Deutschland steht vor enormen Herausforderungen. Es wird täglich spürbarer, dass wir uns inmitten eines umwälzenden Transformationsprozesses befinden, der als twin transition beschrieben wird – als eine zeitgleich induzierte Veränderung hin zu Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Das heißt: Nicht nur muss sich unsere Wirtschafts- und Lebensweise fundamental ändern – mithin die Art, wie wir Energie erzeugen und konsumieren, wie wir Ressourcen beschaffen und verbrauchen, wie wir wohnen und mobil sein werden. Auch sind wir aufgefordert, uns dem digitalen Wandel zu stellen, ihn möglichst aktiv zu steuern und für uns in allen Facetten des Lebens zu nutzen.
Diese twin transition ist ein langer, umfassender und gesellschaftlich tiefgreifender Prozess. Es herrscht große Einigkeit unter Expert:innen, dass diese Transformation nur durch eine kontinuierlich hohe Dynamik von Innovationen bewältigt werden kann, die sowohl technologischer als auch gesellschaftlicher Art sind. Anders gesagt: Das Neue muss möglichst schnell in die Welt kommen, die Veränderungen können nicht aus der Substanz heraus bewältigt werden. Dabei erscheint es wesentlich, dass Deutschland nicht nur den Anschluss an globale Innovationsdynamiken hält, sondern sich als Innovationstreiber in Kernfeldern der sozial-ökologischen Transformation positioniert.
Diese Notwendigkeit scheint auch die aktuelle Bundesregierung erkannt zu haben. Im Koalitionsvertrag stellt das Politikfeld Innovation einen der inhaltlichen Schwerpunkte dar. In kurzen Abständen sind zudem drei wesentliche Zukunftsstrategien von einzelnen Ressorts vorgelegt worden – allen voran eine Digitalstrategie (BMDV 2022), eine Startup-Strategie (BMWK 2022) und jüngst eine Zukunftsstrategie Forschung und Innovation (BMBF 2023). Hinzu kommt die übergreifend aus dem Bundeskanzleramt geführte Allianz für Transformation, deren Ziel ist es, die Gelingensbedingungen für Veränderungen in Deutschland grundlegend zu analysieren.
Jedoch: Innovationen können nicht verordnet werden. Sie entstehen mitten in der Gesellschaft, in Unternehmen und Wissensnetzwerken. Sie sind das Resultat eines komplexen Prozesses, im Rahmen dessen bekanntes Wissen verarbeitet, neue Ideen geschaffen oder kombiniert werden. Aus diesem Grund stellt sich ganz grundsätzlich die Frage, was Politik in Zukunft konkret tun kann, um die Innovationskraft in Deutschland neu auszurichten und sie übergeordnet zu fördern.
Mit dieser Frage beschäftigte sich ein Workshop zur strategischen Vorausschau mit 20 Vertreter*innen unterschiedlichster Stakeholdergruppen aus den einzelnen Teilbereichen der deutschen Innovationslandschaft – darunter Wissenschaft, Verwaltungen auf Bundes- und Landesebene, Unternehmen und zivilgesellschaftliche Initiativen –, der Ende Januar 2023 in Berlin stattfand.
Folgend werden drei konkrete Zukunftsansätze beziehungsweise Future Seeds skizziert, die im Rahmen des Workshops bearbeitet wurden. Diese Diskussionsstränge adressieren folgende Zukünfte:
Seed 1: Missionsorientierung der deutschen Innovationspolitik
Die Innovationspolitik in Deutschland hat sich in den vergangenen Jahren immer stärker an der Formulierung von Missionen ausgerichtet. Nicht zuletzt wird dies in der aktuell vorgelegten Zukunftsstrategie Forschung und Innovation des BMBF sichtbar. In dieser Strategie werden sowohl sechs konkrete Missionen als übergreifende inhaltliche Themendächer für die Forschungs- und Innovationspolitik in Deutschland genannt als auch der Aufbau von Missionsteams adressiert, die die einzelnen Missionen (oder Zukunftsfelder) „agil, ressortübergreifend und themenspezifisch“ steuern sollen (BMBF 2023). Ziel ist es mithin, Innovationspolitik konsistenter als bisher an der Lösung drängender gesellschaftlicher Herausforderungen auszurichten und sie gleichzeitig über die Grenzen der ministeriellen Zuständigkeiten hinweg zu bewegen.
