Wir alle schauen auf die Koalitionsverhandlungen wie auf einen Livestream und versuchen uns aus dem wenigen, das nach außen dringt, einen Reim zu machen. Kann es sein, dass aus progressiver Sicht gerade das Richtige geschieht – aber von den Falschen umgesetzt wird? Dass massiv in Infrastruktur und Verteidigung investiert werden muss, wird ja seit Jahren diskutiert. Es war die heutige SPD-Vorsitzende Saskia Esken, die im Oktober 2019 erklärte: „In einem Jahrzehnt der öffentlichen Investitionen wollen wir bis 2030 500 Milliarden Euro verfügbar machen für Städte und Gemeinden, die Sanierung von Schulen, Kitas und Verwaltungsgebäuden, für Brücken und Straßen und für den Ausbau der digitalen Infrastruktur.“
Im zurückliegenden Bundestagswahlkampf kämpften auch Bündnis90/Die Grünen für eine solche Initiative: Als Spitzenkandidat der Partei, Robert Habeck, seine „Zukunftsagenda für das erste Regierungsjahr“ vorstellte, sprach er davon, eine halbe Billion Euro „gestreckt über zehn Jahre“ in die Hand zu nehmen. Wer den Sanierungsstau nicht abbaue, so Habeck, hinterlasse „Schulden in der Wirklichkeit“. Und siehe da: Das alles kommt jetzt.
Auch das Thema Verteidigungsfähigkeit ist im Grunde ein alter Hut: Das Zweiprozentziel der NATO wurde schon 2002 und erneut 2014 vereinbart. Bereits seit den 1980er-Jahren wird in Deutschland von einer „Machtvergessenheit“ gesprochen – damals ausschließlich von konservativer Seite. In jüngerer Vergangenheit bildete die Münchner Sicherheitskonferenz 2014 eine zumindest rhetorische Wegscheide, als deutsche Politiker:innen angesichts der russischen Aggression auf der Krim und im Osten der Ukraine von der Notwendigkeit sprachen, international „mehr Verantwortung zu übernehmen“. Es brauchte allerdings erst die russische Vollinvasion im Februar 2022, um den Worten auch Taten folgen zu lassen.
Ironie der Geschichte – oder List der Vernunft?
Nun also – dank historischer Schuldenpakete und adaptierter Regeln, die der alte Bundestag in Windeseile noch auf den Weg bringen konnte – ist zumindest das Geld da. Jetzt fehlt nur noch die Politik.
Dass im Parlamentarismus oft die Gegenseite das umsetzt, was eigentlich zur eigenen Seite passen würde, ist ein bekannter Effekt: „Only Nixon could go to China“, heißt es in den USA. Ausgerechnet Rot-Grün zog 1999 in den Kosovo-Krieg und setzte mit der Agenda 2010 Sozialreformen ins Werk, die man bis dato eher im neoliberalen Lager verortet hätte. Ausgerechnet eine unionsgeführte Bundesregierung führte einen Mindestlohn ein und ließ in der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 die Grenzen offen. Nun also macht ausgerechnet Merz die Politik von Esken und Habeck. Ironie der Geschichte oder List der Vernunft?
Tatsache ist: Auf finanziell üppiger Grundlage lässt es sich besser regieren. Teile der Union interpretieren die beiden Schuldenpakete jedoch bereits als vorgelagerte Zugeständnisse an den voraussichtlichen Koalitionspartner – von dem jetzt ebensolche gefordert werden. In den Reihen der SPD hingegen sieht man die Sache anders: Mit dem Bekenntnis zur Schuldenaufnahme sei die Union überhaupt erst in der Realität und am Ausgangspunkt der Verhandlungen angekommen.
Herausbildung einer bundesrepublikanischen Klassik
Aus den Arbeitsgruppen, die ihre Ergebnisse bis Montag 17 Uhr abliefern mussten, hört man Erwartbares: Hier und da hakt es, hier und da war auch mal die Stimmung schlecht, vieles sei noch nicht „geeint“, insgesamt aber laufe die Koalitionsanbahnung wie auf Schienen. Man hat das Gefühl, dass sich in den vergangenen 20 Jahren eine gewisse bundesrepublikanische Klassik herausgebildet hat: Sondierungen, Verhandlungen in durchnummerierte Arbeitsgruppen, Klärung und Verrechnung strittiger und zum Teil völlig zusammenhangloser Punkte auf Chefebene und Durchreichung der Summe ans Kabinett, Besetzung der “gezogenen” Ministerien durch die Parteispitzen bzw. bei den progressiven Parteien inklusive Mitgliederbefragung (kostenintensiv, aber eher Formsache).
