Die Corona-Krise: mehr als ein Warnschuss

Warum wir uns bei der Lösung der Corona-Krise nicht auf frühere Rezepte verlassen können

Jürgen Kocka vergleicht die Corona-Pandemie mit historischen Krisen. Warum kann man nur wenig aus früheren Problemlösungen lernen?

Im Vergleich zu früheren Epidemien – zur Pest in der Frühen Neuzeit, zur Cholera im 19. Jahrhundert oder zur Spanischen Grippe von 1918-20 mit ihren vielen Millionen Toten – ist die Sterblichkeit in der COVID-19-Pandemie äußerst gering. Umgekehrt hat keine dieser historischen Epidemien auch nur ansatzweise so umfassende und tiefgreifende Gegenmaßnahmen auf staatlicher Ebene provoziert wie die gegenwärtige. Niemals zuvor sind Epidemien schon zum Zeitpunkt ihres Geschehens so intensiv analysiert, kommentiert und dadurch beeinflusst worden wie die heutige im Zeitalter weit fortgeschrittener Medialisierung. Weil so viel am Problem neu ist, kann man nur wenig aus früheren Problemlösungen lernen.

Kriegswirtschaft

Wählt man die Weltkriege des 20. Jahrhunderts als Vergleich, sind die Unterschiede noch markanter. Zwar erinnert die partielle Außerkraftsetzung von Gewerbefreiheit, Märkten und anderen Prinzipien des Kapitalismus zugunsten staatlicher Reglementierung, im Zusammenspiel mit partieller Außerkraftsetzung von Grundrechten und bürgerlichen Freiheiten, wie sie in den letzten Wochen praktiziert worden ist, an Kriegswirtschaft. Aber die Gewalt, die riesigen Menschenopfer, das Ende als Sieg der einen und Niederlage der anderen – all das hat in der heutigen Pandemie keine Parallele.

Viel geringer als damals ist heute heute ist überdies die Chance, aus der Krise die Kraft zum Fortschritt zu schöpfen: Die Erfahrung der Katastrophe stieß nach 1945 die wirkungsreiche Deklaration der Menschenrechte und die hoffnungsvolle Gründung von Institutionen der globalen Verständigung (UNO, IWF etc.) an. Dass dies nach 1945 gelang, während es nach 1918 weitgehend gescheitert war, hing damit zusammen, dass nach 1945 mit den USA eine Macht zur Verfügung stand, die für die Errichtung einer neuen Weltordnung über die eigenen Grenzen hinaus eintrat. Eine solche Macht fehlt heute weltweit, auf die USA ist derzeit jedenfalls nicht mehr zu zählen.

Kapitalismus

In deutlichem Unterschied zur Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre und zur internationalen Finanzkrise von 2008/9 ist die gegenwärtige Corona-Krise kein Resultat der inneren Widersprüche des Kapitalismus. Vielmehr kam sie, aus der Perspektive der Wirtschaftsordnung gesehen, von außen: als Folge der Bedrohung durch ansteckende Viren und als Folge der Anstrengungen, sich vor diesen zu schützen. Das bedeutet, dass anders als jene großen Krisen des Kapitalismus die jetzige Corona-Krise keine zusätzlichen Argumente gegen den Kapitalismus bereitstellt. Die Krise schwächt vielmehr die Kapitalismuskritik.

Denn in den letzten Wochen konnte man hautnah erleben, wie die partielle Außerkraftsetzung kapitalistischer Mechanismen und ihre Ersetzung durch politisch-administrative Maßnahmen hohe ökonomische, soziale und politische Kollateralschäden verursachen. Dazu gehören die ungewollte Verschärfung bestehender Ungleichheiten zwischen Wohlhabenden und Armen, zwischen Männern und Frauen sowie zwischen Jungen und Alten. Dazu gehören außerdem neue Ungerechtigkeiten bei der Verteilung von Lebenschancen zwischen Bevölkerungsgruppen mit und ohne lautstarke Vertretungsmacht im politischen Bereich.

