle großen Parteien mit zu verantworten. Dass dies allgemein als kein großes Thema angesehen wird, liegt meiner Ansicht nach an der Annahme, dass ohnehin niemand etwas dagegen tun wird. Die Leute glauben nicht, dass die sozialdemokratische Partei tatsächlich etwas dagegen unternehmen wird. Sie denken nicht, dass die Rechte etwas dagegen tun wird. Wenn überhaupt irgendjemand etwas dagegen tun will, ist es die radikale Rechte, weil diese die globale Elite hasst.

Die Niederlande sind in steuerpolitischer Hinsicht quasi eine Bananenrepublik.

Das hat etwas mit dieser umfassenderen Frage der inhaltlichen Annäherung der Parteien der Mitte zu tun, aber auch mit deren Mitschuld an der aktuellen Lage. Die Menschen sehen in der Politik im Prinzip kaum einen Unterschied zwischen Mitte-Links und Mitte-Rechts. Und bis zu einem gewissen Grad haben nur wenige Mitte-Links-Parteien versucht, Steuergerechtigkeit zu einem zentralen Thema zu machen. Auch hierfür gibt es meines Erachtens einen sehr klaren Grund: Sobald Sie anfangen zu graben, werden Sie sehen, dass die Führungen der sozialdemokratischen Parteien in fast allen beteiligten Ländern genau wussten, was vor sich ging.

Ist es nicht auch schwierig, Offshore Leaks wie die Paradise Papers auf die politische und mediale Agenda zu setzen, weil dieses Thema so viel komplexer ist, als beispielsweise Migrationsfragen, die oft von Rechtspopulisten thematisiert werden?

Da kann ich nur widersprechen. Ich denke, dass die ganze Argumentation in die Richtung „wir verlieren die Debatte, weil die anderen zu sehr pauschalisieren und vereinfachen während wir Dinge in ihrer Komplexität diskutieren“ nur eine Ausrede ist. Vor allem auf politischer, ideologischer Ebene sind diese Dinge nicht komplex. Komplex ist die Frage, wie man bestimmte Themen angeht, aber das sollte nicht die Debatte sein. Wenn man jedoch von Pragmatikern und Technokraten regiert wird, dann wird eben genau dies zur Debatte. Aber eigentlich ist die Debatte ziemlich einfach. Es geht um soziale Gerechtigkeit und um die Frage, ob man als Reicher ein Recht hat keine Steuern zu zahlen.

Das Problem ist, dass sich die ganze Elite von den Mitte-Links- bis zu den Mitte-Rechts-Parteien eingeredet hat, dass man wegen der „Globalisierung“ nichts dagegen tun kann und dass das Thema Steuerflucht eben zu komplex sei. Es muss aber nicht komplex sein. Es ist nur dann komplex, wenn man Globalisierung, mit einem integrierten Markt und einer minimalen Rolle des Staates, als Schlüsselmodell definiert. Wenn dies das Schlüsselmodell ist, dann kann man auch in der Tat nicht mehr viel ausrichten.

Aber man kann alle möglichen Dinge tun. Leute, die ihr Geld außer Landes schaffen, können bestraft werden. Unternehmen, die ihr Geld außer Landes schaffen, können besteuert werden. All das können wir innerhalb der derzeitigen EU nicht tun, aber man kann die EU ändern. All diese Dinge sind machbar, wenn man ein ideologisches Programm hat. Aber genau darum geht es. Wenn der Status quo weitgehend akzeptiert wird, dann geht es nur darum, kleine Stellschrauben des Systems zu verändern. Und nur Kleinigkeiten am System zu ändern ist nicht komplex, es ist langweilig.

Andererseits ist Immigration ein unglaublich komplexes Thema. Es gibt alle möglichen Arten von Einwanderern, alle möglichen unterschiedlichen Regionen. Wir können natürlich offensichtlich keine komplett geschlossenen Grenzen haben. Wir können aber auch nicht komplett offene Grenzen haben. Das Thema des Islams und seiner Rolle innerhalb der westlichen Gesellschaften ist sehr komplex, alles ist komplex. Die Frage ist, macht man es komplex und technokratisch oder redet man über das, was am Ende wirklich zählt.

Dass sozialdemokratische Parteien nicht vorwiegend über Themen der sozialen Gerechtigkeit mit Blick auf Klassenfragen und Solidarität sprechen, stellt das größte Versagen dieser Parteien dar. Es macht sie weitgehend überflüssig.

