Logo "Die Progressive Lage", Replik, Foto Karl Adam.

Die Union ist längst keine Brandmauer mehr

In der aktuellen Ausgabe von Die Progressive Lage schreibt unsere Kolumnistin Anke Hassel, je härter Progressive jetzt gegen die Union polemisierten, desto wackeliger werde die Brandmauer in der Zukunft. Ihr Co-Kolumnist Karl Adam widerspricht entschieden. Eine Replik.

Es ist nun zwei Wochen her, da gelangten CDU/CSU und FDP im Deutschen Bundestag erstmals zu einer Parlamentsmehrheit mit den Stimmen der AfD. Die Freude in den Reihen der feixenden Rechtsextremisten kannte keine Grenzen: „Jetzt und hier beginnt eine neue Epoche. Jetzt beginnt etwas Neues!“, erklärte AfD-Fraktionsgeschäftsführer Bernd Baumann.

Noch am Mittag hatte der Deutsche Bundestag im Rahmen des Auschwitz-Gedenktages den Mahnungen des Holocaust-Überlebenden Roman Schwarzman gelauscht, dann, wenige Stunden später, führte die Fraktion des CDU-Parteivorsitzenden und Unions-Kanzlerkandidaten Friedrich Merz mutwillig, und entgegen allen Warnungen, jene Abstimmung über eine Absichtserklärung zu einem Fünf-Punkte-Migrationsplan herbei, die zum Fanal in der Geschichte der Bundesrepublik werden sollte.

Meine geschätzte Mit-Kolumnistin bei der Progressiven Lage, Anke Hassel, beleuchtet in ihrer aktuellen Kolumne die Folgen dieser Abstimmung, vergleicht die Situation mit Österreich und gibt Hinweise, was jetzt zu tun sei. Ihr Text ist überschrieben mit dem Apodiktum „Die Union bleibt die Brandmauer“. Nach dem Tabubruch im Bundestag sei es nun erste Progressivenpflicht, die Union nicht zu sehr zu kritisieren: „Je härter sie jetzt gegen die Union polemisieren, desto wackeliger wird die Brandmauer in der Zukunft.“

Ich möchte hier gerne eine Gegenposition formulieren: Die Union ist längst keine Brandmauer mehr.

Brandmauer – ursprünglich die AfD-interne Abgrenzung gegen Neofaschisten

Selbst wenn wir zugestehen wollten, dass rechts der Union (oder in ihren rechten Außenbereichen) eine Brandmauer verläuft, dann hat diese Mauer bereits einen gewissen Weg in Richtung Mitte hinter sich. Denn ursprünglich verlief diese Mauer einmal mitten durch die AfD. Zu Zeiten des Parteigründers Bernd Lucke, als noch Wirtschaftsprofessoren gegen den Euro kämpften, und gar nicht merkten, welches „Monster“ (Hans-Olaf Henkel) sie dabei erschufen, wurde die viel zitierte Brandmauer verstanden als innerparteiliche Abgrenzung gegen jene „Neofaschisten“, die mittlerweile die gesamte Partei gekapert haben.

Nachdem also nun die gesamte AfD hinter der Mauer verschwunden ist, erscheint die Union als letzte Bastion. Doch wie stabil sind die entsprechenden Abwehrmechanismen noch? Es war der ehemalige SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert, der der Unions-Fraktion am letzten Sitzungstag des aktuellen Bundestags entgegenrief, er glaube ihnen zwar, dass sie mit den Rechtsextremisten nichts gemein hätten, dass sie aber zusehends auf das „Ringen“ mit ihnen verzichteten. In der Merz-Zeit gelte vielmehr das Motto „Opportunität sticht Integrität“. Man schaue dem Volk nicht mehr nur „auf’s Maul“, sondern man rede ihm „nach dem Mund“. So aber verkommt Politik zur bloßen „Echokammer“, die demokratische Führung vermissen lässt und bewährte Mechanismen des Parlamentarismus zugunsten plebiszitärer Stimmungen aufgibt.