Man beobachtet, wie schnell Politik und Behörden überfordert sind. Ihre ökonomischen Entscheidungen belasten die Zukunft. Wie die Menschen nach 1918 und nach 1945 aus den Zwängen der wenig effizienten, drückenden und als ungerecht empfundenen Kriegswirtschaft herausdrängten, so drängen sie jetzt schon nach wenigen Wochen auf Lockerung der Beschränkungen und auf Befreiung vom lockdown, verständlicherweise. Aus der partiellen Außerkraftsetzung der kapitalistischen Regeln, so wie sie in dieser Krise vorgenommen wurde, ist jedenfalls nichts für die anstehenden Reformen von Wirtschaft und Gesellschaft zu übernehmen. Hoffentlich bleibt nichts davon übrig.


Der Blog
Corona & Society: Nachdenken über die Krise
Was können Gesellschaft und Politik programmatisch-konzeptionell aus der Krise lernen?


Die globalgeschichtliche Dimension

Die Lehre, die die jetzige Krise für die Zukunft bereithalten könnte, wird erst erkennbar, wenn man sie globalgeschichtlich einordnet. Mit aller Macht führt sie vor, wie sehr wir schon längst in globalisierten Verflechtungszusammenhängen leben, auch was existenzielle Gefahren angeht. Denen kann nur durch gemeinsame, Nationalstaaten und Kontinente übergreifende Anstrengungen begegnet werden.

Andererseits zeigte sich auch, dass die tiefen politischen Eingriffe in Wirtschaft und Gesellschaft, die im Kampf gegen das Virus als notwendig erachtet wurden, bislang nur im nationalstaatlichen Rahmen legitimiert und durchgesetzt werden konnten. Die Abschottung zwischen den Nationalstaaten nahm zu, und die Krise verstärkte die bestehende Globalisierungskritik. Doch so schwierig es gegenwärtig auch ist, an der Entwicklung grenzüberschreitender, inter- und transnationaler Politikstrukturen muss dringend weitergearbeitet werden. Sie werden gebraucht, um den längst transnational dimensionierten – und keinesfalls renationalisierbaren – Problemen, darunter auch zahlreichen Kollateralschäden des global agierenden Kapitalismus, erfolgreich Paroli bieten zu können. 

Das gilt auch für den Umgang mit der die Zukunft bedrohenden globalen Umwelt- und Klimakatastrophe. Diese Gefahr hat durch die jetzige Krise nicht an Bedeutung verloren, vielmehr an Brisanz gewonnen. Es ist nämlich durchaus wahrscheinlich, dass die Häufigkeit von Epidemien in den letzten Jahrzehnten und auch die Intensität der jetzigen Pandemie teilweise durch menschengemachte Veränderungen im Verhältnis von Natur und Zivilisation mitverursacht wurden.

Darauf hat die Akademie Leopoldina in ihrem Gutachten „Coronavirus-Pandemie – Die Krise nachhaltig überwinden“ vom 13. April nachdrücklich hingewiesen: Die abnehmende Widerstandsfähigkeit der Ökosysteme, der Klimawandel und Umweltbelastungen tragen wesentlich, so heißt es dort, zum Ausbruch von Epidemien und Pandemien bei. Aus dieser Sicht ist die Corona-Pandemie nichts, was uns „von außen“ überfällt, sondern jüngstes Resultat unserer langen Geschichte menschengemachter Verformungen der Natur, eine Warnung vor viel größeren umwelt- und klimatologischen Katastrophen in der Zukunft.

Damit wäre der Kampf um die Nachhaltigkeit des zukünftigen Wirtschaftens durch die Corona-Krise nicht zweitrangig, sondern dringlicher geworden. Es könnte auch sein, dass die Krisenerfahrung der letzten Monate weltweit das Bewusstsein dafür gestärkt hat, wie abhängig das Schicksal der Menschen von der Natur weiterhin ist, und wie lebensgefährlich diese Abhängigkeit werden kann. So könnte die Corona-Krise dazu beitragen, das Menschheitsproblem der noch fehlenden und dringend notwendigen Nachhaltigkeit ein wenig lösbarer zu machen, auch wenn die Menschheit zwar als fragmentierte Vielfalt, aber nicht als Handlungssubjekt existiert.

Autor

Prof. Dr. Jürgen Kocka

Wissenschaftlicher Beirat
Jürgen Kocka ist emeritierter Professor für Geschichte an der Freien Universität Berlin, ehemaliger Präsident des Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Progressiven Zentrums.

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