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Ein Ankerpunkt des Erinnerns

Paulina Fröhlich über den Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus

Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee die Konzentrations- und Vernichtungslager in Ausschwitz. Heute begehen wir in Deutschland den Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus und den internationalen Shoa-Gedenktag. Welche Bedeutung hat dieses Gedenken für unsere Gegenwart? Für Paulina Fröhlich, Leiterin des Programmbereichs Zukunft der Demokratie, ist dieser Tag ein Anker- und Ausgangspunkt für eine Vielzahl kreativer Formen der Verarbeitung und Konfrontation.


Welche Bedeutung hat der heutige Gedenktag für Dich persönlich?

Zunächst bin ich froh, dass wir Menschen uns durch so etwas wie „Gedenktage“ Ankerpunkte des Erinnerns setzen. Das kollektive Innehalten und Hinweisen bündelt die Aufmerksamkeit auf wichtige historische, politische und kulturelle Ereignisse, darunter grausame und schöne.

Wenn diese Gedenktage jedes Jahr leicht unterschiedlich gestaltet werden z.B. wie im Deutschen Bundestag mit wechselnden RednerInnen, dann ist es keine mechanische Prozedur, die das tatsächliche Erinnern in eingeübten Programmpunkten erstickt, sondern jedes Jahr aufs Neue eine Konfrontation mit dem Geschehenen.

Mehr noch, die RednerInnen, die ich in den vergangenen Jahren hörte, bauten stets die Brücke für alle Zuhörenden ins Heute und manchmal sogar ins Morgen.

Ich bin besonders dankbar über die gesellschaftlich-kulturellen Formen der erinnerungspolitischen Verarbeitung.

Welche Rolle hat die Zivilgesellschaft für die Erinnerungskultur?

Neben diesem, wie ich finde, sehr wichtigen staatlichen Erinnern (bei dem dieses Jahr Charlotte Knobloch und Marina Weisband vor dem Bundestag sprachen), bin ich besonders dankbar über die gesellschaftlich-kulturellen Formen der erinnerungspolitischen Verarbeitung.

Theaterstücke, Tänze, Gemälde, Audio-Rundgänge, Demonstrationen, Banner, Filme, Apps oder Skulpturen – auf vielerlei Weise bemüht sich die organisierte Zivilgesellschaft Europas das Thema des Gedenkens aufzuarbeiten und darzustellen.

Der Gedenktag ist also zum einen ein ernstzunehmender staatlicher Akt der Aufmerksamkeit auf die Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee, auf sämtliche (!) Opfer des Nationalsozialismus und auf jene eingeladenen Stimmen, die uns in Erinnerung rufen, welche Lehren wir aus dieser grausamen Geschichte ziehen können und sollten.

Der Gedenktag ist außerdem ein Anker- und somit Ausgangspunkt für eine breite Palette an durchaus auch kreativen Formen der Verarbeitung und Konfrontation, die das ganze Jahr über stattfinden und als eine essentielle Form der politischen Bildung betrachtet werden können. 

Worin siehst Du den Zusammenhang zu unserer Gegenwart?

Ich denke, dass alles Gegenwärtige im Zusammenhang mit der Vergangenheit steht. Die Zeit des Nationalsozialismus war folgenreich für die ganze Welt, politisch im Sinne der Machtverhältnisse und individuell für Millionen von Familien. Traurige Zeugnisse von Antisemitismus, antimuslimischen oder antiasiatischen Rassismus zeigen sich leider auch aktuell. Auch das Muster des Mitläufertums oder die Anfälligkeit für Verschwörungsglauben sind erhebliche Probleme der Gegenwart. Menschenfeindliches Gedankengut hat in Deutschland mittlerweile eine politische Heimat und einen parlamentarischen Arm gefunden.

