Die Älteren unter uns haben in den vergangenen Wochen häufiger ein Gefühl von Déjà-vu. Die Debatte über den Standort Deutschland ähnelt der von vor zwanzig Jahren, als am Ende der ersten Legislaturperiode der rot-grünen Bundesregierung Deutschland von schlechten Wirtschaftsdaten erschüttert wurde.
Die damalige Wirtschaftskrise resultierte aus einer schwachen ökonomischen Entwicklung als Folge der hohen Kosten der deutschen Einheit in den 90er Jahren kombiniert mit dem Zusammenbruch des kurzen Booms der New Economy der Jahrtausendwende. Zwischen 1998 und 2005 wuchs die deutsche Wirtschaft nur um 1,2 Prozent jährlich; die Arbeitslosigkeit betrug 10 Prozent und das Haushaltsdefizit verstieß gegen die europäischen Vorgaben des Stabilitäts- und Wachstumspakts. Deutschland war der kranke Mann Europas.
Heute geht es der deutschen Wirtschaft wieder schlecht; zwischen 2019 und 2024 ist sie um weniger als 1 Prozent gewachsen – im Vergleich zu mehr als 10 Prozent Wachstum in den USA. Die anhaltend hohen Energiepreise und die neuen Wettbewerbsbedingungen im Handel mit China und den USA bringen die Wirtschaft zum Stillstand. Dazu kommen verschleppte Strukturprobleme aus 16 Jahren Regierung Merkel.
Kapital für Investitionen mobilisieren – und richtig einsetzen
Spätestens nach den beiden Wirtschaftsgipfeln vom 29. Oktober mit der Großindustrie und dem Mittelstand ist klar: Die Agenda 2030 wird kommen. Aber woraus bestünde eine progressive Agenda 2030? Sie wäre und müsste ein Dreiklang aus Investitionen, Bürokratieabbau und Modernisierung sein – ein Dreiklang, der bereits bei der Gründung der Fortschrittskoalition Pate stand und bis heute nichts von seiner Bedeutung verloren hat.
Auf das Thema Investitionen können sich Progressive – und Unternehmen – schnell einigen. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) hat den Investitionsbedarf auf 400 Milliarden Euro über zehn Jahre beziffert. Die Frage ist hier, wie sich genügend öffentliches und privates Kapital mobilisieren lässt.
Dabei sollte berücksichtigt werden, dass die Bundesregierung in den vergangenen zwei Jahren bereits hohe Summen zur Stabilisierung der deutschen Wirtschaft ausgegeben hat. Dazu gehören auch die Gaspreisbremse und andere Maßnahmen zur Entlastung der Industrie. Im Klima- und Transformationsfond (KTF) sind für 2025 25 Milliarden Euro eingeplant. Die Investitionshilfe für Intel beläuft sich auf knapp 10 Milliarden Euro. Mit Blick auf diese Zahlen wird deutlich, dass sich Mittel für Investitionen auch bereits jetzt mobilisieren lassen – aber auch sinnvoll eingesetzt werden müssen. Dennoch wird man auch um die Flexibilisierung der Schuldenbremse nicht umhinkommen.
Umstellung vom Berichts- auf das Ergebnisprinzip
Endlich als ein Kernthema erkannt, wird jetzt die Entbürokratisierung. Man muss nicht gleich das Lieferkettengesetz wegbolzen, wie Robert Habeck fordert. Man kann aber bestehende Regulierungen von einem Berichtsprinzip auf ein Ergebnisprinzip umstellen. Kein Bericht über Inspektionen von Zulieferern allein wird Lieferketten verändern. Für Unternehmen ist es besser, in die Umstellung der Lieferkette zu investieren als in Papier. Unternehmen beschweren sich zu Recht über eine überbordende Berichtspflicht.
