Zusammenfassung
Wie kommt das Neue in die Welt? Die Suche nach Antworten auf diese Frage ist angesichts der Herausforderungen, vor denen Deutschland bei der Dekarbonisierung und Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft steht, keine philosophische Übung, sondern eine der dringlichsten Aufgaben unserer Zeit. Denn ob es der Bundesrepublik gelingt, Vorreiter einer digitalen Nachhaltigkeitsökonomie zu werden und wettbewerbsfähig zu bleiben, hängt in hohem Maße von der technologischen und gesellschaftlichen Innovationskraft des Landes ab.
Eine repräsentative Civey-Umfrage im Auftrag des Progressiven Zentrums zeigt: Über drei Viertel der Befragten sind der Meinung, dass die deutsche Regierung nicht genug für die Innovationsfähigkeit der deutschen Wirtschaft tut (78 %). Mehr als 80 Prozent stimmen der Aussage zu, die Bundesregierung solle klare Ziele für die Förderung von technologischen Innovationen setzen. Den Befragten zufolge sollten technische Innovationen vor allem der Wettbewerbsfähigkeit dienen (44 %), gefolgt von der nationalen Sicherheit (30 %), sozialer Gerechtigkeit (29 %) und Klimaschutz (28 %). Im direkten Vergleich mit China und den USA sagten nur 13 Prozent der Befragten, die EU sei der innovativste Wirtschaftsstandort. Knapp 40 Prozent halten die chinesische Wirtschaft für die innovativste, etwa 30 Prozent finden die USA als Wirtschaftsstandort am innovativsten.
Vor diesem Hintergrund untersucht die Studie die Zukunftsfähigkeit des deutschen Innovationsmodells und begibt sich auf die Suche nach konkreten Reformvorschlägen für dessen politische Steuerung.
Dreischritt der Studie:
Vermessen
Ein kritischer Blick auf das Innovationssystem in Deutschland
Die Studie nimmt das Innovationssystem in Deutschland mit Blick auf seine Leistungsfähigkeit anhand von vier Indikatoren kritisch unter die Lupe: Mentalitäten, Räume, Finanzierung und Politik. Dabei zeigt sich, dass Deutschland über ausgeprägte Stärken verfügt. Das deutsche Innovationssystem ist passgenau auf den Wirtschaftsstandort mit seiner starken Vernetzung zwischen Hochschulen, außeruniversitären Forschungseinrichtungen und Industrieunternehmen zugeschnitten. Dabei kann Deutschland nicht nur auf große innovative Industrieunternehmen bauen, die ihre Märkte bestens kennen und im internationalen Vergleich sehr viel Geld für strategische Investitionen in Forschung und Entwicklung (F&E) aufwenden, sondern verfügt ebenso über eine lebendige, wachsende Landschaft von Start-up-Unternehmen. Negativ fällt im internationalen Vergleich hingegen die sehr geringe Gründungsneigung in Deutschland auf. Eine ausgeprägte Schwäche des deutschen Innovationssystems besteht zudem darin, dass gemessen an der heimischen Wirtschaftskraft nur wenig Wagniskapital zur Verfügung steht. In einigen zentralen Zukunftstechnologien wie der Künstlichen Intelligenz hinkt Deutschland im internationalen Vergleich hinterher und droht zum passiven Beobachter zu werden. Auf politischer Seite besteht die zentrale Schwäche in der Abwesenheit einer übergreifenden Innovationsstrategie, die all die bestehenden Ansätze bündelt und in ein konsistentes Ganzes überführt.