Untrennbar: Gesetzgebungsmehrheiten sind potenzielle Regierungsmehrheiten

Jenseits dieser formellen Deutungen, die die Angesprochenen locker abtun mögen, hat der Sündenfall vom 29. Januar 2025, denn um einen solchen handelt es sich zweifelsohne, direkte Auswirkungen auf die politische Kultur dieses Landes. Rechtsextreme Stimmen sind ab jetzt legitimer Teil des politischen Systems. Was nach 1945 nie wieder parlamentarische Repräsentanz finden sollte, darf jetzt wieder genutzt werden, wenn es gerade opportun erscheint. In einigen ostdeutschen Landtagen war das bereits zuvor gang und gäbe. Jetzt aber wird es in sämtlichen Landesparlamenten, in den Kreistagen, in Stadträten und Bezirksversammlungen von Norden bis Süden, von Osten bis Westen keinen Grund mehr geben, die AfD-Stimmen, wenn sie denn da sind, verschämt auszuschlagen. Friedrich Merz hat es vorgemacht.

Wenn da also noch eine Mauer ist, dann ist sie zumindest ziemlich porös geworden.

Es fällt jedoch zuweilen schwer, landläufig zu erklären, was eigentlich das Problem an diesen Abstimmungen ist. Wenn die AfD einen Antrag für mehr Kitas einbringt, soll man dann „nur“ dagegen stimmen, weil er von Rechtsextremen verfasst wurde? Ist das Richtige falsch, nur weil die Falschen zustimmen? Der Politikwissenschaftler Oliver Weber hat jüngst in einem lesenswerten Text erklärt, welche Folgen der Merz’sche Irrweg hat:

„Wer seine gesetzgeberischen Ambitionen mit den Stimmen einer spezifischen Mehrheit durchsetzen kann, ist auch dazu aufgefordert, mit dieser Mehrheit ein Kabinett zu stellen, das die gemeinsam gefassten Beschlüsse getreu in die Tat umsetzt. Dieser Logik glaubt die Union sich entziehen zu können, indem sie Gesetzgebung und Regierungsbeteiligung rhetorisch voneinander trennt. Damit entzweit sie künstlich, was sich politisch eigentlich bedingt. Gesetzgebungsmehrheiten sind potenzielle Regierungsmehrheiten.“

Position der Wirtschaft kann sich schnell ändern

Was aber bedeutet das für die Zukunft?

„Schwer vorstellbar“, so Weber weiter, „dass die Unionsfraktion in der nächsten Legislatur einerseits weiterhin Beschlüsse erwirkt, wonach die Grenzen unverzüglich geschlossen werden müssten – und andererseits eine Regierung stützt, die diese Beschlüsse nicht vollziehen will.“

Es ist also sachlogisch begründet, und keineswegs reine Polemik, wenn (nicht nur) auf progressiver Seite gewisse Ängste bestehen, dass hier ein Pfad eingeschlagen wurde, an dessen Ende durchaus eine österreichische Entwicklung stehen könnte: Das Bündnis von Mitte-Rechts und Rechtsextrem. Es muss ja nicht Merz sein, der es schließt. Ihm käme dann die Rolle des Karl Nehammer zu, des ehemaligen österreichischen Bundeskanzlers, der diese Entwicklung nicht mitgehen wollte. Nehmen wir an, Koalitionsverhandlungen der Union mit anderen Mitte-Parteien scheitern an diesen oder jenen Gründen. Oder nehmen wir an eine potenzielle neue Koalition aus mehreren Partnern ist erneut konfliktanfällig und schnell unbeliebt – was dann? Neuwahlen und eine erneut gestärkte AfD? Wie stabil ist die Brandmauer dann? Es ist dabei auch kein Trost, dass die deutsche Wirtschaft sich nicht zuletzt aufgrund ihrer starken Exportabhängigkeit jetzt noch klar gegen die AfD positioniert. Diese Dinge können sich schnell ändern, wie man an der Wendehalsigkeit erkennt, mit der zum Beispiel die Tech-Konzerne in den USA einer nach dem anderen in Richtung Trump umfallen.

