Der Griechenland-Korrespondent des SPIEGEL, Manfred Ertel, begleitete die Athen-Reise des Staatsministers und besuchte dabei unser erstes Town Hall Meeting des „Dialogue on Europe“. Hier schildert er seine persönlichen Eindrücke und Einschätzungen.
Michael Roth ist ein Freund klarer Ansagen. Der Staatsminister im Auswärtigen Amt, zuständig für Europa, sagt schon mal ungeschützt, dass er die europäische Gemeinschaft „in einem so erbarmungswürdigen Zustand noch nie erlebt hat“, und dass es ihm zwischen „wachsendem Populismus und Re-Nationalisierung“ schwer falle, „jeden Tag meine Arbeit zu machen“.
Er kann aber auch harsche Kritik an Deutschlands Rolle als härtester Sparkommissar geschmeidig wegstecken, was gerade in Griechenland eine wichtige Kunst ist. Umso überraschter war Roth nach einem Gespräch mit gut 70 Hellenen, dass es ein „ernsthaftes Interesse gab, offen miteinander zu reden“, ohne Vorwürfe und „emotionale Aufwallungen“. Das sei eine substantielle Veränderung.
Zum zehnten Mal innerhalb der vergangenen zwei Jahre war der Sozialdemokrat am Montagabend und Dienstag (17. und 18. November 2015) in Athen. Diesmal hatte er nichts im Gepäck, keine Anklagen oder Ermahnungen, keine neuen Sparauflagen, aber auch kein frisches Geld. Das einzige, was der deutsche Minister im Angebot hatte, war die Bereitschaft zum Gespräch. „Es gibt keinen besseren Weg sich zu verstehen“, sagt er, zumal viel Vertrauen zwischen beiden Ländern zerstört worden sei. Wahrscheinlich war der Besuch schon deshalb ein kleiner Erfolg.
Roths Besuch war ein Experiment. Bis Mitte 2017 möchte das Berliner Außenministerium in fünf südeuropäischen Ländern einen zivilgesellschaftlichen Dialog organisieren. In Ländern, deren junge Generation aufgrund der aktuellen Krisen „abzurutschen“ drohe: „Es muss uns besorgen, dass eine ganze Generation in Europa keine Perspektive mehr für sich sieht, und wenn doch, dann nicht in ihren Ländern“, sagt Roth.
Athen machte den Anfang. Bis Frühsommer kommenden Jahres sollen Portugal, Spanien, Italien und Frankreich folgen. Die Teilnehmer der ersten Runde kamen aus Bürgerinitiativen, Nicht-Regierungsorganisationen, Menschrechtsaktivisten, Flüchtlingsgruppen. Einzige Voraussetzung: Sie sollten nicht, als Partei- oder Gewerkschaftsaktivisten, Teil der herrschenden politischen Klasse sein. Die Berliner Ideenfabrik „Progressives Zentrum“ hatte Workshops organisiert, in denen von den Teilnehmern Ziele und Konfliktpunkte formuliert wurden zu den Folgen der Finanz- und Eurokrise, zum sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft, zu nachhaltigem Wachstum und politischem Populismus, und zur jüngsten Herausforderung: der Flüchtlingswelle, die Griechenland bis über die Grenzen seiner Belastbarkeit hinaus beansprucht. Später wird Roth, in einem Seminar zur Fortbildung griechischer Regionaljournalisten, von einer „Koalition der Betroffenheit“ zwischen Ländern wie Griechenland, Italien, Österreich, Schweden und Deutschland sprechen, die als Transitländer oder Zielorte am stärksten herausgefordert seien.
Das Dialog-Experiment kam gut an, auch wenn manche Erkenntnisse bitter waren. Zum Beispiel die, dass es keine europäische Gemeinsamkeit in der Frage gebe, was Zivilgesellschaft überhaupt bedeute. Oder wenn erhoffte konkrete Lösungsansätze ausblieben.
Martha Bouziouri, 35, ist Gründerin und Managerin eines Kulturvereins, „plays2place“, der mit Theater-, Spiel- und Medienprojekten gesellschaftliche Diskussionen und Hilfen zum Beispiel für Flüchtlinge befördern will. Die Sozialanthropologin fand die Berliner Idee hilfreich. „Wir müssen gedrängt werden einzusehen, dass wir nur erfolgreich sein können, wenn wir zusammenarbeiten“. Trotzdem vermisste sie in der Kürze des Dialogs Lösungsansätze auf so schwerwiegende Fragen wie die geplanten Hotspots zur Registrierung und Verteilung der Flüchtlinge an der türkischen Grenze. „Wir haben keine Antworten für die Menschen, die in Hotspots stranden und keine Aufnahmeperspektive haben“, sagt sie, und: „Was machen wir mit denen, die Asyl suchen aber nicht in die Länder ihrer Wahl reisen dürfen“. Für Bouziouri, ging alles zu schnell, stand der politisch organisierte Dialog zu sehr unter Zeitdruck. Sie kam sich vor „wie beim Speed-Dating“ sagt sie.
Auch Vassiia Bolou, promovierte Juristin und stellvertretende Leiterin der Athener Ombudsstelle für Verbraucherschutz, sah in dem Berliner Versuch vor allem einen erfolgversprechenden Auftakt. „Der Ansatz war gut, nun müssen die Herausforderungen klarer identifiziert und die Rolle der Zivilgesellschaft, ihre Chancen und Möglichkeiten, eindeutiger benannt werden“, sagt sie.
So dürfte für die griechischen Teilnehmer vielleicht die wichtigste Erkenntnis der Diskussionen das offene Bekenntnis des deutschen Ministers und die Aufforderung gewesen sein, sich nicht von Europa abzuwenden. „Wir brauchen euch, wir brauchen eure Unterstützung und eure Kreativität“, sagte Roth. So etwas haben Griechen schon lange nicht mehr von einem deutschen Minister gehört.