Deutschland schlittert in der Migration in eine aktionistische Abschottungspolitik, die jegliche Expertise aus Wirtschaft, Recht und Wissenschaft ignoriert. Angetrieben wird diese Politik von der AfD, die Messerattacken und Morde durch Asylbewerber für eine immer weitere Verschärfung des Migrationsdiskurses instrumentalisiert. Nun hat der Aktionismus gestern im Bundestag seinen traurigen Höhepunkt erreicht: Für den symbolischen Akt eines Entschließungsantrages, der die Migrationspolitik materiell in keiner Weise verbessert, nimmt die Union die AfD als Mehrheitsbeschaffer in Kauf, verleiht ihr ohne Not politisches Gewicht und bricht damit das Wort des eigenen Kanzlerkandidaten, der noch vor wenigen Wochen an selber Stelle jegliche Abstimmung mit der AfD kategorisch ausgeschlossen hat. Diese Scheinpolitik richtet nicht nur massiven Schaden an der demokratischen Kultur an, sie verstellt auch den Blick auf die migrationspolitischen Weichenstellungen, die erforderlich sind.
Tatsächlich war die Ampel angetreten, das Land, das sich im vergangenen Jahrzehnt so stark in ein Einwanderungsland gewandelt hatte, migrationspolitisch in die Zukunft zu tragen. „Mehr Fortschritt wagen” hieß es im Koalitionsvertrag und 35 konkrete Agenda-Punkte waren darin vermerkt, von denen auch einige in der bestehenden Legislaturperiode umgesetzt wurden. Manche waren wegweisend. Dazu gehört unter anderem das erweiterte Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das dafür sorgen soll, dass Fachkräfte schneller und unbürokratischer nach Deutschland einwandern und hier arbeiten können, und das Chancen-Aufenthaltsrecht, mit dem Kettenduldungen verhindert und die Zahl der Langzeitgeduldeten reduziert werden soll.
Schon bevor die Ampel zu Bruch ging, schien es jedoch, als habe die Bundesregierung den Mut zur eigenen – progressiven – Migrationspolitik verloren. Ihre Migrationspolitik wurde reaktiv und ungelenk. Regierung und Opposition überboten sich in einem migrationsfeindlichen Aktionismus, und betonten Härte in der Flüchtlingspolitik, Abschiebungen, Zurückweisungen von Flüchtlingen schon direkt an der Grenze oder die Wiedereinführung von Grenzkontrollen im Schengenraum.
Wenn diese migrationsfeindliche Rhetorik, bei einer gleichzeitigen Überalterung der Gesellschaft samt Verknappung von Arbeitskräften in allen Sektoren des deutschen Arbeitsmarktes auch von der nächsten Regierung weitergeführt werden sollte, könnte das Deutschland dauerhaft schaden. Unter ausländischen Fachkräften landet das Land in der Beliebtheit bereits jetzt lediglich auf Rang 50 von 53 Ländern.
Es fehlt Deutschland an jeglicher Form von Zukunftserzählung. Migrationspolitik wird nur im Hier und Jetzt, reaktiv und von rechter Seite gar rekonstruktiv verhandelt – mit dem Versprechen, durch Massenausweisungen eine Vergangenheit wiederherzustellen, in der es keine Migranten gab.
Einer neuen Regierung wäre zu empfehlen, dass sie sich proaktiver und sozialgestalterischer mit der Migrationsfrage auseinandersetzt. Migration wird auch in Zukunft das Land stark prägen – ein migrationspolitischer Kompass, basierend auf fünf Pfeilern, könnte mehr Orientierung ermöglichen. Eine koordinierte Migrationspolitik – die planerisch, antizipierend, simulativ-steuernd und sozial ist – das muss ein Land wie Deutschland angehen, das sich im letzten Jahrzehnt zu einem der dynamischsten Migrationsakteure der Welt entwickelt hat und sich in Europa auch an die Spitze gestalterischer Prozesse setzen möchte. Ein Kompass statt eines undurchdachten Fünf-Punkte-Plans:
1. Koordinierte Migrationspolitik – Deutschland braucht ein Migrationsministerium
Deutschland ist zwar seit 2001 offiziell ein Einwanderungsland, doch seine Migrationspolitik bleibt zersplittert und ineffizient, weil sie auf mehrere Ministerien verteilt ist. Zuständigkeiten für Einwanderung, Asyl, Fachkräfteeinwanderung, Integration und Staatsangehörigkeit sind zwischen dem Innenministerium, dem Arbeitsministerium, dem Wirtschaftsministerium und dem Außenministerium aufgeteilt, was zu bürokratischen Hürden, widersprüchlichen Regelungen und ineffizienten Entscheidungsprozessen führt. Ein Migrationsministerium würde klare Zuständigkeiten schaffen und eine kohärente, strategische und langfristige Steuerung ermöglichen. Statt Migration nur als Krisenreaktion zu verwalten, könnte Deutschland nach kanadischem Vorbild eine vorausschauende Migrationspolitik etablieren, die jährliche Zuwanderungsziele definiert, den Arbeitsmarktbedarf mit Migrationssteuerung verknüpft, eine faire Verteilung in den Bundesländern sicherstellt und gleichzeitig eine Zugehörigkeitspolitik koordiniert.
