„Es wäre ein Fehler, wenn die SPD sich nicht weiter als Volkspartei versteht.“

Die Partei des Kanzlers liegt in den Umfragen weit hinter der Union. Worin die Gründe dafür liegen und was die SPD tun muss, um ihr Wählerpotential auszuschöpfen, haben wir mit der Demoskopin und Politikberaterin Jana Faus diskutiert.

Frau Faus, die SPD steht laut aktuellen Umfragen auf Bundesebene zwischen 18 und 21%. Das ist für eine Kanzlerpartei kein besonders gutes Ergebnis. Muss sich die Partei angesichts dieser Zahlen Sorgen machen?

Eines muss man dazu vorausschicken: Die Zeiten, in denen eine Partei auf Bundesebene 40% erreicht, sind vorbei. In einem ausdifferenzierten Parteiensystem und einer fragmentierten Gesellschaft wird das so schnell nicht wieder passieren. Hinzu kommt, dass die Sonntagsfrage inmitten der Legislaturperiode weniger über die Wahlabsichten der Bürger:innen als über ihre allgemeine Zufriedenheit mit der Bundesregierung und der Gesamtsituation aussagt. Ja, 20% sind kein berauschender Wert, aber die SPD muss sich deshalb aktuell vor dem Hintergrund, dass derzeit keine Wahlen anstehen, aus meiner Sicht keine grundsätzlichen Sorgen machen, Die Sonntagsfrage kann sich mit Blick auf eine bevorstehende Wahl auch recht schnell wieder ändern.  

Sind diese 20% also vor allem auf eine krisenbedingt negative Grundstimmung zurückzuführen oder liegt es auch daran, dass die Wähler:innen unzufrieden mit der SPD oder dem Bundeskanzler sind? 

Unsere qualitative Forschung zeigt, dass die Krisen – insbesondere das Überlappen von Krisen und die Erwartung der nächsten Krise – die Menschen sehr stark verunsichert. Die Unzufriedenheit mit der Gesamtsituation ist entsprechend groß und fußt vor allem auf Angst vor Krieg, Angst vor Inflation und Angst vor der Klimakrise. Aber die wenigsten können ganz konkret benennen, womit sie unzufrieden sind und wer dafür aus ihrer Sicht die Verantwortung trägt. Es herrscht also gewissermaßen eine diffuse Unzufriedenheit. Und das überträgt sich in eine Unzufriedenheit mit dem politischen Spitzenpersonal, insbesondere mit der Kanzlerpartei. Die schwachen Umfragewerte sind deshalb nicht unbedingt ein Ergebnis dessen, dass die SPD schlechte Politik gemacht hätte. Ich glaube eher, dass in dieser Situation jede Partei, die den Kanzler stellt, in den Umfragen schwächeln würde.

Wer sind diese 20%, die aktuell die SPD wählen würden? Ist das das Kernklientel der Partei?

So etwas wie ein Kernklientel gibt es in einer fragmentierten Parteienlandschaft kaum mehr. Schauen wir auf die letzten Wahlen auf Landes- und Bundesebene, sehen wir, dass Menschen viel flexibler sind in ihrer Wahlentscheidung und häufiger zwischen Parteien wechseln, als es früher der Fall war. Dennoch kann man diese 20% profilieren. Es handelt sich dabei um ein gesellschaftliches Milieus, das in der Mitte steht und sich in zwei Gruppen unterteilen lässt. Einerseits das progressivere Mitte-Links-Milieu, um das die SPD mit den Grünen konkurriert. Andererseits das traditionellere, konservative Milieu der Mitte, bei dem die CDU der größte Konkurrent ist. 

Welche Zielkonflikte ergeben sich aus dieser zweigeteilten Wählerschaft für die SPD? Oder anders gefragt: Wie kann die SPD gleichzeitig für diese beiden Gruppen Politik machen? 