Seed 2: Durchlässigkeit der deutschen Innovationslandschaft
Das Innovationssystem in Deutschland ist von etablierten Netzwerken aus Wissenschaft, Politik, Verwaltung und Wirtschaft bestimmt. Es haben sich feste Innovationsregime ausgebildet, die zum Teil durch eine geringe personelle Durchlässigkeit zwischen den Bereichen geprägt sind. Daraus entsteht heute tendenziell ein Mangel an gegenseitigem Verständnis für die unterschiedlichen Interessen, Handlungslogiken und Arbeitsweisen der Sektoren. Aus diesem Grund wird eine höhere personelle Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen Teilsystemen der deutschen Innovationslandschaft eingefordert, die es vermag, inklusives und komplexes Denken zu fördern, das in einer beschleunigten Phase der Transformation mehr denn je gebraucht wird. Denn immer sichtbarer wird aktuell: Ebenso wichtig wie Technologien sind die Köpfe, die den Prozess von der Ideation bis zur Marktgängigkeit persönlich treiben und begleiten.
Seed 3: Regionale Frei- und Experimentierräume für Innovationen schaffen
In Deutschland entsteht in Unternehmen, an Universitäten wie auch in einzelnen Regionen sukzessive eine Kultur, sandboxes in Form neuer Transfer- und Innovationsräume (z.B. für Startups) oder von neuartigen Reallaboren zu schaffen. Sie sollen es ermöglichen, Innovationen außerhalb der originären Organisationsstrukturen oder des engen regulatorischen Rahmens zu testen und in die Anwendung zu bringen. Die Idee, Innovationen bottom up zu fördern und sie möglichst aus der Gesellschaft heraus entstehen zu lassen, gewinnt damit mehr an Rückhalt. Auch kommt der Ansatz, Frei- und Experimentierräume für Innovation in unterschiedlichen Regionen zu schaffen, der deutschen Innovationslandschaft grundsätzlich entgegen. In kaum einer anderen Industrienation werden Forschung und Innovation an so vielen Standorten auf einem hohen Niveau betrieben. Jedoch sind regionale Innovationsökosysteme aktuell noch häufig auf den Nexus zwischen Hochschulen und Unternehmen ausgerichtet. Sie beziehen soziale Innovator*innen ebenso so selten ein wie die regionale Bevölkerung.
Strategic Foresight als wichtige Methode für die Justierung von Innovationspolitik
Das Experiment einer strategischen Vorausschau auf ein zukünftiges Innovationssystem in Deutschland hat gezeigt, dass Zukunftsstränge klar zu definieren und zu beschreiben sind. Aus diesem Grund sollte Strategic Foresight als Methode auch fest in zukünftigen Prozessen der Justierung von Innovationspolitik verankert werden – beispielsweise bei der Auswahl von Missionen oder der Weiterentwicklung von Fördermechanismen und Institutionen.
Aufgabe des Workshops war es, Zukünfte des deutschen Innovationssystems möglichst konkret zu benennen und auf ihre Umsetzbarkeit hin zu analysieren. Dabei wurde deutlich, wie die einzelnen Stränge Missionen, Experimentierräume und Durchlässigkeit miteinander verbunden und ineinander verwoben sind. Missionen sollten in Zukunft einen möglichst klaren Rahmen für die Ausrichtung von Forschung und Innovation in Deutschland setzen und dadurch ein hohes Maß an Harmonisierung (alignment) in der Innovationslandschaft schaffen. Ein Schwerpunkt sollte hier auf einem durchgängigen Management von Missionen liegen, die in eine konkrete Umsetzung überführt werden müssen – beispielsweise mit einer übergreifenden Mission unter Leitung des Bundeskanzleramts in dieser Legislaturperiode.
Missionen können top down eine Richtung vorgeben. Diese würde bottom up aber mit einer Vielzahl an Projekten und Experimenten konkretisiert werden – möglichst in gezielt ausgesuchten Innovationsregionen, in denen neue Wissens- und Transformationsökosysteme entstehen. Die Kunst wird darin bestehen, Möglichkeiten für Lernen und Experimentieren zu stärken, ohne im Modus des Experimentierens zu verharren. Dienlich kann dabei eine Haltung sein, die ein zeitgleiches Anpassen von Regulierung und Innovation ermöglicht und auch das Scheitern von Projekten zulässt, anstatt Innovationsprozesse vorab detailreich zu regulieren (gold-plating). Als Verbin- 7 dungsglieder in diesem System dienen möglichst viele Agent*innen des Wandels (agents of change), die über lebendige Innovationslebensläufe verfügen und zwischen den verschiedenen Teilbereichen des Innovationssystems wechseln, um dort jeweils ihre Erfahrungen einzubringen. So kann aus diesen Zukunftssträngen mithin ein konsistentes Ganzes entstehen.