Länder wie Kanada, aber auch Dänemark und Schweden haben erkannt, dass eine zentrale Migrationssteuerung notwendig ist, um eine effiziente Verwaltung, bessere Integration und eine vorausschauende Planung zu gewährleisten. Zudem könnte ein eigenes Migrationsministerium dazu beitragen, Migration aus der sicherheitspolitischen Ecke herauszulösen – und auch in der europäischen und internationalen Migrationspolitik zu stärken.
2. Planbarkeit – Migrationslevel-Zahlen vorgeben und sich daran halten
Deutschland braucht eine strategische Migrationspolitik mit klaren Zielvorgaben und realistischen Zuwanderungsprojektionen. Kanada verfolgt diesen Ansatz durch Immigration Level Plans, die jährlich konkrete Einwanderungsziele definieren und dreijährig festgelegen. Sie ermöglichen eine vorausschauende Personal- und Infrastrukturplanung und schaffen Verlässlichkeit für Verwaltungen, Unternehmen und die Zivilgesellschaft. Seit Jahren ist bekannt, dass Deutschland eine Nettozuwanderung von ca. 400-500 tausend Menschen benötigt. Die Bruttozuwanderung müsste somit jährlich bei 1,5 Millionen liegen. Ein Dreijahresplan würde somit auf ca. 4,5 Millionen Einwandernde setzen.
Ergänzend sollte über zirkuläre Migrationsmodelle mit „atmenden Grenzen“ nachgedacht werden, um den Bleibedruck samt Familiennachzug zu entzerren, temporäre Rückkehr in Herkunftsländer zu erleichtern und so Integrationskapazitäten zu entlasten. Auch die Migrationspartnerschaften, die die Regierung mit Ländern wie Kenia, Ghana, Marokko, Usbekistan und anderen Ländern bereits abgeschlossen hat, sind Modelle, die Planbarkeiten erleichtern
Planbarkeit darf jedoch nicht auf wirtschaftliche Verwertungslogik reduziert werden. Migration bedeutet mehr als das Schließen von Fachkräftelücken – sie verändert Gesellschaften langfristig.Migration ist nur dann nachhaltig, wenn soziale Absicherung, bezahlbarer Wohnraum und Chancengerechtigkeit mit in die Aufnahmestrategien eingepreist werden. Ist das aufgrund ökonomischer Krisen nicht möglich, werden Migrationslevelpläne angepasst. Dazu braucht es Investitionen in Bildung, Gesundheit und Infrastruktur und verlässliche, langfristige Vereinbarungen, die den gesellschaftlichen Bedürfnissen ebenso gerecht werden wie den Rechten der Migranten.
3. Antizipierbarkeit – Die Menschen wollen wissen, wer kommt
Deutschland braucht eine vorausschauende Migrationspolitik, die frühzeitig erkennen lässt, wer in Zukunft nach Deutschland kommen wird und welchen Beitrag diese Menschen leisten können. Ein Punktesystem nach kanadischem Vorbild könnte hier eine Lösung sein, das Bewerber anhand objektiver Faktoren bewertet. Punkte werden für Bildung, Berufserfahrung, Sprachkenntnisse, Alter und eine gesicherte Arbeitsstelle vergeben.
Eine partizipative Steuerung der Migration ist dabei essenziell: Deutschland braucht eine faire und planbare Verteilung von Schutzsuchenden und Einwandernden, damit Kommunen und Länder sich frühzeitig vorbereiten können. Besonders wirksam ist die Möglichkeit, durch das Provincial Nominee Program (PNP) gezielt Fachkräfte für spezifische regionale Bedarfe zu gewinnen. Kommunen und Bundesländer, die aktiv Migration gestalten möchten, sollten die Möglichkeit erhalten, ihre eigenen Kriterien und Zuwanderungsquoten festzulegen, um gezielt nach Bedarf anzuwerben.
