Progressives Regieren: Lieber Herr Aalam, die Bauernproteste und die Diskussion um das Klimageld haben in den letzten Wochen wieder einmal deutlich gezeigt: Die Klimapolitik wirft neue Verteilungsfragen auf. Etwas grundsätzlicher gefragt: Welche Herausforderungen ergeben sich aus der Klimakrise für die soziale Frage in Deutschland?
Mansour Aalam: Wir stehen aktuell in Bezug auf die soziale Frage vor unglaublich großen Herausforderungen. Denn bereits jetzt gelingt es uns als Gesellschaft nicht, das soziale Versprechen, ganz unabhängig von der Klimafrage, einzulösen. Kinder, die in Armut aufwachsen, haben geringe Chancen, der Armut zu entkommen. Die entscheidenden Faktoren für die Bildungs- und Aufstiegs-Chancen von Kindern in Deutschland sind die Bildung und das Einkommen der Eltern. Das ist fatal! Im Vergleich mit anderen industrialisierten Ländern wies und weist Deutschland laut Datenreport 2021 der Bundeszentrale für politische Bildung mit die höchsten Chancenungleichheiten auf. Auch die Vermögensungleichheit ist mit einem Gini-Koeffizienten von 0,772 (siehe Global Wealth Report 2023) hoch.
Die Klimakrise wird dies noch weiter verschärfen. Grundlegende Bedürfnisse wie Wohnen, Nahrung und Mobilität werden aufgrund der klimatischen Veränderungen und der Anpassung an diese teurer. Dies wird die bestehenden Ungerechtigkeiten weiter verstärken. Die Frage, die sich hier stellt, ist: Welchen Sozialstaat benötigt eine zukunfts- und transformationsfähige Gesellschaft? Wie gelingt es uns, durch sozialpolitische Instrumente Menschen abzusichern und zu befähigen, die aus der Transformation entstehenden Chancen zu nutzen? Die Klimakrise legt unsere sozialen Herausforderungen sprichwörtlich unter ein Brennglas.
Was folgt aus dieser Problemanalyse? Ist unser Sozialstaat gewappnet für die sozialen Folgen der Klimakrise und ihrer Bekämpfung oder muss er grundsätzlich neu gedacht werden?
Um politisch auf die sozialen Folgen der Klimakrise angemessen reagieren zu können, braucht es verlässliche Daten, die die Mehrbelastungen für die Bürger:innen im Zuge der notwendigen sozial-ökologischen Transformation darstellen. Diese Informationen sind elementar, um auch in Zukunft einen auskömmlichen Lebensstandard trotz Transformation sicherzustellen. Solche Daten hätten großen politischen und gesellschaftlichen Nutzen und könnten als Orientierung für die Ausgestaltung künftiger Policies dienen. Das ist ein Gebiet, das wir uns auch als Zentrum für neue Sozialpolitik genau ansehen.
Grundsätzlich müssen aber auch die Paradigmen überprüft werden, nach denen unser Sozialstaat arbeitet. Sind unsere sozialen Absicherungen flexibel genug, um auf unvorhergesehene Effekte effektiv zu reagieren? Stärken oder schwächen sie das für die Transformationsakzeptanz immens wichtige Vertrauen der Bürger:innen in staatliche Institutionen?
Angesichts der Klimakrise spielt Geschwindigkeit zudem eine entscheidende Rolle. Einerseits, weil der Sozialsstaat im Falle von kurzfristigen besonderen Belastungen in der Lage sein muss, Bürger:innen schnell zu unterstützen. Und andererseits, weil wir die Transformation nicht vom Ende her betrachten können. Die Fähigkeit des Sozialstaats, zügig auf neue gesellschaftliche Entwicklungen zu reagieren, ist eine Grundvoraussetzung für das Gelingen der Transformation. Wir gehen deshalb davon aus, dass flexible, unbürokratische und niedrigschwellige Unterstützungsangebote auch künftig eine große Rolle spielen werden.
In der Polykrise gab es in den letzten Jahren diverse Entlastungen der Bürger:innen. Ein häufig zu hörender Vorwurf ist dabei, dass sie mit der Gießkanne vorgenommen werden und damit niemandem so richtig helfen. Bessergestellte benötigen die Hilfe nicht wirklich, während Entlastungen für Schlechtergestellte nicht ausreichen. Trifft diese Einschätzung zu?
In der Krise ging es darum, schnell und unbürokratisch zu unterstützen. Das war für den deutschen Sozialstaat und die deutsche Öffentlichkeit ein Novum, denn für gewöhnlich gehen einer sozialen Hilfe entweder selbst geleistete Beitragszahlungen oder eine Bedürftigkeitsprüfung voraus. Über diese Verfahren wird Verteilungsgerechtigkeit angestrebt, aber sie sind langsam, kompliziert und bürokratisch und somit keine geeigneten Instrumente in einer akuten Krise, in der Existenzen bedroht sind. Die direkten und unbürokratischen Entlastungsmaßnahmen waren daher das richtige Instrument zum richtigen Zeitpunkt.
