Schiffbruch mit Zuschauer

Zur Nachlese der Landtagswahlen

Die Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt haben das Parteiensystem ordentlich erschüttert. Alte Koalitionswahrheiten funktionieren nicht mehr. Die AfD ist auf direktem Weg in alle drei Landesparlamente einmarschiert. Für die etablierten Parteien gilt es, ihrer Verantwortung für diese Entwicklung aufzuarbeiten.

Bei den Landtagswahlen am 13. März 2016 mag sich der interessierte Beobachter an Hans Blumenbergs Untersuchung „Schiffbruch mit Zuschauer“ erinnern. Der deutsche Philosoph beschreibt darin die anregende Dialektik zwischen Schrecken und Sicherheit. Der entscheidende Punkt hierbei ist die Position des unversehrten Beobachters, die es dem Zuschauer erlaubt, den Schiffbruch aus sicherer Distanz zu beobachten. Bezogen auf die Landtagswahlen heißt der Schrecken Alternative für Deutschland (AfD). Entsetzen ausgelöst hat deren fulminanter Durchmarsch in die Landesparlamente vor allem im Spektrum der etablierten Parteien.

Die Ergebnisse der Landtagswahlen haben dreierlei gezeigt: Erstens gelten alte, scheinbar in Stein gemeißelte Koalitionswahrheiten nicht mehr. Das Parteiensystem hat sich verändert. Neue Bündnisse und Machtoptionen sind möglich und nötig, vielleicht auch im Bund.
Zweitens haben die Parteien vornehmlich auf das Konzept „Persönlichkeit vor Programm“ gesetzt. Zumindest für die amtierenden Ministerpräsidenten ist dieses Kalkül aufgegangen. Der Amtsbonus hat dazu ganz gewiss einiges beigetragen. Für die Herausforderer hat es nicht gereicht. Wo der glänzende Spitzenkandidat und die vertrauenserweckende Führungspersönlichkeit fehlten, orientierten sich die Wähler verstärkt an Sachthemen. Nicht honoriert wurde der Eindruck von Wankelmütigkeit, wie die die Absetzbewegungen Julia Klöckners und Guido Wolffs von der Flüchtlingspolitik der Kanzlerin gezeigt haben.

Drittens gilt vorerst: Die Alternative für Deutschland ist da! Sie hat als einzige Partei durchweg gewonnen und es aus dem Stand in alle drei Parlamente schaffte – und zwar mit zuvor unvorstellbaren Ergebnissen. Dabei konnte sie Stimmen aus allen politischen Lagern abziehen, insbesondere jedoch von der CDU. Zudem hat die Partei mit rund einem Drittel ihrer Wählerschaft überproportional Nicht-Wähler mobilisiert. Die AfD profitiert dabei von der komfortablen Situation als Nicht-Regierungspartei in einer immer unübersichtlicheren Welt einfache Antworten geben zu können. Populismus ist meist das Mittel der Wahl. Auf diese Art konnte sie vor allem Protestwähler für sich gewinnen – Menschen aller Couleur, die mit Politik und Medien unzufrieden sind und sich von den etablierten Parteien nicht mehr repräsentiert fühlen.

Der wundersame Aufstieg der AfD stellt somit die Fragen nach Verantwortung, Vertrauen und Verlässlichkeit des politischen Establishments. Die Landtagswahlen galten als Votum und Zäsur der Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin und der Arbeit der Großen Koalition in Berlin. Zumindest scheint für die Wählerinnen und Wähler die Flüchtlingskrise das entscheidende Thema gewesen zu sein. Zwei der drei Wahlsieger – Malu Dreyer und Winfried Kretschmann – haben beharrlich zur Flüchtlingspolitik der Kanzlerin gestanden und sind damit gut gefahren. Das ist schon einigermaßen paradox wenn man bedenkt, dass beide anderen Parteien angehören. Wer das Kreuz bei CDU, SPD und Grünen gemacht hat, der hat – so die Lesart – damit auch Merkels Flüchtlingspolitik bestätigt.

Schiffbruch hat die CDU trotzdem erlitten. Noch vor zwei Jahren konnte die Kanzlerin ohne Programm und Idee dem Wähler alles verkaufen. Ihrer eigenen Partei übrigens auch, solange sie nur die Mehrheiten bei den Wahlen gesichert hat. Mit Raute und „Sie kennen mich“ hatte sich ein Mehltau über die Gesellschaft gelegt, an der nicht zuletzt ihre Konkurrenten teilweise verzweifelt sind. Diese Zeiten scheinen mit der Flüchtlingskrise erstmal vorbei. Angela Merkel hat immer die moralische Verpflichtung zur Hilfe betont, bislang jedoch wenig gesagt, wie sie „das“ schaffen will und was „das“ eigentlich sein soll. Das Erstarken der AfD ist vor allem ein Kind ihrer Politik, mit der sie die CDU in den vergangenen Jahren weit in die Mitte gerückt und am rechten Rand eine Lücke aufgemacht hat, welche die AfD nun ausfüllen kann.

Man darf jedoch auch nach der Verantwortung der Sozialdemokratie fragen. Bei den von der AfD mobilisierten Nicht-Wählern sind Menschen, die sich abgehängt und zurückgelassen fühlen. Sigmar Gabriel hat diese Gefahr erkannt („Für die tut ihr alles, für uns tut ihr nichts.“) und versucht mit dem von ihm vorgeschlagenen Solidarpaket etwas entgegenzusetzen. Dennoch hat die SPD bei der Haltungsnote Nachholbedarf. Es mangelt an einem strategischen Zentrum und an einem klaren Kurs. Bislang hat die Sozialdemokratie keine eigene Strategie zur Flüchtlingskrise entwickelt und sich vornehmlich an der taktischen Politik der Bundeskanzlerin orientiert. Auch beim Thema soziale Gerechtigkeit kann die SPD nicht richtig punkten. In den vergangen zwei Jahren hat sie einige große Anliegen umgesetzt: Mindestlohn, Rente mit 63, Mietpreisbremse. In den Umfragen hängt sie jedoch weiterhin fest. Das ist schon erstaunlich, wenn man bedenkt, dass für die Wahlentscheidung der Bürgerinnen und Bürger bei den Landtagswahlen die soziale Gerechtigkeit an zweiter Stelle stand.

Die Frage „Wofür steht die SPD?“ gilt es systematisch und mit Weitblick herauszuarbeiten und diesen Weg verlässlich auch zu gehen. Wo stehen wir in einer globalisierten Welt? Wie wollen wir darin leben? Welche Vorstellung haben wir von Europa? Wie weit wollen wir gehen, um unseren Wohlstand zu verteidigen? Welche Opfer sind wir bereit, dafür zu bringen? Wie stellen wir uns eine moderne Gesellschaft und gesellschaftlicher Zusammenhalt vor? Das sind vielleicht unbequem Fragen, aber will man den nächsten Schiffbruch vermeiden und sich neue Räume erschließen, ist es wohl notwendig.

Autorin

War von 2016 bis 2017 Visiting Fellow im Progressiven Zentrum und als Beauftragte für Arbeit und Soziales, Familie, Frauen und Senioren in der Landesvertretung Baden-Württemberg beim Bund beschäftigt.

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