Die doppelte Herausforderung: Sozial- und Arbeitspolitik in Zeiten von Krisen und Transformation 

Die Transformation von Gesellschaft und Wirtschaft hin zur Klimaneutralität wird nur gelingen, wenn die breite Bevölkerung bereit sein wird, diese immense Anstrengung zur Veränderung mitzutragen. Die breite Bevölkerung – das schließt Millionen Menschen in Deutschland ein, die mit geringen Einkommen auskommen oder sogar jenseits der Armutsgrenze leben müssen. Die ohnehin angespannte Lage in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik wird durch aktuelle Krisen deutlich verschärft. Die deutsche Arbeits- und Sozialpolitik steht vor einer doppelten Herausforderung.

Wo stehen wir heute? Die deutsche Gesellschaft ist mit den stärksten Reallohneinbrüchen seit 50 Jahren konfrontiert. Der Wohlstand ist zwar insgesamt gewachsen, doch die untere Hälfte der Lohnverteilung nimmt daran nicht teil. Die Schere zwischen Arm und Reich wächst hierzulande stetig und die Ungleichheit in den Einkommen ist über dem europäischen Durchschnitt. Der deutsche Arbeitsmarkt weist mit rund 45 Millionen Beschäftigten zwar den größten Beschäftigungsstand in Europa auf. Doch er hat auch einen der größten Niedriglohnsektoren des Kontinents. Die Spielräume, diese seit Jahren anhaltende Entwicklung zu stoppen, sind durch die Folgen der Pandemie und des Krieges in der Ukraine deutlich geschrumpft. Gleichzeitig ist ein Ausgleich dringender denn je, wenn die ökologische Transformation gelingen soll. Die Verknappung von Ressourcen, insbesondere die Verknappung von Energie, hat die Fliehkräfte in der Arbeits- und Sozialpolitik stark zunehmen lassen. 

Wie will die Gesellschaft damit umgehen? Wie denken wir über die Umverteilung vor dem Hintergrund von Knappheit nach? Wie kann eine Entlastung aussehen, die auch den Anreiz setzt, Energie zu sparen? Wie schaffen wir vor dem Hintergrund dieser Situation Teilhabe für möglichst breite Bevölkerungsschichten? 

Jüngst hat die Bundesregierung mit dem Gaspreisdeckel ein Entlastungspaket von historischen Ausmaßen beschlossen. Bis zu 200 Milliarden Euro sollen in einem Sondervermögen mobilisiert werden, um die Gasrechnung für einen noch zu bestimmenden Bedarf niedrig zu halten. Das wird zweifelsohne zu einer enormen Entlastung führen. Kritiker:innen führen jedoch zwei Punkte an: Zum einen werden Sparanreize reduziert – und das, obwohl angesichts der Angebotsknappheit dringend die Gasnachfrage reduziert werden muss. Zum anderen werden gutverdienende Haushalte ebenso entlastet wie solche mit niedrigen Einkommen. Deutschland mobilisiert hier eine gewaltige Summe, die künftig bei anderen Vorhaben fehlen könnte.

Es ist derzeit noch nicht klar, wie genau für die Gruppe der niedrigsten Einkommen dauerhaft soziale Sicherheit hergestellt werden kann. Mit dem Bürgergeld und den damit verbundenen, angepassten Regelsätzen, sieht die Bundesregierung mindestens einen Schritt in die richtige Richtung eingelöst. Kritiker:innen führen jedoch an, dass das weiterhin nicht ausreichend ist. Aus Regierungssicht stellt sich mit Blick auf die begrenzten Mittel wiederum grundlegend die Frage, wie groß der Anteil an den sozialen Herausforderungen ist, der mit Transferleistungen abgefedert werden kann. 

Es wird auch Verlierer:innen geben – wie fangen wir sie auf?

Zudem muss die soziale mit der ökologischen Komponente kombiniert werden: Wie können die richtigen Anreize gesetzt werden? Wie können sich etwa auch untere Einkommensschichten energiesparende Geräte leisten? In diesem Zusammenhang muss bedacht werden, dass die derzeitigen Preise für viele Güter fragwürdig sind, da sie Externalitäten nicht berücksichtigen, die allerdings nicht ignoriert werden dürfen, wenn sich die Gesellschaft entscheidet, nachhaltig und sozial bewusst zu leben. Der Preis für Gas etwa hat die sicherheitspolitische Externalität nicht eingepreist. Der Preis für CO2 hat die klimapolitische Externalität nicht eingepreist. Viele unserer Preise haben die Externalität schlecht bezahlter Arbeit und schlechter Arbeitsbedingungen nicht eingepreist. Unklar ist, wie die Berücksichtigung dieser Externalitäten in den Ausgaben – auch und besonders einkommensschwacher Haushalte – akzeptabel abgebildet werden kann. 