Zudem gibt es in Deutschland bereits ein algorithmisches Matching-Programm, das Zuwandernde gezielt mit Regionen zusammenbringt, die Bedarf an bestimmten Fachkräften oder demografischer Ergänzung haben. Auf diesen Ansätzen aufzubauen und gleichzeitig das in den vergangenen Jahren entstandene Gefühl eines Autonomieverlusts zu entkräften, wäre ein wichtiger Schritt hin zu einer vorausschauenden und nachhaltigen Migrationspolitik.
4. Simulative Steuerung – zukünftige Entwicklungen voraussehen und in die Vorhand kommen
Weltweit gibt es rund 281 Millionen Menschen, die außerhalb ihres Geburtslandes leben, was einem Anteil von 3,6 Prozent der Weltbevölkerung entspricht. Mehr als 96 Prozent der Menschen migrieren nicht. Sie leben und sterben in den Ländern, in denen sie auch geboren wurden. Das Bewusstsein dafür zu schaffen, dass in alternden Gesellschaften um diese 3,6 Prozent Migranten konkurriert werden wird, ist für eine vorausschauende Migrationspolitik zentral. Auch Länder wie Südkorea oder Japan steigen nach Jahrzehnten der Migrationsabwehr in die weltweite Migrationsanwerbung ein. Auch Kanada hat sich einen ambitionierten Jahrhundert-Plan zur quasi-Verdreifachung seiner Population bis zum Ende des Jahrhunderts gegeben und die Golf-Staaten haben bereits angekündigt, dass sie eine Million Arbeitskräfte allein für ihren Golf-Futurismus zusätzlich brauchen.
Deutschland darf sich in dieser Neuverteilung globaler Migrationsströme nicht abhängen lassen. Simulation und Forecasting sind zentrale Steuerungsinstrumente. Kanada nutzt sie bereits, um demografische Entwicklungen, Arbeitsmarktprognosen und wirtschaftliche Bedarfe zu analysieren. Quantitative Modelle erfassen Fachkräftepotenziale, Bildungsprofile und Mobilitätsbereitschaft, während qualitative Szenarien geopolitische Entwicklungen und gesellschaftliche Trends einbeziehen.
Wer Migration nur verwaltet, wird im globalen Wettbewerb verlieren.
5. Soziale Verantwortung
Natürlich muss Deutschland seinem selbstgesetzten Wertekanon und seinen internationalen humanitären Verpflichtungen nachkommen. So zu tun, als könne Deutschland abgeschlossen und dauerhaft Grenzkontrollen umsetzen, steht im Widerspruch zu den Schengen-Regeln. Auch die Abweisung Schutzsuchender an der Grenze ist fragwürdig, da das europäische Recht zunächst die Einreise fordert, bevor über einen Aufenthalt entschieden wird. Eine Notstandsregelung auf EU-Ebene durchsetzen zu wollen, deren rechtliche Grundlage unklar ist, ist kein Zeichen einer planerischen Migrationspolitik. Neben rechtlicher Planlosigkeit stoßen die Forderungen von Friedrich Merz nach mehr Abschiebungen und Abschiebehaft auch auf praktische Hürden, wenn diplomatische Beziehungen zu Herkunftsländern wie Afghanistan schlichtweg nicht bestehen oder es zu wenig Haftplätze gibt, die eine Verschärfung der Abschiebepolitik verhindern.
Sinnvoller wäre es, wenn Deutschland im Zahlenkontingent – also in den Migrationslevel-Plänen – die jährlichen Zahlen für die Aufnahme von Geflüchteten mit angeben und ein eigenes Resettlement-Programm entwickeln würde. Resettlement-Programme sind humanitäre Aufnahmeverfahren, bei denen besonders schutzbedürftige Flüchtlinge direkt aus Erstaufnahmeländern (z. B. aus Lagern des UNHCR) sicher und geordnet in Aufnahmestaaten gebracht werden. Anders als bei spontanen Asylanträgen wird dabei bereits vor der Einreise geprüft, ob Schutz gewährt wird. Staaten wie Kanada, Australien und die USA nutzen Resettlement gezielt, um legale, sichere und kontrollierte Zugangswege für Geflüchtete zu schaffen und irreguläre Migration zu reduzieren.