Das alles geschieht routiniert und erwartbar, einer stabilen Demokratie angemessen. Doch wie stabil ist eine Demokratie mit Rechtsextremen als zweitstärkster parlamentarischer Kraft wirklich? Eine Demokratie, deren Mitte insgesamt keine Zweidrittelmehrheit mehr zusammenbekommt? Die im Ernstfall noch nicht mal den Verteidigungsfall feststellen könnte? Schaut man auf das Funktionieren der Koalitionsanbahnung – und auch auf viele der bisherigen Ergebnisse – gibt es durchaus Grund zur Freude und zur Hoffnung. Schaut man hingegen auf aktuelle Umfragen, trübt sich das Bild: Nur noch wenige Prozentpunkte trennen die Union von der AfD, die von einem Umfragerekord zum nächsten eilt.
Viel ist die Rede von der „letzten Patrone“ (Markus Söder), die die Demokratie jetzt noch übrig habe. Mit dieser gefährlichen Formulierung wird jedoch auch eine selbsterfüllende Prophezeiung in den Diskurs eingeführt, die das Undenkbare immer denkbarer werden lässt: eine erneute Machtübergabe an die Feinde der Demokratie, in einem Land mit einer Geschichte wie Deutschland.
Mehr Flexibilität und Adaptabilität
Vor dem Hintergrund dieser existentiellen Bedrohung müssen CDU/CSU und SPD einen historischen Kompromiss schließen und schnell „vom Kampf- in den Kooperationsmodus gelangen“ (Wolfgang Schroeder). Was den Koalitionspoker angeht, scheint weniger mehr – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Ampelregierung, deren vertraglich festgelegte Ambitionen von der Realität des russischen Angriffskriegs und des Bundesverfassungsgerichts-Urteils aus dem November 2023 konterkariert wurden.
Koalitionsverträge sind in den vergangenen Jahren immer dicker geworden, was einem Versuch gleichkam, kommende Legislaturen zentral durchzuplanen. In der Regel waren die Vertragswerke durch den Gang unvorhergesehener Ereignisse sehr schnell Makulatur. Man muss nicht so weit gehen wie der CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann und „Einfach mal machen“ zur zentralen Devise erheben, aber etwas mehr Flexibilität und Adaptabilität stünden der künftigen Regierung gut zu Gesicht. Erfolgreich eine Liste abzuarbeiten, wie es die Ampel ja durchaus zu wesentlichen Teil getan hat, wurde bekanntlich wenig goutiert. Vielmehr geht es um das Gefühl, dass eine Regierung das Staatsschiff sicher und verlässlich lenkt – ein Gefühl, das sich ob des ampelinternen Dauerstreits einfach nicht einstellen wollte, einstellen konnte.
Raum und Ideen für koalitionspartnerschaftliche Lösungen
Was die Dickschiffe Sozialpolitik, Migration und Steuern angeht, sollten Einigungen jenseits des Theaterdonners durchaus möglich sein. In der Sozialpolitik kann es nicht nur um die Durchsetzung des Unions-Diktats „Weniger Bürgergeld“ gehen. Tatsächlich liegt in den Themenbereichen „Chancengerechtigkeit“, „Leistungsgedanke und Aufstiegsversprechen“ sowie „Stärkung der Mitte der Gesellschaft“ reichlich Konsenspotential.
Was das Reizthema Migration angeht, kann die Lösung nicht „Grenzen dicht“ lauten; stattdessen, muss eine Regulierung momentan unregulierter Bereiche vorgenommen werden. Progressive Akteure haben hier bisher versäumt, konkrete Vorschläge aktiv in Diskurs und Verhandlungen einzubringen – dabei liegen durchaus viele Ideen auf dem Tisch. Und für eine Unternehmenssteuerreform, die sich nicht in Wahlgeschenken ergeht, sondern der Ankurbelung der Wirtschaft dient, dürfte schnell ein Konsens zwischen den Koalitionären zu finden sein.
Die gute Nachricht ist also: Es gibt Raum und Ideen für koalitionspartnerschaftliche Lösungen. Die Legislatur wird aber auch vom Kampf gegen die rechtsextreme Politik der AfD geprägt sein. Sobald ein:e neue:r Innenminister:in ernannt wurde, wird auch die Spitze des Verfassungsschutzes neu bestellt. Dort liegt das Gutachten zur Einstufung der Gesamt-AfD als „gesichert rechtsextrem“ immer noch unter Verschluss. Eine Veröffentlichung muss ein Verbotsverfahren nach sich ziehen. Es wäre im Sinne eines funktionierenden Staatswesens, dem sich die Koalitionäre verschrieben haben, eine geradezu fahrlässige Unterlassung, wenn sich die wehrhafte Demokratie ihrer Feinde nicht erwehrt. Auch bei diesem Thema gilt: CDU/CSU und SPD sind zum Erfolg verdammt.
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