Vergleichen
Tiefenbohrungen in die Governance-Strukturen anderer Innovationssysteme
Auf der Basis von „Tiefenbohrungen“ werden gute innovationspolitische Praktiken in anderen Ländern identifiziert und analysiert – mit dem Schwerpunkt auf fünf Ländern: Niederlande, Großbritannien, Schweden, Finnland und Japan. Der Blick ins Ausland zeigt: Länder profitieren, wenn sie in der Forschungs- und Innovationspolitik einen möglichst verlässlichen und koordinierten Rahmen schaffen, der eine übergreifende Orientierung für alle Akteure im Innovationssystem ermöglicht. Diese gemeinsame Ausrichtung (alignment) wird mittlerweile durchweg mithilfe von Missionen erreicht, die auf die gesellschaftlichen und ökonomischen Herausforderungen des jeweiligen Landes zugeschnitten sind. Aber – und das ist eine für Deutschland entscheidende Erkenntnis: Es bleibt in den von uns analysierten Ländern nicht bei der Formulierung von abstrakten Missionen. Sie werden stets in ein aktives Management überführt – mit konkreten Zielen, Agenden, Maßnahmen und einer auskömmlichen finanziellen Ausstattung.
Vorausschauen
Future Seeds – Ansatzpunkte für ein zukunftsfähiges Innovationsmodell in Deutschland
Das Experiment einer strategischen Vorausschau auf ein zukünftiges Innovationssystem in Deutschland hat gezeigt, dass Zukunftsstränge klar definiert und beschrieben werden und für die Weiterentwicklung der deutschen Innovationslandschaft ganz konkrete Mehrwerte bieten können. Anhand von drei Zukunftssträngen (future seeds) – Missionen, Durchlässigkeit und Experimentierräume – skizziert die Studie mögliche Transformationspfade des deutschen Innovationssystems. Missionen sollten in Zukunft einen möglichst klaren Rahmen für die Ausrichtung von Forschung und Innovation in Deutschland setzen und dadurch ein hohes Maß an Harmonisierung (alignment) in der Innovationslandschaft schaffen. Missionen geben top down eine Richtung vor. Diese kann dann bottom up mit einer Vielzahl von Projekten und Experimenten konkretisiert werden – möglichst in gezielt ausgesuchten Innovationsregionen, in denen neue Wissens- und Transformationsökosysteme entstehen. Als Bindeglieder dienen in diesem System möglichst viele Agent:innen des Wandels (agents of change), die mit lebendigen Innovationslebensläufen aufwarten und zwischen den verschiedenen Teilbereichen des Innovationssystems wechseln, um dort jeweils ihre Erfahrungen einzubringen. So kann aus diesen verschiedenen Zukunftssträngen mithin ein konsistentes Ganzes entstehen.
Das Impulspapier in Kooperation mit Fraunhofer ISI und der Bertelsmann Stiftung zum Vorausschau-Prozess hier:
Leitlinien: Die fünf Ks
Kern
Innovation zu einer Supra-Mission der Bundesregierung machen
In Anbetracht der Dringlichkeit der twin transition aus Dekarbonisierung und Digitalisierung sollte die Bundesregierung das Thema Innovation ressortübergreifend und öffentlichkeitswirksam als ein zentrales Zukunftsthema für Deutschland setzen und in ein Fortschrittsnarrativ einbetten: Deutschland kann weltweit zum Vorreiter und Schrittmacher auf dem Weg zu einer Nachhaltigkeitsökonomie werden.
Konsequenz
Missionen als Richtschnur für die Harmonisierung der deutschen Innovationslandschaft
Ausgehend von den größten gesellschaftlichen Herausforderungen sollte die Bundesregierung Missionen noch konsequenter als Richtschnur für eine übergreifende Zukunftsstrategie des Landes nutzen. Zudem sollte sie Missionen aktiv managen, also in konkrete Programme übersetzen, die klaren Umsetzungszielen, Finanzierungsvorgaben und messbaren Indikatoren (KPI) folgen.
Kenntnisse
Personelle Durchlässigkeit in der deutschen Innovationslandschaft erhöhen
Die Köpfe, die den Prozess von der Ideation bis zur Marktgängigkeit persönlich treiben und begleiten, sind ebenso wichtig wie Technologien. Die Autor:innen empfehlen, Menschen aus unterschiedlichen Sektoren die Möglichkeit zu eröffnen, friktionsfreier an die verschiedenen Orte zu wechseln, an denen Innovationen entstehen oder gesteuert werden.