Ein deutscher Bundeskanzler ist kein amerikanischer Präsident

Nun sind Recht haben und Recht bekommen unterschiedliche Dinge. Welche Folgen ergeben sich aus diesen Befunden für das weitere politische Vorgehen?

Progressive sollten, so Hassel, „der Versuchung widerstehen, die Union zu verteufeln und sie mit der AfD gleichzusetzen“. Während eine Gleichsetzung in der Tat Quatsch wäre, ist der undurchdachte Aktionismus der Merz-CDU dennoch mindestens hart zu kritisieren. Mit der Trump-haften Pose desjenigen, der „am ersten Tag“ Dinge „anordnet“ werden Erwartungen geweckt, die in einem funktionierenden Parlamentarismus gar nicht erfüllt werden können. Ein deutscher Bundeskanzler ist kein amerikanischer Präsident. Die Richtlinienkompetenz zu nutzen ist das letzte Mittel, nicht das erstbeste Vorgehen.Wer das Buch „Wie Demokratien sterben“ (2018) der US-Politikwissenschaftler Steven Levitsky und Daniel Ziblatt gelesen hat, den wird es nicht überraschen, dass die bloße Möglichkeit einer Zusammenarbeit von Mitte-Rechts und Rechtsextremen ernsthafte Sorgen bereitet. Das sollte insbesondere den Mitte-Rechts-Parteien selbst so ergehen, sind doch in der Regel sie es, deren Untergang damit als erstes besiegelt wird. Levitsky und Ziblatt beschreiben in ihrer Studie den Irrglauben der Etablierten in Geschichte und Gegenwart, sich mit den „Außenseitern“ arrangieren zu können. Berüchtigt ist das Diktum des ehemaligen Reichskanzlers von Papen: „In zwei Monaten haben wir Hitler in die Ecke gedrückt, dass es quietscht.“ Es handelt sich um eines der fatalsten Fehlurteile der Weltgeschichte. Doch was stattdessen tun? Gibt es Beispiele erfolgreicher Abwehr? Die Autoren nennen Belgien und Finnland vor dem Zweiten Weltkrieg, wo die autoritäre Revolte durch ein konsequentes Zusammenstehen der etablierten Kräfte verhindert werden konnte.

Es braucht die Kritik – und zwar deutlich und entschieden

Die radikalen Kräfte bekommen in der Regel keine eigene Mehrheit und sind dringend auf „Steigbügelhalter“, in der Regel also die Mitte-Rechts-Partei, angewiesen. Hier ist das Einfallstor, hier ist die Sollbruchstelle, hier muss die Brandmauer stehen. Nun könnte man argumentieren, dass man die Union vor diesem Hintergrund nicht auch noch in diese Rolle „hineinreden“ sollte. Hassel spricht von einem „Balanceakt“, den es zu bewältigen gäbe. Doch muss die Kritik an einer wenn auch informellen Zusammenarbeit mit der AfD deutlich und entschieden vorgetragen werden: Kevin Kühnert hat vorgemacht, wie das aussehen kann. Auch die Worte von Michel Friedmann, der in der Folge aus der CDU ausgetreten ist, sollte niemanden in der Union ungerührt lassen. Dass Friedrich Merz dazu nichts anderes einfiel, als auf Neueinritte zu verweisen, ist beschämend. 

Angela Merkels Zwischenruf war ebenfalls kein Ausweis eitlen Nachtretens, wie es ihr verschiedentlich angedichtet wurde, sondern eine Warnung vor der Zusammenarbeit mit Rechtsextremisten in der Tradition ihres „Zwischenrufs“ aus Südafrika 2020 nach dem damaligen Sündenfall von Thüringen – der, nebenbei bemerkt, das Geschehen im Bundestag in eine unheilvolle Entwicklung einreiht. Seinerzeit hatte man im Thüringer Landtag mit der Höcke-AfD gemeinsame Sache gemacht. Der Philosoph Jürgen Habermas wollte im Merkel’schen Ordnungsruf damals bereits eine Art endgültiger Klärung erblickt haben; vorschnell, wie sich jetzt herausgestellt hat. Wie ergeht es wohl der liberalen Unionsanhängerschaft heute, wenn die ehemalige Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) erklärt, „Ich ertrage diese Nähe zur AfD nicht“? Das ist keine Verteufelung, keine Gleichsetzung, sondern ehrliche Besorgnis.

