Werden die Menschen etwas aus der Krise lernen, die durch die Covid-19-Pandemie hervorgerufen wird? Historisch gesehen spricht vieles dafür. Die Geschichte ist voll von Beispielen, dass Menschen Krisen und Katastrophen nutzen, um daraus Lehren zu ziehen und eine Wiederholung des Unglücks zu verhindern.
Im 19. Jahrhundert etwa wurden nach Pandemien Trinkwasserfilter gebaut, Müllverbrennungsanlagen eingerichtet und Wohnungsbaugesetze zur besseren Hygiene erlassen. Ein weiteres Beispiel menschlicher Lernbereitschaft aus der Katastrophe bietet die Luftfahrttechnik. Es gibt kaum zweimal den gleichen Grund für einen Flugzeugabsturz, falls es sich nicht um menschliches Versagen handelt. Jeder Absturz wird global diskutiert, von Fachleuten detailliert analysiert und die Erkenntnisse oft mit entsprechenden staatlichen Regularien in die Flugzeugproduktion eingebracht.
Der Zweite Weltkrieg war die maximale Lektion
Am eindrücklichsten ist aber wohl die Lehre, die Menschen aus dem Zweiten Weltkrieg und dem durch die Deutschen begangenen Menschheitsverbrechen des Holocaust gezogen haben. Nach 1945 lag die Welt in Trümmern. Wie sollte es weitergehen? Wie sollten Leben und Poesie, wie Menschlichkeit und Vertrauen noch möglich sein? Wie sollte die Wirtschaft wieder angekurbelt und ein Wohlstand erreicht werden, der den Frauen, Männern und Kindern in Europa wieder ein menschenwürdiges Leben ermöglichte? Der Neubeginn, der dann zu aller Erstaunen folgte, wurde nicht nur von den Deutschen als „Wunder“ empfunden.
Von Deutschland ging seither kein Krieg mehr aus. Überhaupt ist es den Menschen erstaunlicherweise gelungen, keinen Dritten Weltkrieg zu entfachen. Der Atomkrieg war eine überaus reale, naheliegende Option in den Dauerkrisen des Kalten Krieges, und die Panik vor einer Vernichtung der Menschheit war wohl noch brennender und unmittelbarer als die Angst vor dem Klimawandel.
Ideen bedürfen Gelegenheiten
Was in der Nachkriegszeit ebenfalls deutlich wurde: Die großen Veränderungen finden oft nicht in Folge von Barrikadenfeuer und Revolutionen statt, sondern eher mit langwierigen, oft frustrierenden Reformen. Reformen brauchen viel Zeit, und reformerische Ideen sind meistens lange, lange in der Welt, bevor sie auf Opportunitätsstrukturen stoßen, die ihre Umsetzung erlauben. Häufig bieten Krisen den entscheidenden Anstoß, um längst anstehende Reformen durchzuführen, denn Menschen sind nach Krisen besonders lern- und reformbereit.
Häufig bieten Krisen den entscheidenden Anstoß, um längst anstehende Reformen durchzuführen, denn Menschen sind nach Krisen besonders lern- und reformbereit.
Dabei kommt es häufig zu Rückschlägen. Der Traum von einem friedlichen Europa etwa war alt, und schon vor dem Ersten Weltkrieg wussten die Staatenlenker, dass sie dafür internationale Organisationen einrichten und Abkommen schließen mussten. Nach dem Ersten Weltkrieg taten sie viel, um mit dem (klug erdachten) Völkerbund und zahlreichen weiteren Verträgen und diplomatischen Aushandlungen weitere Weltbrände zu verhindern. Es war nicht so, dass sie nicht gelernt hätten. Aber erst nach 1945 waren sie in der Lage, noch weiter zu gehen.
Die UNO und die europäische Einigung sind unmittelbare Folgen der Lernbereitschaft aus dem Zweiten Weltkrieg. Auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948, die wesentlich von Eleanor Roosevelt vorangebracht wurde, gehört zu den großartigen Errungenschaften der Nachkriegszeit. Im Namen der Menschenrechte werden seither Folterknechte international geächtet und immer mehr Diktatoren juristisch zur Rechenschaft gezogen. In einem überaus langwierigen und widersprüchlichen Reformprozess haben die Menschen weltweit auch den Glauben an die Rechtmäßigkeit des Kolonialismus begraben, die Auffassung, dass die einen Völker die anderen beherrschen und bedrücken dürfen.
Die EuropäerInnen haben darüber hinaus ihre Nationen nicht nur als Demokratien, sondern – damit eng verbunden – als Sozialstaaten neu gegründet: auch das ein Ergebnis vieler Jahrzehnte mühsamer und oft stockender Reformprozesse. Die Würde des Menschen, Freiheit und Gerechtigkeit bedürfen der grundlegenden materiellen Sicherung.
Der Blog
Corona & Society: Nachdenken über die Krise
Was können Gesellschaft und Politik programmatisch-konzeptionell aus der Krise lernen?
Mancher Rückschritt hält den Fortschritt nicht auf
Aber blendet man mit dieser optimistischen Sicht nicht zu viel aus? Ist nicht allein die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland auch eine Chronologie von anhaltendem Hass und Antisemitismus?
In Europa gab es in den 1990er wieder genozidale Verbrechen. Der Rechtsextremismus, der Populismus, die jüngst errichtete Diktatur in Ungarn und die schwache Europäische Union: Gibt all das nicht Anlass zum Pessimismus? Aufgrund dieser und anderer berechtigter Fragen, ist es so wichtig, die historische Perspektive zu berücksichtigen. Rassismus, Chauvinismus und selbst Sklaverei sind nicht von der Erde verschwunden, aber es gibt einen von den (wie Umfragen zeigen) Mehrheiten und von maßgeblichen Regierungen getragenen Konsens, dass diese nicht mehr als Zukunftskonzept, sondern als Geißeln der Menschheit gelten.
Großtheorien zeigen in der Krise ihre Schwächen
Übrigens scheint es auch eine theoretische Lehre aus Covid-19 zu geben: Großtheorien dienen offenbar weniger dem Zweck, die Welt zu verstehen, als vielmehr dazu, Großmeister zu performieren und zu zelebrieren. Die großen AntikapitalistInnen, die VertreterInnen einer reinen Der-Markt-wird-es-schon-richten-Lehre, die GlobalisierungsgegnerInnen und die LiebhaberInnen der nationalen Isolationen beweisen in Krisenzeiten vor allem eines: ihre ganz konkrete Nichtzuständigkeit.
Gewiss, Theorie ist immer notwendig, um Fakten zu generieren und sie einzuordnen, aber sie ist kein Selbstzweck. Die Empörung vieler prominenter DenkerInnen, PhilosophInnen und Intellektueller gegen die Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung vor Covid-19, ihr larmoyantes Gekränktsein, weil sie sich nicht von Angela Merkel das Händewaschen vorschreiben lassen wollen, offenbart ihre Selbst-Fixierung.
Covid-19 lehrt uns noch vor dem Ende der Pandemie genau das: Das demütige Wissen um das eigene Nichtwissen, um die Möglichkeit der Korrektur – die Schönheit des Lernens.
Die Geisteshaltung, die von der Lernbereitschaft der Menschen ausgeht, erfordert nicht den Gestus des sicheren Wissens und Gebietens, sondern der Beobachtung, der Kritik, der Rücksichtnahme und der Selbstbeschränkung. Covid-19 lehrt uns noch vor dem Ende der Pandemie genau das: Das demütige Wissen um das eigene Nichtwissen, um die Möglichkeit der Korrektur – die Schönheit des Lernens. Ein altes, sokratisches Wissen.