Auch wenn im Bundestagswahlkampf Themen wie Migration und die aktuelle Wirtschaftslage im Vordergrund standen, bleibt für viele Menschen in Deutschland die soziale Ungleichheit eines der wichtigsten politischen Themen dieser Zeit. Nicht zuletzt auch deswegen, weil Ungleichheit als Querschnittsthema viele Politikbereiche – von Sozialstaat über Bildung bis hin zur Flüchtlingspolitik – berührt. Das Konstanzer Ungleichheitsbarometer erfasst in regelmäßigen Befragungen seit 2020 die individuellen Wahrnehmungen und Einstellungen der deutschen Wohnbevölkerung zum Thema Ungleichheit.
Dieses Policy Paper stellt erste Ergebnisse der jüngsten Befragungswelle, die im Herbst 2024 durchgeführt wurde, vor. Thematisch fokussiert es auf den Zusammenhang zwischen Wahrnehmungen von Ungleichheit und politischen Beteiligungs- und Einstellungsmustern. Der Kernbefund unserer Analyse ist, dass sich ökonomische und politische Ungleichheit wechselseitig beeinflussen, sodass eine hohe (wahrgenommene) ökonomische Ungleichheit mit einer stärker negativen Einschätzung der Möglichkeiten der eigenen politischen Einflussnahme einhergeht. Langfristig kann dieser Zusammenhang zu einer Erosion des Vertrauens in die Demokratie und ihre politischen Institutionen führen.
Ergebnisse und politische Implikationen
Während frühere Forschungsarbeiten vor allem den Einfluss von objektiven Faktoren wie Einkommen, Bildungshintergrund, Alter, Geschlecht oder Beruf auf politische Einstellungen und Verhalten untersuchten, deutet die jüngere Forschung auf die Relevanz von subjektiven Wahrnehmungen hin. Subjektive Wahrnehmungen sind ein wichtiger Filtermechanismus, der objektive Lagen subjektiv übersetzt. Sie haben einen maßgeblichen Einfluss auf das politische Wahlverhalten und die Einstellungen zum Sozialstaat über die objektiven Faktoren hinaus. Die Forschung hat außerdem gezeigt, dass subjektive Wahrnehmungen von Ungleichheit häufig verzerrt sind und die objektive Lage daher nur bedingt widerspiegeln. In diesem Policy Paper stehen zunächst subjektive Wahrnehmungen zu politischen Einflussmöglichkeiten im Vordergrund, die in der jetzigen Befragungswelle des Ungleichheitsbarometers ausführlicher erfasst wurden als in früheren Wellen.
Die Politikwissenschaft unterscheidet hierbei zwischen den beiden Dimension der internen politischen Selbstwirksamkeit (internal political efficacy) und der externen politischen Selbstwirksamkeit (external political efficacy). Wahrnehmungen der internen Selbstwirksamkeit betreffen die Identität des Einzelnen als politisch informierter und damit prinzipiell politisch handlungsfähiger Mensch. Bei der externen Selbstwirksamkeit geht es im Gegensatz dazu um die Einschätzung zur Frage, inwiefern die Politik und politische Akteure die Bedürfnisse und Belange ihrer Wähler:innen aufgreifen und ob damit Möglichkeiten der effektiven Einflussnahme auf tatsächliche politische Entscheidungsprozesse gegeben sind.
- Generell haben die allermeisten Befragten eine hohe Wahrnehmung von politischer Selbstwirksamkeit: Nur 19 Prozent stimmen der ersten Aussage nicht zu, dass sie wichtige politische Fragen gut verstehen und einschätzen können.
- In Hinblick auf die wahrgenommene externe politische Selbstwirksamkeit, also inwiefern das politische System auf Wünsche und Bedürfnisse der Wähler:innen reagiert, hingegen ist die Skepsis deutlich höher: 85 Prozent geben an, dass Politiker:innen sich nicht darum kümmern, was „einfache Leute” denken, während 82 Prozent der Meinung sind, dass sich Politiker: innen nicht um einen engen Kontakt zur Bevölkerung bemühen. Menschen aus unteren Einkommensschichten und mit geringerer Bildung nehmen dabei systematisch weniger persönliche Einflussmöglichkeiten auf die Politik wahr und sind weniger zuversichtlich, sich selbst aktiv in politische Debatten einbringen zu können. Der Unterschied zwischen Hoch- und Niedrig-Gebildeten bei der Frage nach dem Kümmern der Politiker:innen um die Belange „einfacher Leute” liegt bei 9 Prozentpunkten.