Man verliert in der Mitte mehr, als man rechts zu gewinnen hofft

Dabei muss man die Union ja teilweise vor sich selbst warnen. Denn gibt es irgendwelche Anzeichen dafür, dass der Rechtskurs, der auf AfD-Themen setzt, erfolgreich ist? Im Gegenteil wurde doch mittlerweile mehrfach nachgewiesen, dass die Leute dann eher „das Original“ wählen, was einerseits längst zum Klischee geworden ist, andererseits aber erstaunlich selten befolgt wird. „Wir haben festgestellt, dass man in der Mitte mehr verliert, als man rechts zu gewinnen hofft“, erklärte Markus Söder (CSU) 2020 in Hinsicht auf die Verluste seiner Partei bei der Landtagswahl 2018; eine Weisheit, die er mittlerweile anscheinend wieder vergessen hat.

Und was ist mit der Mahnung, die der verstorbene Wolfgang Schäuble seinen Nachfolgern ins Stammbuch geschrieben hat?

„Neben stärkeren Anstrengungen gegen die existentiellen ökologischen Bedrohungen bleiben die globalen Migrationsbewegungen mit ihren Auswirkungen auf die Stabilität unserer Ordnung eines der zentralen Zukunftsprobleme. Dabei stehen wir weiter vor dem Dilemma, der Bevölkerung einerseits zu vermitteln, dass sich die Politik dem gewaltigen Problem der Migration annimmt, und gleichzeitig Stimmungen nicht aufzuheizen, sondern deeskalierend zu wirken. Wie gut uns diese Gratwanderung gelingt, ist von entscheidender Bedeutung für das gesellschaftliche Klima. Deshalb kann ich meiner Partei nur raten, nicht die gleichen Fehler wie in der Vergangenheit zu machen. Der verantwortliche Umgang mit dieser hochsensiblen Aufgabe verlangt auch weiterhin Härte und Herz.“

Wächterfunktion nicht auf dem Altar taktischer Harmonie vernachlässigen

Das alles sind Stimmen aus dem liberalkonservativen bis konservativen Lager. Es ist schwer vorstellbar, dass Progressive aus taktischen Gründen dahinter zurückbleiben und sich „zurückhalten“, wenn es um die Thematisierung von Fragen geht, die für unsere Demokratie derart gewichtig sind.

Insgesamt gibt es eine Tendenz, jetzt im Gegenteil der Rest-Ampel, also Rot-Grün, die Schuld in die Schuhe zu schieben, da sie ja dem Unions-Antrag nicht einfach zugestimmt haben – ein durchsichtiger Versuch des Ablenkens vom eigenen Versagen. Dem progressiven Lager kommt angesichts der oben beschriebenen historischen Gemengelage eine Wächterfunktion zu, die es nicht auf dem Altar taktischer Harmonie vernachlässigen darf.

Es muss zwar in der Tat jetzt darum gehen, Mehrheiten in der Mitte zu schmieden, die das Land voranbringen und die liberale Demokratie wirksam verteidigen. Aber gerade deshalb muss gelten: Keine Koalition ohne intakte Brandmauer. Das gilt für das ganze Land, für jedes Parlament, jede Vertretung. Wenn dies mit Friedrich Merz nicht zu machen ist, dann kann von keinem progressiven Abgeordneten verlangt werden, dass er oder sie ihn zum deutschen Bundeskanzler wählt. Wenn es wirklich um „nicht weniger als unsere Demokratie“ geht, wie Hassel schreibt, dann darf kein einziger Schritt mehr auf dem Weg gegangen werden, der vom Februar 2020 in Thüringen zum Januar 2025 im Deutschen Bundestag führte.

Autor

Karl Adam

Freier Redakteur
Karl Adam schreibt für das Progressive Zentrum als Freier Redakteur. Er ist selbstständiger Projektmanager und bloggt regelmäßig zu Politik und Zeitgeschehen auf ImGegenlicht.com.

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