Was in der Kommunikation rund um diese Unterstützungszahlungen zu kurz kam, ist, dass sogenannte Gießkannenmaßnahmen auch bis zu einem gewissen Grad gezielt wirken können: Bei der Energiepreispauschale aus dem Herbst 2022 lief das beispielsweise über die nachgelagerte Besteuerung. Indem die Zahlungen versteuert werden mussten, kam bei einkommensschwachen Menschen mehr an als bei einkommensstarken. Wenn diese Gerechtigkeitserwägungen gewährleistet sind, besteht auch große Zustimmung innerhalb der Bevölkerung für sozialstaatliche Entlastungsmaßnahmen, die auf eine Bedürftigkeitsprüfung verzichten. Das ist das Ergebnis unserer repräsentativen Befragung vom Sommer 2023.
Das große Potenzial derartiger Policy-Designs ist also noch längst nicht ausgeschöpft. Die politischen Akteure verkennen aktuell leider noch die Relevanz einer klaren und transparenten Kommunikation.
Eine grundlegende Diskrepanz in der Klimakrise ist, dass Bessergestellte mehr zu ihr beitragen, während Schlechtergestellte stärker unter ihr leiden. Durch welche Maßnahmen ließe sich dieses Missverhältnis besonders effektiv verringern?
Es liegt bedauerlicherweise noch kein vollständiger Maßnahmenkatalog auf dem Tisch. Es wird parallel an vielen unterschiedlichen Vorschlägen gearbeitet. Ein sinnvoller Mechanismus lässt sich gut am Zusammenspiel von CO2-Preis und Klimageld zeigen. Der CO2-Preis verteuert CO2-intensives Verhalten. Wir wissen, dass Bessergestellte einen höheren CO2-Abdruck haben als schlechter gestellte Personen. Ein effektiver CO2-Preis kann somit die Verursacher von CO2 an den dadurch entstehenden Kosten beteiligen. Schlechter gestellte Menschen haben statistisch betrachtet einen geringeren CO2-Abdruck, werden jedoch von den nötigen höheren CO2-Preisen, die sich auf die allgemeinen Konsument:innenpreise auswirken, besonders stark belastet. Ein unbürokratisches Klimageld, das pauschal ausgezahlt wird, verbindet eine ökologische Lenkungswirkung mit einer ökonomischen Umverteilung. Die Kombination aus CO2-Preis und Klimageld könnte somit ein erster wichtiger Schritt sein. Das Momentum zum Handeln ist vorhanden. Das sollte die Bundesregierung nutzen und das Klimageld zügig einführen. Dieser Mechanismus ist nicht perfekt, aber er ist einfach, transparent und umsetzbar. Die Diskussion kann hier jedoch nicht stoppen. Wir müssen daran arbeiten, die Instrumente weiterzuentwickeln und zu ergänzen, damit auch Menschen mit niedrigem Einkommen die Transformation gut meistern können.
Die Frage, ob und wie Klimapolitik sozial gerecht gestaltet wird, wirkt sich auch auf das Vertrauen in demokratische Politik aus. Das haben wir beim Gebäude-Energie-Gesetz erlebt. Wie hängen Sozialpolitik und das Vertrauen in die Demokratie aus Ihrer Sicht zusammen?
Vertrauen spielt für Gesellschaften eine große Rolle. In Deutschland haben wir da leider eine Schieflage. Menschen mit geringem Einkommen, Armuts- oder Arbeitslosigkeitserfahrungen haben ein geringeres Vertrauen in Institutionen und Politik. Sie beteiligen sich weniger an demokratischen Prozessen und Wahlen und sind in der Folge in Entscheidungen unterrepräsentiert. Es ist ein Teufelskreis aus sozialer und politischer Ungleichheit. Aus demokratiepolitischer Perspektive ist daran problematisch, dass die Wahlergebnisse nicht sozial repräsentativ sind; darunter leidet die Legitimation der gewählten Instanzen. Für viele Menschen, die finanziell schlechter gestellt sind, ist der Sozialstaat die Institution, mit der sie am häufigsten in Kontakt treten. Die Art und Weise, wie diese Institution mit den Menschen interagiert, hat einen unmittelbaren Einfluss auf deren Vertrauen in Politik. Das ist nicht zu unterschätzen! Es ist daher wünschenswert, die Institutionen des Sozialstaats so zu gestalten, dass sie das Vertrauensklima stärken. Hier sind Würde und respektvoller Umgang auf Augenhöhe essenzielle Leitprinzipien, die anstelle von Kontrolle und dem Gefühl von Ungerechtigkeit stehen sollten.
In einer Studie haben Sie auf der Grundlage eines Experiments zum bedingungslosen Grundeinkommen in Finnland auch demokratiepolitische Auswirkungen dieser spezifischen Form von Sozialpolitik untersucht. Zu welchen Ergebnissen sind Sie dabei gekommen?