Und die Tatsache, dass sozial-demokratische Parteien nicht vorwiegend über Themen der sozialen Gerechtigkeit mit Blick auf Klassenfragen und Solidarität sprechen ist, stellt das größte Versagen dieser Parteien dar. Es macht sie weitgehend überflüssig, weil wir bereits Parteien haben, die glauben, dass der Markt der beste Mechanismus ist.

Können wir also sagen, dass es nicht nur um politisches Handeln geht, sondern um Kommunikation? Haben die traditionellen Parteien, besonders aus der politischen Mitte, in der Vergangenheit zu kompliziert und unverständlich kommuniziert?

Nein, ich denke, diese ganze Kommunikationssache ist genau das gleiche Problem. Es ist wieder genau dieser technokratische Aspekt. Es ist nicht so, dass Mitte-Links-Parteien nicht gut kommunizieren. Es geht nicht darum, wie sie die Message verpacken, es geht darum, dass sie schlicht keine Message haben. Das ist der Punkt. Seit der „Neuen Mitte“ konzentrieren sich die Sozialdemokraten auf Kommunikation. Und jedes Mal, wenn sie bei den Wahlen auf den Deckel bekommen sagen sie: „Nun, wir haben es nicht gut genug erklärt“. Nein, die Leute verstehen es schon.

Wenn man keine Botschaft hat, dann ist es egal, wie gut die Kommunikation ist.

Der Punkt ist, dass sozialdemokratische Parteien im Großen und Ganzen nur einen marginalen Unterschied zu Mitte-Rechts Parteien bei sozioökonomischen und bis zu einem gewissen Maße bei soziokulturellen Fragen haben. Aber die Leute interessieren sich nicht für diesen marginalen Unterschied, um ihnen ihre Stimme zu geben. Wenn man keine Botschaft hat, ist es egal, wie gut die Kommunikation ist. Sie können vielleicht eine Wahl gewinnen, aber am Ende haben sie nichts anzubieten. Und für mich haben sozialdemokratische Parteien heutzutage eben einfach nichts anzubieten.

Das bringt mich zu meiner Folgefrage: Was ist die beste Gegenstrategie gegen Populisten? Sie ignorieren, ihre Rhetorik kopieren oder sie wie jeden anderen politischen Akteur behandeln?

Die beste Gegenstrategie besteht darin, sich in erster Linie auf das zu konzentrieren, was tatsächlich ist, und nicht auf das, was man denkt dass ist. Populistische Parteien erhalten durchschnittlich 18 Prozent der Stimmen in der gesamten EU. Diese Vorstellung, dass wir den Populismus nicht besiegen können, ist also völliger Unsinn. 82% der Menschen stimmen nicht für populistische Parteien. Das ist der erste Punkt.

Wenn der falsche Typ die richtige Message hat, dann ist das kein Problem. Wir sollten Populisten genauso behandeln wie alle anderen politischen Akteure.

Das Zweite ist, dass wir uns viel zu sehr auf den konzentrieren, der die Botschaft überbringt und zu wenig auf die eigentliche Botschaft. Es gibt diesen Mythos, dass populistische, radikal-rechte Politik ausschließlich populistischen Parteien oder rechtspopulistischen Parteien vorbehalten ist. Was wir jedoch heute sehen, ist, dass viele der autoritären und nativistischen Botschaften auch aus dem Mainstream kommen. Und diese sind offensichtlich aus liberal-demokratischer Sicht problematisch. Das Problem ist die Botschaft, nicht unbedingt derjenige, der sie überbringt. Folglich sollten wir uns in erster Linie auf die Botschaft an sich konzentrieren. Schlussendlich, wenn der falsche Typ die richtige Message hat, ist dies kein Problem.

Deshalb glaube ich, dass wir populistische Akteure genauso behandeln sollten wie alle anderen Akteure. Dies bedeutet, wenn man Gemeinsamkeiten hat, dann kann man miteinander arbeiten. Wenn nicht, arbeitet man eben nicht mit ihnen. Für mich ist ein „cordon sanitaire“ (komplette politische Isolierung, Anm. d. Red.) völlig unnötig, weil keine liberal-demokratische Partei grundsätzlich mit einer populistischen Partei zusammenarbeiten kann, wenn sie den Kern ihres Programms umsetzen will. Das wäre nämlich gegen die liberale Demokratie.