Eine maßlose Bürokratie umfasst mittlerweile alle Lebensbereiche. Als meine Tochter im Frühjahr arbeitslos wurde und Arbeitslosengeld beantragte, musste sie bei ihren früheren Arbeitgebern eine Bescheinigung über ihr Arbeitseinkommen beantragen. Auf dem Formular standen mehr als 100 Fragen. Als ein früherer Arbeitgeber, ein großer amerikanischer Konzern, weder schriftlich noch telefonisch auf ihre Anfrage antwortete, schickte die Arbeitsagentur einen Bescheid mit der Drohung, ihr das Arbeitslosengeld aufgrund fehlender Mitwirkung zu versagen. Dabei wusste die Arbeitsagentur auch ohne den Beleg des früheren amerikanischen Arbeitgebers sehr genau, wie hoch ihr Gehalt war, aus dem dann das Arbeitslosengeld berechnet wurde.
Ein anderes Beispiel: Ich selbst muss regelmäßig Formulare mit Arbeitszeiten für Projekte ausfüllen, die nichts mit meinem Arbeitsaufwand zu tun haben, aber in meiner Hochschule gleich mehrere Menschen dauerhaft beschäftigen. Wenn die Ampel gewollt hätte, hätte sie im Rahmen ihrer Gipfel gemeinsam mit Zivilgesellschaft, Unternehmen und Behörden die wichtigsten Sofortmaßnahmen zur Entbürokratisierung definieren können.
Digitalisierung der Verwaltung bis Umbau des Sozialstaates
Und schließlich muss die Modernisierung des Standorts Deutschland in Angriff genommen werden. Die fehlende Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung ist dabei eine Binsenweisheit. Zur Modernisierung gehört aber auch der Umbau des Sozialstaats. Der Bundeshaushalt wird am Ende des Jahres 2024 110 Milliarden Euro als Leistung an die gesetzliche Rentenversicherung gezahlt haben. Das ist fast ein Drittel des Bundeshaushalts. Vor der deutschen Einheit in den 1980er Jahren lag der Anteil noch bei 15 Prozent. Es war gut und richtig, die ostdeutschen Renten aus dem Bundeshaushalt zu finanzieren. Nach 35 Jahren gibt es aber nur noch wenige Menschen, die jetzt in Rente sind und nicht in die gesetzliche Rentenversicherung eingezahlt haben.
Eine vernünftige kapitalgedeckte Säule in der Rente wäre ein wichtiges Instrument, um Freiräume im Bundeshaushalt auch für Investitionen und Infrastruktur zu schaffen. Das Generationenkapital von Finanzminister Lindner geht in die richtige Richtung, ist aber bei weitem nicht umfassend genug. Man sollte eine private Vorsorge – die die jüngere Generation im Übrigen sowieso schon betreibt – besser fördern und organisieren. Über eine kapitalgedeckte Säule in der Rente könnte zudem auch Unternehmen eine bessere Finanzierung von Investitionen zur Verfügung gestellt werden.
Es knirscht – erneut – im Fiskalföderalismus
Eine Agenda 2030 wird kommen, das scheint mit Blick auf eine weitere und vielleicht die wichtigste Parallele zum Jahr 2003 sicher: die dramatische Lage der Kommunen. Bereits damals war es ein zentrales Anliegen der Hartz-IV-Gesetze, den desolaten Kommunen finanziell unter die Arme zu greifen. Das Knirschen im Fiskalföderalismus gab den Ausschlag für die Reformen der Agenda 2010. Die kommunalen Spitzenverbände gehen in diesem Jahr von einem Rekorddefizit ihrer Haushalte von mehr als 13 Milliarden Euro aus.
Daraus wird sich im Wahljahr 2025 eine politische Dynamik entwickeln, die alle drei Themen – Investitionen, Entbürokratisierung und Modernisierung – in den Mittelpunkt der Debatten zwingt. Schon heute sind die Ministerpräsidenten der CDU-geführten Länder für eine Lockerung der Schuldenbremse. Die Kommunen und Landkreise schreiben regelmäßig Brandbriefe nach Berlin. Wahlen werden lokal entschieden. Kommunen brauchen Investitionen, weniger Bürokratie und einen modernen Staat. Die progressiven Kräfte in der Ampel sollten anfangen, sich mit einer breiteren Reformagenda zu beschäftigen, die alle drei Themen miteinander verknüpft.