Von dieser Frage hängt jedoch extrem viel ab. Denn wenn wir die jetzige Krise auch mit Blick auf das Entlastungspaket nicht meistern, dann gelingt uns der strukturelle Wandel nicht, denn dann gibt es keine gesellschaftliche Zustimmung zu den großen gesellschaftlichen Veränderungen. Es gilt jetzt, Sicherheit zu schaffen. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, zwischen Kurzfristigkeit und Mittelfristigkeit zu unterscheiden und einen (möglichen) Zielkonflikt zu adressieren. Im Ideal wirken die kurzfristigen Maßnahmen des Entlastungspaketes so, dass sie in ihrer Wirkung den mittel- und langfristigen Weg zur gerechten und ökologischen Transformation direkt mitdenken. Zur Finanzierung der sozial-ökologischen Transformation müssen wir uns als Gesellschaft klar machen, dass das Geld endlich ist – daher ist es wichtig, dass konsumtive Ausgaben nicht auf Kosten von Investitionen gehen.  

Dass die jetzige Krise die Gesellschaft in Gewinner:innen und Verlierer:innen spalten wird, ist kaum verhinderbar. Wichtiger ist eher: Wie wirken wir der Polarisierung entgegen? Die bevorstehende Transformation wird auch Verlierer:innen produzieren und hierfür braucht es Antworten. Starke Arbeitsmarktinstitutionen aufzubauen, die die Schaffung guter Arbeitsplätze fördern, könnte eine Antwort sein. 

Arbeitsmarktinstitutionen (wie moderate Mindestlöhne und starke Tarifbindungen) können eine doppelte Dividende für die Gesellschaft haben: Sie führen einerseits zu weniger ungleich verteilten Löhnen. Andererseits können sich produktivitätssteigernde Effekte ergeben, wie wir es beispielsweise bei/seit der Einführung des Mindestlohns in Deutschland gesehen haben.

Antworten liegen auch in einer neuen Industriepolitik

Darüber hinaus bestimmen Arbeitsmarktinstitutionen die Richtung von Innovation und technischem Fortschritt – und sie sind damit ein wichtiger Baustein, um die gerechte Transformation zu ermöglichen. Allein die Verlierer:innen mit Umverteilungsmaßnahmen zu kompensieren, greift zu kurz – wir brauchen mehr Anstrengungen für gute Beschäftigung und höhere Löhne für weite Teile der Beschäftigten. Es muss aber auch Antworten geben für den Fall, dass Arbeitsmarktinstitutionen, wie z. B. der Mindestlohn, den Zugang zum Arbeitsmarkt für benachteiligte Gruppen (insbesondere für Geflüchtete) verhindern und so ein Hemmnis für eine erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt darstellen. 

Darüber hinaus sind Tarifbindung sowie betriebliche Mitbestimmung nicht nur ein Credo der Sozialen Marktwirtschaft, sie sind vielmehr ein öffentliches Gut: Sie schaffen mehr öffentliche Einnahmen, argumentieren Gewerkschaften. Eine Erhöhung der Tarifbindung auf 70 Prozent könne demnach bis zu 25 Milliarden Euro Mehreinnahmen für die Sozialkassen bedeuten. Angeführt wird außerdem, dass sie das soziale Netz unserer Gesellschaft stärken und dafür sorgen, dass für Unternehmen ein faires  ”level-playing-field” geschaffen werden kann. 

Die sozial-ökologische Transformation erfordert aber auch eine neue deutsche und zugleich europäische Industriepolitik. Eine unter den aktuell schwierigen Bedingungen nachhaltige Arbeits- und Sozialpolitik muss auch eine Antwort auf die Frage liefern, welche Industrien sich der Standort Deutschland unter den Vorzeichen der Transformation noch leisten kann, und welche nicht. Daran schließen sich Fragen an, auf die die Politik dringend Antworten finden muss. Etwa, wie der Zielkonflikt zwischen Förderung klimaneutraler sowie zukunftsfähiger Unternehmen auf der einen Seite und der Beschäftigungssicherheit auf der anderen Seite, gelöst werden kann.

Auf unserem politischen Symposium „Fortschritt aus der Krise“ diskutierten Expert:innen in drei Fachgruppen. Dieser Text entstand auf Grundlage der in Fachgruppe 2 geführten Diskussion mit dem Titel: „Soziale Gerechtigkeit“: Entlastungen und sozialstaatliche Struktur-
reformen unter Bedingungen der Inflation und der klimapolitischen Ziele
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