Fünf Tage nach der Bundestagswahl beginnen am heutigen Freitag die Sondierungsgespräche zwischen Union und SPD. Dass die vergangenen Tage nicht von Annäherungsversuchen, sondern von Streit über das Wahlrecht und eine kleine Anfrage der Union geprägt waren, lässt befürchten, dass die beiden Parteien den Ernst der Lage noch nicht erkannt haben. Denn die Probleme und Herausforderungen, vor denen die neue Regierung steht, könnten größer nicht sein.
Innenpolitisch sind dies die schlechte Lage der Wirtschaft, wo Besserung nicht in Sicht ist; die Herausforderungen der ökologischen Transformation, die nach wie vor bestehen, auch wenn sie im Wahlkampf kaum thematisiert wurden; die tiefe Unzufriedenheit in der Bevölkerung; die starke Rechtsverschiebung und der Erfolg der AfD; die gefühlte Unsicherheit und die (vermeintlichen) Probleme mit der Migration.
Hinzu kommen die geopolitischen Verwerfungen: andauernder Krieg in der Ukraine und die neue Trump-Administration mit ihrem Angriff auf die liberale Demokratie in den USA sowie auf die internationale Weltordnung und die NATO. Angesichts dessen ist eine vertiefte europäische Zusammenarbeit und Geschlossenheit notwendiger denn je – auch und gerade in der Verteidigungspolitik. Deutschland muss hier schnell wieder an der Seite Frankreichs und Polens Führungsverantwortung übernehmen.
Notwendige Annäherung: Vom Kampf- in den Kooperationsmodus
Gleichzeitig steht die neue Regierung unter keinem guten Stern. Die Herausforderungen sind, wie geschildert, riesig – ebenso jedoch auch das Misstrauen zwischen den wahrscheinlich zukünftigen Partnern. In den vergangenen Jahren und insbesondere im Wahlkampf sind zwischen SPD und Union tiefe Gräben entstanden. Es kommt jetzt darauf an, dass schnell Brücken gebaut werden und beide Seiten verbal abrüsten. Noch eine Regierung des dauernden Streits und der Uneinigkeit können sich weder das Land, noch die EU und unsere internationalen Partner leisten.
Im Zentrum der neuen Regierung sollte ein historischer Kompromiss bei den Themenbereichen Migration und Investitionen in die Infrastruktur stehen. Diese beiden Fragen sind eng miteinander verflochten und zugleich zentral für die Befriedung und Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft. Institutionelle Reformen in der Migrationspolitik und eine Reform der Schuldenbremse sind der Lackmustest für die Funktionsfähigkeit dieser Koalition. Deshalb wäre die SPD äußerst schlecht beraten ihre oberste Priorität in diesem Kompromiss – umfassende Investitionen in die Zukunft Deutschlands – noch mit den alten Mehrheiten aufzugeben, indem sie einem Sondervermögen für die Bundeswehr zustimmt, das hinten und vorne nicht reicht und keines der Infrastrukturprobleme unseres Landes löst.
Neue Regierung steht unter Zugzwang
Die über allem schwebende Herausforderung, die sich aus den anderen Problemkomplexen ergibt, ist die Schuldenbremse. Stärkung der Verteidigung sowohl national als auch europäisch, Transformation der Wirtschaft und die Behebung des öffentlichen Investitionsstaus: Ohne eine Reform der Schuldenbremse werden diese Aufgaben nicht zu lösen sein. Nun würde man für die erforderlichen Beschlüsse unter der neuen Regierung jedoch auf die Linkspartei angewiesen sein – und die wird sich ihre Zustimmung etwas kosten lassen. Will die Union dieses Risiko nicht eingehen, ist sie gefragt, jetzt einen ganzheitlichen Finanzierungsvorschlag für Verteidigung und Infrastruktur zu machen, der noch mit den alten Mehrheiten umgesetzt werden kann.
Eine Lösungsfindung wird in der Migrationsfrage nicht einfacher. Zwar sind sich beide Parteien einig, dass Handlungsbedarf besteht, jedoch sind viele Forderungen der Union für die SPD nicht tragbar. Das überstürzte Handeln der Union, kurz vor der Wahl unausgereifte Maßnahmen mit der AfD abzustimmen, hat eine Einigung und Kompromissfindung in diesem Bereich nicht erleichtert. Zudem steht die neue Regierung unter Zugzwang – hat doch die Union versprochen, die Probleme mit der Migration zu lösen. Wenn jedoch die SPD in der Migrationsfrage und die Union in der Frage der Schuldenbremse bereit ist, ein Stück über die parteipolitische Schmerzgrenze hinauszugehen, ist eine Lösung in Sicht, die nicht nur für beide Seiten gesichtswahrend, sondern auch gut für das Land ist.
Problem der demokratischen Repräsentanz – Öffnung in die Gesellschaft
Denn nicht nur für die Handlungsfähigkeit der Koalition, auch für ihre gesellschaftliche Tragfähigkeit ist es entscheidend, dass sie eine Regierung des Kompromisses und der Aushandlung mit zukunftsorientierten Perspektiven wird. Denn eine Schwarz-Rote Regierung würde nur noch einen kleineren Teil – vor allem den älteren Teil der Gesellschaft – repräsentieren. Eine Regierung ohne die Jugend kann schnell eine Regierung ohne Zukunft werden. Hinzu kommt, dass durch den knappen Nichteinzug von FDP und BSW sowie der übrigen Kleinparteien im neuen Bundestag knapp 15 Prozent der Stimmen gar nicht repräsentiert sind. Damit haben viele Millionen Wähler:innen keine Stimme im Parlament, obwohl sie zur Wahl gegangen sind. Das ist ein Problem für die Akzeptanz der Demokratie – eines, über das sich alle Parteien Gedanken machen sollten.
Wie kann trotzdem eine inklusive Regierung für alle gebildet werden? Wie kann der Erfolgsdruck, der auf dieser Regierung nach dem Scheitern der Ampel lastet, positiv beantwortet werden? Da es aus den Schießscharten eines defensiven Regierungsbündnisses schwer möglich sein wird, die großen Herausforderungen anzugehen, braucht es vermutlich eine gewisse Öffnung. Eine Öffnung in die Gesellschaft, die die Akzeptanz der Regierung auf ein breiteres Fundament stellt, wäre eine wichtige Grundlage, um aus der eigenen Enge herauszukommen und die Breite der gesellschaftlichen Interessen zu adressieren. Eine nur auf Top-Down und die eigene Klientel fixierte Politik wird nicht ausreichen, um die Gesellschaft zu versöhnen und sie für die großen Herausforderungen zu motivieren. Eine gute Regierung braucht nicht nur interne Kompromissfähigkeit, sondern auch eine enge Kooperation mit der Gesellschaft.