- Ein großer Teil der Befragten nimmt eine ausgeprägte ökonomische Ungleichheit in Deutschland wahr und erachtet diese als problematisch. So sind beispielsweise 81 Prozent der Befragten der Meinung, dass die Einkommensunterschiede in Deutschland zu groß sind.
- Diejenigen, die der Aussage zustimmen, dass die Einkommensunterschiede zu groß sind, haben signifikant stärkere negative Einschätzungen hinsichtlich ihrer internen und externen politischen Selbstwirksamkeit. Das heißt, dass Menschen, die ein hohes Maß an Ungleichheit wahrnehmen, zugleich weniger zuversichtlich sind, dass sie daran durch ihr politisches Handeln etwas verändern können.
- Es gibt Hinweise darauf, dass Menschen, die ein höheres Maß an ökonomischer Ungleichheit wahrnehmen, sich tendenziell weniger politisch beteiligen.
- Es zeigt sich ein klarer Zusammenhang zwischen fehlender interner wie auch externer politischer Wirksamkeit und einer höheren Wahrscheinlichkeit, nicht wählen zu wollen.
Handlungsempfehlungen
Welche Implikationen und Handlungsempfehlungen ergeben sich aus den Befunden für die Politik?
- Eine erste Handlungsempfehlung bezieht sich auf die politische Kommunikation. Gewählte Abgeordnete sind als berufliche Kommunikationsprofis im regelmäßigen Austausch mit ihren Wähler:innen. Trotz dieser Bemühungen wird Politik oftmals als geschlossene Veranstaltung erlebt, die es vor allem für Menschen mit geringeren ökonomischen oder bildungsbezogenen Ressourcen schwer macht, einen Zugang zu finden. Hier sind über die Berufspolitiker:innen hinaus daher vor allem die Parteien gefragt, politisch interessierte Menschen nicht nur anzusprechen, sondern auch effektiv in Mitbestimmungs- und Entscheidungsprozesse einzubinden. Die im Zusammenhang mit der jüngsten Bundestagswahl zu verzeichnenden starken Mitgliederzuwächse bei einigen Parteien sowie die hohe Wahlbeteiligung deuten darauf hin, dass es durchaus eine gewisse Bereitschaft in der Bevölkerung gibt, sich stärker politisch einzubringen.
- Eine zweite, daran anschließende Handlungsempfehlung ist, bewusst Freiund Ermöglichungsräume für demokratische politische Debatten in Alltagskontexten (in Betrieben, Schulen, Universitäten etc.) zu sichern und zu erweitern. Wenn sich politische Debatten auf Talkshows mit prominenten Gästen und Kanzlerkandidat:innen-Duelle im Fernsehen verengen und beschränken, ist es wenig verwunderlich, dass die wahrgenommene politische Selbstwirksamkeit der Menschen leidet. Das demokratische Streiten um gute Lösungen muss wieder stärker in den realweltlichen Alltagspraktiken verankert werden. Dies kann zum Beispiel durch die Förderung und den Ausbau von demokratischen Mitbestimmungsinstitutionen in Behörden, Betrieben und Bildungseinrichtungen geschehen.
- Eine dritte Handlungsempfehlung ist die Ausweitung der politischen Bildung, insbesondere zur Stärkung von Personen mit geringer interner politischer Wirksamkeit, da sich diese Personengruppe auch seltener an Wahlen beteiligt. Um diese Personen gezielt zu erreichen, könnte ein spezifisches politisches Bildungsangebot hilfreich sein. Politische Bildung spielt generell eine zentrale Rolle bei der Stärkung demokratischen Bewusstseins und könnte hier als wirksames Instrument eingesetzt werden
Hintergrundinformationen zur Erhebungsmethode
Die Veröffentlichung des Policy Papers „Auf dem Abstellgleis? Zum Zusammenhang zwischen Ungleichheitswahrnehmungen und politischer Beteiligung” erfolgt in Zusammenarbeit zwischen dem Exzellenzcluster „The Politics of Inequality” an der Universität Konstanz und dem Berliner Think-Tank Das Progressive Zentrum. Die Daten wurden im Rahmen einer Online-Befragung der über-18-jährigen Wohnbevölkerung in Deutschland zwischen dem 11. November und 5. Dezember 2024 erhoben. Insgesamt nahmen 6.152 Befragte teil.
Autor:innen
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