Populisten machen, mit einigen Ausnahmen, keine Politik. Sie haben aber in den letzten zehn Jahren darüber bestimmt, worüber wir sprechen und wie wir darüber sprechen. 

Hier geht es vor allem um die politische Agenda, mehr als alles andere. Populisten machen, mit einigen Ausnahmen, keine tatsächliche Politik. Sie sind bestenfalls Juniorpartner in Koalitionen, aber meistens sind sie nicht einmal in der Koalition. Sie haben jedoch in den letzten zehn Jahren die Themen gesetzt, über die wir sprechen und auch beeinflusst, wie wir darüber sprechen. Die einzige Möglichkeit, dies zu ändern, besteht darin, die politische Agenda neu zu gestalten. Und der einzige Weg, wie man politische Themen setzen kann, ist eine Ideologie zu haben. Wenn man keine Ideologie hat, kann man nicht bestimmen, was ein Problem ist oder nicht.

Denn das einzige, was daraus folgt, ist was Tony Blair eingeführt hat und was viele andere Parteien heutzutage ebenfalls tun. Nämlich, nur noch mit Umfragen und Fokusgruppen zu arbeiten und darüber nachzudenken, worum es den Menschen gehen mag. Das Problem ist, dass die Leute darüber besorgt sind, was die Medien berichten. Und die Medien berichten über die Themen, über die manche Leute auf Twitter am lautesten schreien. Und darüber redet dann die radikale Rechte. Die Idee, dass es eine autonome Bevölkerung gibt, die ihre eigenen Probleme definiert ist also völlig falsch.

Vor allem sozialdemokratische Parteien müssen die Themen der politischen Agenda bestimmen: eben nicht nur Einwanderung, sondern auch Rente, Arbeit, Gesundheit und Bildung.

Ich denke, dass vor allem sozialdemokratische Parteien und Mitte-Links-Parteien die politische Agenda bestimmen und über die Themen sprechen müssen, die sie für wichtig halten und die ihre Leute für wichtig halten. Ja, Einwanderung ist ein Teil davon, aber es ist ein kleiner Teil. Viele Menschen sind besorgt über Renten, Arbeitslosigkeit, Gesundheitsversorgung und Bildung. Sie wollen eine Vision hören und sie wollen nicht nur ein paar politische und technokratische Argumente. Sie möchten eine gesamtheitliche Vision hören, warum man eine bestimmte Sache für wichtig hält. Wenn Parteien darüber reden, werden die Medien darüber berichten und die Leute werden darüber reden. Ich denke, in diesem Sinne geht es darum, die Politik zurückzugewinnen, es geht darum, die politische Agenda zurückzuerobern.

Gleichzeitig gibt es einige wenige Länder, in denen der Populismus vorherrscht. Ungarn, Griechenland, in gewissem Maße Italien und Polen. Hier ist der Populismus an der Macht oder könnte bald an der Macht sein. Das ist ein Thema für die EU. Das ist ein Problem für alle innerhalb der EU. Bisher waren die meisten politischen Parteien wegen ihrer politischen Fraktionen im Europaparlament äußerst opportunistisch. Die Europäische Volkspartei (EVP) und die Mitte-Rechts-Parteien sprechen sich gegen Polen aus, weil die Regierungspartei des Landes nicht in der EVP ist, die S&D-Fraktion (Sozialdemokraten im Europaparlament, Anm. d. Red). spricht sich gegen Orban aus, weil er nicht in der S&D ist. ALDE (liberale Fraktion im Europaparlament, Anm. d. Red.) spricht sich gegen Smer aus, spricht sich aber nicht gegen ANO oder andere Arten von Bewegungen aus. Der Punkt ist, man kann nicht der Idee des europäischen Projekts anhängen und behaupten, dass diese eine „Wertegemeinschaft“ sei, für die wir einstehen, und gleichzeitig bestimmten Ländern ermöglichen, für all das zu stehen, was dem diametral entgegenstrebt.

Das Nationale und das Europäische sind direkt miteinander verbunden.