Im Jahr 2024 wurden in Deutschland 229.751 Erstanträge auf Asyl gestellt. Der Anteil der Flüchtlinge an der Gesamtmigration liegt damit bei ca. 20 %. Würde Deutschland ein jährliches Migrationslevel von brutto 1,5 Millionen festlegen und die Quote für die Aufnahme von Geflüchteten auf 10 % reduzieren, entspräche dies ca. 150.000 Menschen pro Jahr. Es wäre zu erwarten, dass die Zahl der Asylanträge automatisch sinken würde, wenn es mehr reguläre Zugangswege gäbe. Ein strukturiertes Resettlement-Programm könnte somit nicht nur humanitären Schutz gewährleisten, sondern auch das Asylsystem entlasten und Migration planbarer machen.
Multiculturalism-Act statt Verwertungslogik
Nicht zuletzt wäre Ambition etwas, das dem Gefühl der Resignation entgegengestellt werden müsste. Das Land und die Menschen wirken wie gelähmt. Die AfD hat es geschafft, einen Diskurs zu etablieren, in dem die Bevölkerung rundherum nur noch Abstieg und Niedergang fühlt – während Deutschland de facto die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt ist.
Deutschland braucht auch für die migrationspolitische Zukunftsplanung ein Leitbild, das über utilitaristische Argumente hinausgeht. Die Zukunft des Landes liegt – aufgrund der demographischen Realität, der wir ins Auge schauen müssen – in der Zuwanderung. Allerdings ist die Erzählung, dass Zuwanderer unsere Renten sichern sollen, nicht alleine tragfähig. Schon jetzt haben 41 Prozent der Schulkinder in Deutschland Migrationsbiographien: Ihre Vorstellung von Aufstieg, Gleichheit und Zugehörigkeit müssen offensiv adressiert und in eine gemeinschaftsbildende Erzählung überführt werden. Nur für die Rentensicherung der Älteren zu arbeiten, erzeugt keinen Antrieb – geschweige denn einen Aufbruch.
Statt einer schnöden Verwertungslogik braucht es ähnlich dem Multiculturalism-Act, den Kanada 1988 eingeführt hat, ein Leitbild, das auf einer gemeinsamen Gestaltung der Zukunft aufbaut und nicht wie die immer wiederkehrende Leitkultur, vor allem von der Rekonstruktion einer Vergangenheit träumt. Die deutsche Politik sollte die postmigrantische Gesellschaft ambitioniert mitgestalten, statt sie permanent in Frage zu stellen und sich von ihr überrumpelt zu fühlen. 30 Prozent unserer Bevölkerung haben einen Migrationshintergrund. Sie andauernd zu verprellen ist schon deswegen unklug, weil mindestens 12 Prozent der Wählenden selbst migrantische Biographien haben. Auch sie sind über die unkoordinierte Migrationspolitik unglücklich; auch sie haben Angst vor Kriminellen – seien es psychisch Kranke Afghanen oder gesunde Rechtsextreme.
Es wäre weitsichtiger, wenn die kommende Regierung ein Gesetz zum sozialen Zusammenhalt verabschieden würde, das den demokratischen Werten des Landes entspricht und nicht Bürger erster und zweiter Klasse schafft. Dabei kann Deutschland von klassischen Einwanderungsländern wie Kanada lernen – auch von ihren Fehlern.
Ein Gedankenexperiment zum Schluss: Im Jahr 2023 registrierten die Strafverfolgungsbehörden 16.375 Fälle von sexuellem Missbrauch von Kindern – 54 pro Tag. Der Anteil der deutschen Tatverdächtigen belief sich auf 81,2 %, der Anteil der Männer lag bei 94%. Man stelle sich vor, eine Partei hetzte auf der Basis dieser verstörenden Delikte gegen deutsche Männer, stellte sie als kulturell gewalttätig dar und forderte eine Familienpolitik, die ihren Ausgang stärker regulierte. Das wäre nicht nur infam – es würde massiv den gesellschaftlichen Zusammenhalt vergiften und Deutschland ökonomisch, gesellschaftlich und politisch langfristig schaden. Es würde deutsche Männer pauschal kriminalisieren, ohne ausschließen zu können, dass Delikte dieser Art sich wiederholten. So fatal ist die aktuelle migrationspolitische Agenda von Friedrich Merz, die er am Mittwoch mit den Stimmen von AfD und FDP aufgleisen konnte.
Autorin
Naika Foroutan ist Professorin für Integrationsforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin und Direktorin des DeZIM. Diese Expertise entstand während ihres Aufenthalts in Toronto als Scholar of Excellence im CERC-Migration-Programm in Zusammenarbeit mit Harald Bauder, Professor für Geographie und Gründungsdirektor des Instituts für Einwanderungsstudien an der Toronto Metropolitan University, sowie Ratna Omidvar, Senatorin im kanadischen Parlament, Direktorin der Century Initiative und Mitglied im World Refugee and Migration Council.