Für die grundsätzliche Programmatik kann ich keinen Zielkonflikt erkennen. Viele Wähler:innen der SPD stellen sich auch gar nicht die Frage, ob die Partei Politik für sie macht. Ihnen ist wichtiger, dass die Politik der SPD gemeinwohlorientiert ist und der sozialen Gerechtigkeit in der Gesellschaft dient. Auch wenn sie selbst finanziell nicht davon profitieren. Blicken wir also auf diese beiden Gruppen, die aktuell die SPD wählen würden und wo auch das größte Mobilisierungspotential liegt, muss die SPD sicherlich in ihrer Ansprache und Kommunikation differenzieren. Sie muss sich aber inhaltlich nicht zerreißen.

Das klingt so, als sollte die SPD dem Selbstverständnis nach weiter wie eine Volkspartei agieren, die die Allgemeinheit und nicht bestimmte gesellschaftliche Gruppen im Blick hat. 

Unbedingt. Es wäre ein strategischer Fehler, die grundsätzliche Ausrichtung als Volkspartei aufzugeben. Obwohl oder gerade weil die Gesellschaft fragmentierter wird, wünschen sich die Menschen einen Zusammenhalt und eine Politik, die das große Ganze im Blick behält. Die Herausforderungen unserer Zeit sind viel zu umfassend, als dass man sich als Partei mit Führungsanspruch auf bestimmte Milieus beschränken könnte. Die SPD sollte weiter wie eine Volkspartei agieren. 

Nun liegt die SPD mit dem Gesamtpaket, das sie gerade anbietet, aber dennoch deutlich unter den Werten, die sie bei der Bundestagswahl erreicht hat. Sozialdemokraten in Portugal verfolgen erfolgreich einen links-progressiven Kurs, Sozialdemokraten in Dänemark blinken nach rechts. Welche Strategie würden Sie der SPD anraten? 

Die Forschung zeigt ganz klar, dass die Strategie einer stärker nach rechts tendierenden Sozialdemokratie nicht erfolgreich ist. Vereinfacht gesagt, verliert man dadurch links mehr, als man rechts gewinnen kann. Ein entsprechender Strategiewechsel wäre daher aus meiner Sicht ein großer Fehler. 

Was würden Sie stattdessen raten? 

Zunächst muss man sagen, dass die Strategie, den Begriff des Respekts anstatt den Begriff der sozialen Gerechtigkeit in den Mittelpunkt zu stellen, funktioniert hat. Das bestätigt auch unsere qualitative Forschung. Respekt verfängt viel mehr als die abstrakte Idee von sozialer Gerechtigkeit. Aber dieser Begriff muss nun natürlich auch politisch kontinuierlich mit Leben gefüllt werden, damit er nicht bedeutungsleer wird. 

Es gibt darüber hinaus aus meiner Sicht aber einen Punkt im Policy-Spektrum, der unterbesetzt ist und auf den sich die SPD fokussieren sollte. Denke ich an Klimapolitik, denke ich an die Grünen. Denke ich an Sozialpolitik, denke ich an die SPD. So weit, so klar. Aber die Verknüpfung von Klimaschutz und Sozialem – also die gerechte Ausgestaltung von Energiewende, Wärmewende, Mobilitätswende – da liegt ein riesiges Potenzial. Diese Leerstelle zu besetzen wäre der richtige Weg. In diesem Kontext werden Verteilungsfragen in Zukunft wieder wichtiger werden. Und hier braucht es eine Partei, die für einen sozialen Ausgleich sorgt. Das ist ein Pfad, den die SPD gehen könnte und mit Blick auf zukünftige Wählerpotenziale aus meiner Sicht gehen muss. 

Nun sind im Koalitionsvertrag genau diese Fragen nach Steuer- und Umverteilungspolitik ausgespart worden. Warum sollte es der SPD jetzt gelingen, mit einer ambitionierten Umverteilungspolitik durchzudringen? 