Das Nationale und das Internationale, oder zumindest das Nationale und das Europäische, sind direkt miteinander verbunden. Es geht also nicht nur darum, politische Gestaltung im eigenen nationalen Kontext zurückzugewinnen. Es geht auch darum, was die EU sein soll. Und im Moment ist die EU nur ein großer Markt. Die EU ist nur dann gewillt, sich gegen populistische Parteien zur Wehr zu setzen, wie im Falle Griechenlands und Ungarns, wenn es darum, marktfreundliche Politik durchzusetzen. Es geht nicht um liberale Demokratie.

Ich denke, das ist wieder ein Spiegelbild dessen, was Politik sowohl unter der Mitte-Rechts- als auch in der Mitte-Links-Richtung geworden ist. Wenn die Mitte-Links- und die Mitte-Rechts-Parteien ihre Ideologie wieder durchsetzen, sei es der Liberalismus, sei es die christliche Demokratie, sei es die Sozialdemokratie, wird dies nicht nur auf nationaler, sondern auch auf internationaler Ebene Auswirkungen haben.

Eine letzte kurze Frage: Bedrohen Populismus und Euroskeptizismus die EU in einem Ausmaß, dass sie in 10 Jahren nicht mehr existieren könnte?

Nein, ich glaube nicht, dass die EU untergehen wird, wahrscheinlich nie, aber definitiv nicht in 10 Jahren. Institutionen verschwinden nicht so schnell. Populismus und Euroskeptizismus sind verschiedene Dinge. Fast jeder Populist ist euroskeptisch, nicht jeder Euroskeptiker ist ein Populist. Ich persönlich denke, dass der Euroskeptizismus eine unglaublich wichtige Rolle bei der Reform der EU spielen kann. Da ich selbst ein großer Euroskeptiker bin, denke ich, dass die EU ebenso wie die Sozialdemokratie ein Opfer ihres eigenen Erfolgs ist. Sie ist so hegemonial und unangefochten, dass sie aufgehört hat zu überlegen, warum sie etwas tut. Folglich hat sie aufgehört, die Leute davon zu überzeugen, warum die EU ursprünglich eine gute Idee war.

Ich denke, die europäische Integration muss herausgefordert werden. Sie muss aus allen Perspektiven herausgefordert werden, damit sie ihren ursprünglichen Geist und ihre Ideen wieder aufleben lässt. Seit etwa 15 Jahren ist die europäische Integration ideologisch tot. Ein Großteil der Argumentation lautet einfach: „Nun, das ist gut“ oder „Die Alternative ist schlechter“. Das war die ganze Antwort auf die Große Rezession. Angefangen mit den Deutschen, die sagten, dass Sparmaßnahmen funktionieren, basierend auf ihren eigenen, sehr beschränkten Erfahrungen im Zuge der deutschen Wiedervereinigung. Nach einer Weile waren sich alle einig, dass es schrecklich war, nur fiel ihnen eben auch nichts Besseres ein.

Ich würde mir wünschen, dass Pro-Europäer die Euroskepsis ernster nehmen würden.

Das ist die europäische Integration geworden. So hat das „Remain“-Lager im Vereinigten Königreich argumentiert und deshalb haben sie verloren – eben weil es nicht genug ist. Die Argumentation, dass die Alternative einfach schlechter ist, ist nicht genug. Man muss seine eigenen Themen setzen, anstatt zu sagen, dass die Gegner oder die andere Position einfach nur schlechter sind. Und dafür muss man herausgefordert werden.

Daher würde ich mir wünschen, dass Pro-Europäer die Euroskepsis ernster nehmen würden. Nicht nur die Vereinfacher, sondern jeder, der die EU auch tiefgreifender kritisiert, wird als Euroskeptiker abgetan und beispielsweise gleichgesetzt mit der rechtsextremen “Goldenen Morgenröte” aus Griechenland oder ähnlichen Strömungen. Das ist ein sehr bequemer Weg, Euroskeptiker zu marginalisieren. Aber es bedeutet auch, dass sie nicht auf einige der validen Kritikpunkte gegenüber der EU eingehen.


Das Interview führte Benedikt Weingärtner und ist ursprünglich auf Englisch für das Projekt „Dialogue on Europe“ erschienen. Es wurde übersetzt von Tim Wermter.

Autor

War Project Manager bei Das Progressive Zentrum. Studierte im Bachelor Deutsch-Französische Studien in Regensburg und Clermont-Ferrand, im Master Internationale Beziehungen an den Universitäten in Eichstätt und Lissabon sowie als Post-Graduate Master „EU International Relations & Diplomacy Studies“ am College of Europe in Brügge.

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