Wesentliche Erkenntnisse
Die zeitgleiche Veränderung hin zu Nachhaltigkeit und Digitalisierung (twin transition) fordert eine erhöhte Innovationsdynamik. Diese kann durch das durchgängige Management von Missionen und einer Verankerung von Missionsorientierung auf einer Governance-Ebene erreicht werden.
Handlungsempfehlungen:
Missionen als Richtschnur für die Harmonisierung der deutschen Innovationslandschaft
Die verschiedenen Bundesregierungen haben in den vergangenen Jahren versucht, die Forschungs- und Innovationslandschaft stärker an übergreifenden Missionen auszurichten. Wie die kürzlich vorgelegte Zukunftsstrategie Forschung und Innovation zeigt, sind diese Bemühungen jedoch immer noch zu zaghaft, nicht konsequent genug und nach wie vor nicht mit einem klaren Fahrplan für die Ausgestaltung hinterlegt. Es ist zu empfehlen, eine solche missionsorientierte Innovationspolitik konsequenter und mit mehr Nachdruck als bisher zu verfolgen. Dazu muss die Governance deutscher Innovationspolitik neu ausgerichtet und konfiguriert werden und lernen, Projekte mit gesellschaftlich hoher Priorität ressortübergreifend zu führen.
Personelle Durchlässigkeit in der deutschen Innovationslandschaft erhöhen
Vor diesem Hintergrund empfehlen wir, neue Möglichkeiten zu schaffen, um das deutsche Innovationssystem personell durchlässiger zu machen. Flexible Lebensläufe sollten zur Normalität werden und Menschen die Möglichkeit eröffnen, friktionsfreier und schneller an Orte zu wechseln, an denen Innovationen entstehen oder gesteuert werden – in Hochschulen und außeruniversitären Einrichtungen, Unternehmen und Start-ups sowie in Politik und Verwaltung. Dazu sollten in Deutschland zum einen vielversprechende Programme des beruflichen Seitenwechsels wie zum Beispiel Work4Germany ausgebaut werden. Zum anderen sollte das Anreizsystem in der Wissenschaft schrittweise so verändert werden, dass nicht allein akademische Exzellenz, sondern gleichrangig auch der Transfer von Wissen in die Praxis in Form von konkretem Impact zur Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen belohnt wird.
Neue Experimentier- und Freiräume in Deutschland schaffen
Eine große Stärke Deutschlands liegt darin, dass es in vielen Regionen gute bis exzellente Forschungs- und Hochschulstandorte in einer Vielfalt gibt, um die andere Industrienationen uns beneiden. Diese Wissenschaftsstandorte sind schon heute wichtige Nuklei, an denen sich Innovationsökosysteme anlagern und die mit ihrer Arbeit die Innovationskulturen vor Ort nachhaltig prägen. Doch auch abseits der urbanen Zentren entstehen immer öfter interessante Innovationsräume – zum Beispiel mit gemeinwohlorientierten Unternehmen in den Bereichen Landwirtschaft, Bildung, Energie oder Mobilität. Diese Innovationskraft sollte Deutschland in voller Breite nutzen. Ein wesentlicher Hebel könnte dabei die Schaffung neuer Frei- und Experimentierräume sein – abgesichert durch ein neues Reallabor- und Freiheitszonengesetz, das die aktuelle Bundesregierung angekündigt hat. Dabei ist ausdrücklich zu beachten, dass keine Überlaborisierung stattfindet. Es darf in Deutschland nicht beim Ausprobieren bleiben. Den Experimenten müssen Taten folgen. Dabei ist die Frage der Skalierbarkeit von erfolgreichen Innovationen ebenso wichtig wie die Übersetzung in konkrete politische Entscheidungen. Auch sollten die Experimentierräume (zum Beispiel Reallabore) für neue Akteur*innen offen sein und nicht nur die „üblichen Verdächtigen“ einbeziehen.