Ich möchte zunächst festhalten, dass das finnische Experiment nicht wirklich bedingungsloses Grundeinkommen, sondern vielmehr eine sanktionsfreie Grundsicherung untersucht hat. Also: Was geschieht, wenn Langzeitarbeitslose ihre Grundsicherung erhalten, unabhängig davon, wie sie sich in ihrer Jobsuche verhalten? Ein für uns besonders interessantes Treatment, denn so konnten wir die Effekte der Sanktionsfreiheit untersuchen.
Unsere zentrale Fragestellung war, wie die Ausgestaltung der sozialen Sicherung die Wahlbeteiligung beeinflusst. Im Fokus stand dabei die Gruppe der volatilen Wähler:innen, also diejenigen, die mal wählen und mal nicht.
Das Ergebnis: Erhielten diese Personen eine sanktionsfreie Transferleistung anstelle der regulären, sanktionierbaren Erwerblosenhilfe, erhöhte das die Bereitschaft, zur Wahlurne zu gehen um über sieben Prozentpunkte im Vergleich zu denjenigen, die die reguläre Grundsicherung erhielten. Bei den Beziehenden der modifizierten Transferleistung stiegen auch Vertrauen und das Gefühl politischer Wirksamkeit, zwei wichtige motivationale Voraussetzungen für den Gang zur Wahlurne. Damit befinden wir uns wieder bei den Themen Vertrauen, Sozialstaat und Demokratie. Sozialpolitische Policies sollten auch unter demokratiepolitischen Gesichtspunkten gestaltet werden.
Wie bewerten Sie vor diesem Hintergrund die beschlossenen Änderungen beim Bürgergeld?
Ich glaube, die Ampel hat beim Bürgergeld eine große Chance verstreichen lassen, die womöglich nicht so schnell wiederkommt. Sie wollte einen Neustart der Grundsicherung. Anders als Hartz IV sollte das Bürgergeld einfacher, unbürokratischer und stigmafrei sein. Gemessen daran sind die gesetzlichen und gesellschaftlichen Realitäten sehr ernüchternd. Wesentliche Reformteile haben es am Ende nicht ins Gesetz geschafft und es hat sich kein Akteur gefunden, der das gesamte Projekt proaktiv vertritt, erklärt und in eine größere gesellschaftliche Vision einbindet. Beides hat der Reform und ihren guten Ansätzen enorm geschadet und einen stigmafreien Neustart für die Grundsicherung verhindert.
Nehmen wir mal die geplatzte Vertrauenszeit von sechs Monaten als Beispiel. Diese wäre ein wichtiges Signal gewesen, und zwar in zweierlei Hinsicht. Zum einen an die Menschen im Bezug, denen man signalisiert, dass die Institution davon ausgeht, dass gut und vertrauensvoll zusammengearbeitet wird. Das andere Signal ist aber auch nicht zu unterschätzen, es richtet sich an die ganze Gesellschaft. Es sagt, dass es beim Bürgergeld um eine echte Veränderung gehen soll, um einen Paradigmenwechsel von Misstrauen und Kontrolle hin zu Vertrauen und Kooperation. In dieser Form ist das Bürgergeld daher, trotz Verbesserungen, eine Enttäuschung.
In ihrem Buch Triggerpunkte führen Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser aus, dass soziale Ungleichheiten kein großes Mobilisierungspotenzial mehr haben, weil sich mit dem Sozialstaat eine als legitim angesehene Institution zu ihrer Bearbeitung etabliert hat. Bei Ungleichheiten, die sich im Rahmen der Klimakrise entfalten, ist das noch nicht der Fall. Könnte die Transformation deshalb ein neues Mobilisierungspotenzial für die soziale Frage entfalten?
Ich weiß nicht, ob ich der Analyse folge, aber gehen wir einmal davon aus, es wäre so: In dem Fall mag der Sozialstaat eine als legitim angesehene Institution sein, um soziale Ungleichheiten zu bearbeiten. Wir sind jedoch leider weit davon entfernt, dass dieser es auf zufriedenstellende Weise tun würde. Das zeigen nicht nur die Daten, sondern auch Bewegungen in der Bevölkerung wie #IchBinArmutsbetroffen oder der Bedarf an Organisationen wie Arbeiterkind, Sanktionsfrei und vielen weiteren. Die Klimakrise wird unsere sozialen Herausforderungen verstärken, erweitern und noch sichtbarer machen. Dadurch wächst auch das Mobilisierungspotential.
Das Potenzial allein reicht aber nicht. Es braucht eine politische Kraft, die es entfaltet, die die soziale Frage nach oben auf die politische Agenda hebt. Ich denke, dass das Potenzial auch schon in den vergangenen Jahren bestand. Das ist der Punkt, über den ich gern mit den Autoren diskutieren würde. Vielmehr hat der politische Fokus gefehlt, es zu heben. Dies kann sich aber durch die Klimakrise verändern – ich hoffe es sogar! Denn der starke Transformationsdruck, unter dem wir stehen, ist auch eine Chance. Wir können und sollten ihn als Anlass nehmen, unser soziales Versprechen zu erneuern. Denn Gerechtigkeit und eine sichere Lebensgrundlage für alle Bürger:innen sowie künftige Generationen machen die Gesellschaft stärker und resilienter.