Ich werde nicht vergessen, wie ein Abgeordneter der sogenannten „Alternative für Deutschland“ 2018 bei der Gedenkfeier im Bundestag sitzen blieb, während alle anderen sich nach der Rede der Holocaust-Überlebenden Anita Lasker-Wallfisch erhoben. Ich vergesse ebenfalls nicht, wie Abgeordnete dieser Partei im Bayerischen Landtag 2019 den Saal während der laufenden Gedenkfeier im Januar verließen.

Warum darf die Gesellschaft ein solches Verhalten nicht ignorieren?

Ich kann mir kaum vorstellen, wie demütigend es sein muss als uralte Überlebende dieses unvergleichbaren, ideologischen Grauens vor demokratisch gewählten Abgeordneten zu sprechen, deren Programmatik und Gebaren meine Geschichte verhöhnen.

Sie sprechen vom „Volk“ und meinen nur einen bestimmten Teil der Gesellschaft. Diese und weitere Muster sind es, die ich unter anderem dank Gedenktagen, als gefährlich zu identifizieren weiß.

„Ebenso können wir jenen Minderheiten, die wenig teilhaben können oder Diskriminierung erfahren, Raum geben, zuhören, Fragen stellen und dazu beitragen, dass sie Sichtbarkeit, Sicherheit und Teilhabe erhalten, wie auch wir sie haben.“

Wir, die sowohl die RednerInnen verfolgen, als auch jene beobachten, die nicht klatschen, nicht aufstehen, sogar den Saal verlassen, wir müssen daraus Schlüsse ziehen und unseren Teil zu einem friedlichen, gesellschaftlichen Leben in der liberalen Demokratie beitragen.

Dazu kann gehören, dass man das vertrauliche Gespräch mit dem Bruder sucht, der die AfD wählen will und ihm deutlich macht, wem er da seine Stimme gibt. „Willst Du da wirklich dazu gehören?“.

Du siehst also eine Dringlichkeit, aus den Lehren der Geschichte heraus heute in Aktion zu treten. Was können wir sonst noch tun?

Wir sollten jenen Minderheiten in unserer Gesellschaft, die wenig teilhaben können oder Diskriminierung erfahren, Raum geben. Ihnen zuhören, Fragen stellen und dazu beitragen, dass sie Sichtbarkeit, Sicherheit und Teilhabe erhalten, wie auch wir sie haben.

Ein entscheidender Mechanismus der NS-Ideologie waren Verschwörungsmythen und Propaganda. Mit Wissenschaft, Bildung, Recht und auch Technologie sollten wir alles daran setzen, dass wir widerstandsfähiger gegenüber jenen giftigen Konstrukten werden.

Autorinnen

Paulina Fröhlich

Stellvertretende Geschäftsführerin und Leiterin | Resiliente Demokratie
Paulina Fröhlich ist stellvertretende Geschäftsführerin und verantwortet den Schwerpunkt „Resiliente Demokratie“ des Berliner Think Tanks Das Progressive Zentrum. Dort entwirft sie Dialog- und Diskursräume, leitet die europäische Demokratiekonferenz „Innocracy“ und ist Co-Autorin von Studien und Discussion Papers.
Annika Hoffmann war ab Januar 2021 Assistentin im Kommunikationsteam. Nach ihrem Dualen Studium an der TH Köln führte sie ihre Leidenschaft für Journalismus und Hörfunk nach Brüssel - zum Master in Communication Sciences an der Vrije Universiteit Brussel mit Fokus auf 'Journalism and Media in Europe'. Hier begeisterte sie sich für Kommunikationswissenschaft und Diskursforschung. Auch in Zukunft möchte sie ihre Interessen in Politik, ideologischer Kommunikation und die Zukunft der liberalen Demokratie, weiter verfolgen und den Schwerpunkt Diskurs und Ideologie rechter und populistischer Akteure, vertiefen. Privat engagiert sie sich ehrenamtlich beim grassroots Think Tank Club Alpbach Belgium Brussels (Teil des Forum Alpbach Network) als Scholarship Coordinator und Vorstandsmitglied.

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