Der Koalitionsvertrag ist aufgrund der drastisch veränderten Weltlage und dem russischen Angriffskrieg in Teilen hinfällig. Vor diesem Hintergrund könnten Fragen der Verteilungsgerechtigkeit noch in der aktuellen Legislaturperiode eine größere Rolle spielen. Die SPD sollte deshalb schon jetzt programmatische Vorschläge entwickeln und in den politischen Raum bringen. Ich kann mir gut vorstellen, dass das Thema bei der nächsten Wahl eine größere Rolle spielt als bei der vergangenen. Insbesondere die drastische Vermögensungleichheit in Deutschland widerstrebt dem Gerechtigkeitssinn der Menschen quer durch die Bevölkerung. Es liegt für mich auf der Hand, dass hier ein großes Mobilisierungspotential liegt.

Wie ist es um das Mobilisierungspotential der SPD in der langen Frist bestellt? FDP und Grüne haben bei den jungen Wähler:innen bei der Bundestagswahl besonders gut abgeschnitten, die SPD unterdurchschnittlich. Hat die Partei ein Demografie-Problem? 

Ja, die SPD hat hier tatsächlich eine Schwäche. Weder mit ihrem Spitzenpersonal noch mit ihrer Themensetzung noch mit ihrer Kommunikation spricht die Partei junge Menschen gezielt an. Heute würde man sagen „Look and Feel“ passen nicht zu dem, was sich junge Menschen von Politik erhoffen. Da sind die Grünen und die FDP stärker. Noch schlägt sich das nicht so stark auf die Wahlergebnisse nieder, aber wenn die SPD die jungen Menschen langfristig nicht begeistern kann, wird das zum Problem. 

Zum Abschluss eine grundsätzliche Frage an Sie als Demoskopin. Schauen wir zu viel auf die Zahlen? In der so sensiblen Frage um Waffenlieferungen beispielsweise wechseln sich Zustimmung und Ablehnung immer wieder ab. Die einen sagen, der Kanzler mache es richtig, wenn er diese Werte in seiner Entscheidungsfindung berücksichtigt. Die anderen entgegnen, er müsse die Einstellungen in der Bevölkerung mit entschiedener Führung selber prägen. Welche Bedeutung sollte Politik Umfragen beimessen? 

Ich wäre da gerade bei so komplexen Fragen wie der nach Waffenlieferungen sehr vorsichtig. In Fokusgruppen sehen wir immer wieder: Die meisten Menschen können solche Fragen gar nicht sachlich beantworten. Das heißt nicht, dass ihre Einstellungen dazu nicht von Bedeutung sind. Aber ich würde jedem politischen Akteur davon abraten, große Entscheidungen auf der Basis von Umfrageergebnissen zu treffen. Politik muss wertegeleitet sein und – in Abstimmung mit den Partnern – eigenen Überzeugungen folgen. Umfragewerte sind dann hilfreich, wenn ich als Regierung eine bestimmte Position verfolgen möchte und mir die Zahlen zeigen, dass die Bevölkerung aktuell nicht mitgeht. Dann muss ich überlegen, woran das liegt und wie ich mittels Kommunikation Ängste nehmen und Überzeugungsarbeit leisten kann. 

Das Interview führte Paul Jürgensen.

Autor:innen

Jana Faus

Pollytix Strategic Research Gmbh
Jana Faus ist Gründerin, Gesellschafterin und Geschäftsführerin der Pollytix Strategic Research Gmbh, Autorin und Speakerin. Seit 2016 ist sie außerdem ehrenamtliche Vorsitzende von Artikel 1 – Initiative für Menschenwürde e.V., die sich auf vielfältige Weise für Demokratie und Menschenwürde einsetzt.

Paul Jürgensen

Senior Grundsatzreferent
Paul Jürgensen ist Senior Grundsatzreferent des Progressiven Zentrums. In dieser Funktion verantwortet er übergreifende Projekte in den Themenfeldern „Gerechte Transformation“ und „Progressives Regieren“.

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