Kreativität
Neue Experimentier- und Freiräume in einzelnen Regionen entwickeln
Deutschland sollte Experimentier- und Freiräume nutzen, um die bestehende Innovationskraft der vielen exzellenten Forschungs- und Hochschulstandorte in voller Breite auszuschöpfen. Es darf jedoch nicht zu einer Überlaborisierung kommen. Den Experimenten müssen Taten folgen. Dabei ist die Frage der Skalierbarkeit von erfolgreichen Innovationen ebenso wichtig wie die Übersetzung in konkrete politische Entscheidungen
Kultur
Gründungsmentalität in Deutschland nachhaltig stärken
Es gilt, eine neue Gründungsdynamik in der deutschen Gesellschaft zu erzeugen. Langfristig ist dafür die Förderung von entrepreneurial education erforderlich, also eine Neuausrichtung der Bildung weg von der klassischen Wissensabfrage hin zum Erwerb von Kompetenzen wie Ideenkreation und -umsetzung. Ergänzt werden könnte das durch eine bundesweite Kampagne „Du kannst das“, die vermittelt, dass jede:r von uns mit eigenen Ideen die gesellschaftliche Wirklichkeit und Praxis verändern kann.
Handlungsempfehlungen für die aktuelle Bundesregierung
Missionsstrategie konkretisieren
Die Bundesregierung sollte die missionsorientierte Innovationspolitik, die im aktuellen Koalitionsvertrag angelegt ist, jetzt konsequent weiter ausbuchstabieren und Schwerpunkte setzen – beispielsweise mit dem konkreten Flagship-Projekt Kreislaufwirtschaft.
Sonderbeauftragte:n für Innovation einsetzen
Für die Ausarbeitung der Missionsstrategie sollte die Bundesregierung eine:n Sonderbeauftragte:n Innovation einsetzen. Der:die Sonderbeauftragte sollte im Bundeskanzleramt angesiedelt sein, um ressortübergreifend handeln zu können, und gemeinsam mit Berater:innen aus Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft die Missionsstrategie operationalisieren.
Bundesagentur für Sprunginnovation deutlich stärken
Es wird empfohlen, die Bundesagentur für Sprunginnovation (SPRIN-D) finanziell bis 2030 deutlich umfangreicher auszustatten. Mit dieser Stärkung müssen jedoch zwei neue Rahmensetzungen verknüpft werden: Erstens sollte die SPRIN-D sich konsequenter als bisher an den übergreifenden, von der Bundesregierung formulierten Missionen orientieren. Zweitens sollte sich die SPRIN-D vermehrt an techno-sozialen Innovationen ausrichten.
Vorgehen
Für die Studie wurden 16 semistrukturierte Interviews mit Expert:innen aus der deutschen Innovationslandschaft geführt, gute Praktiken der Innovationspolitik aus dem Ausland untersucht und einen Strategic Foresight Workshop mit Köpfen aus Verwaltung, Wissenschaft und Wirtschaft durchgeführt.
Medienecho zur Studie
„Mehr Niederlande wagen, liebe Ampel!“
Anke Hassel und Maik Bohne
Neue Impulse für die Innovationspolitik?
Manfred Ronzheimer
„Innovationen: Von Schweden, Finnland und UK lernen“
Caspar Dohmen
Autor:innen
Dr. Maik Bohne ist Policy ist Policy Fellow beim Progressiven Zentrum und beschäftigt sich als Politikwissenschaftler mit den gesellschaftlichen Gelingensbedingungen der gerechten Transformation. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Centrum für Umwelt- management, Energie und Ressourcen (CURE) an der Ruhr-Universität Bochum.
Prof. Dr. Anke Hassel ist Professorin für Public Policy an der Hertie School und Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats des Progressiven Zentrums. Ihre Forschungsschwerpunkte sind vergleichende Wirtschafts- und Sozialpolitik, Arbeitsmarktregulierung und die Analyse politischer Prozesse.
Dr. Daniela Blaschke ist Policy Fellow beim Progressiven Zentrum. Sie unterstützt das Forschungs- und Entwicklungsteam der Volkswagen Group Japan mit Analysen zum regulatorischen und gesellschaftspolitischen Kontext von Innovationen in Süd- und Ostasien und ist aktiv im Future Heads Netzwerk des Konzerns.
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