Herr Begrich, in der politischen wie auch öffentlichen Wahrnehmung scheinen “der Osten” und “die ostdeutschen AfD-Wähler” im Zuge der stetigen Rezitation entsprechender Statistiken zu einem unbezwingbaren Block für die demokratischen Parteien geworden zu sein. Wer sind “die ostdeutschen AfD-Wähler”?
Die Wählerschaft der AfD ist äußerst heterogen zusammengesetzt. Es gibt einen Kern derer, die die programmatischen Aussagen der AfD voll und ganz teilen, also den extrem rechten Inhalten zustimmen und die Partei aus Überzeugung wählen. Dann gibt es eine weitere Wählergruppe, die einzelnen Aspekten der Politik der AfD zustimmt etwa in der Migrationsfrage. Und es gibt eine dritte Gruppe bisheriger Nicht-Wähler, die durch Kampagnen der AfD bzw. ihres politischen Vorfeldes erreicht werden. Es bedarf mithin der analytischen Differenzierung, mit welcher Wählergruppe der AfD eine inhaltliche Auseinandersetzung geführt werden kann.
Warum gelingt es weder den Regierungsparteien, noch der Union diese ostdeutsche AfD-Wählerschaft zu erreichen? Sind die demokratischen Parteien in der Fläche zu schwach aufgestellt, um der AfD Paroli zu bieten?
Alle sozialwissenschaftlichen Untersuchungen zeigen, dass es in Ostdeutschland seit langem eine sehr hohe Volatilität in Bezug auf Parteien generell gibt. Die Bindung an Parteien ist ohnehin nicht groß. Die demokratischen Parteien sind zwar in den Institutionen präsent. Aber es fehlt ihnen an Verankerung im vorpolitischen Raum. Das klassische postmaterialistische Milieu der Grünen ist in Ostdeutschland nur in einigen wenigen Orten wie Potsdam, Leipzig oder Jena vertreten – in der Fläche spielt es keine Rolle. Die Mitglieder- und Mobilisierungsschwäche der SPD im Osten hat tiefgehende zeitgeschichtliche Ursachen, die bis heute wirksam sind. Zudem kommuniziert die AfD grundsätzlich als Anti-Establishment-Partei und ruft umfänglich Ressentiments „gegen die da oben“ ab. Diese inhaltliche Diffusität ist auch eine Stärke.
Die wachsende Zustimmung zur AfD ist allerdings kein rein ostdeutsches Phänomen: Bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen im Oktober ist die Partei zweit- bzw. drittstärkste Kraft nach der Union geworden. SPD, Grüne und FDP mussten deutliche Verluste hinnehmen. Inwiefern sind die Ursachen für den Aufstieg der AfD in Westdeutschland andere als im Osten?
Der Aufstieg der AfD im Westen vollzieht sich offenbar langsamer als in Ostdeutschland – und hier fokussierter entlang der multiplen Krisen und verbunden mit dem Umstand, dass die Politik als handlungsohnmächtig wahrgenommen wird. Wenn es aber einem Großteil der AfD-Wähler in Bayern egal ist, dass die AfD in ihrem Wesen eine rechtsextreme Partei ist, muss von einer weitgehenden Enttabuisierung der extremen Rechten auch im Westen ausgegangen werden. Kein Vertun: Die Gefahr für die Demokratie ist real. Es ist höchste Zeit, sich endlich intensiv mit der strategischen politischen Kommunikation der AfD zu beschäftigen – und mit ihrer Fähigkeit, auf regionale mentalitätsbedingte Unterschiede einzugehen.
Welche Ansatzpunkte sehen Sie für die Regierungsparteien, um die Wähler für sich zu gewinnen, die nicht zu den rechts-ideologisch gefestigten zählen?
Es ist nicht leicht, in Zeiten umfassender Unsicherheit Sicherheit zu geben. Aber es wäre ein Anfang, Ängste und Unsicherheit nicht noch zu verstärken – sondern wahrzunehmen und anzuerkennen, dass es in Ostdeutschland eine weit verbreitete Veränderungsmüdigkeit oder gar Erschöpfung gibt. Es braucht beides: Dialogbereitschaft und Kontroversität, aber auch Grenzsetzungen im Hinblick auf demokratiefeindliche Aussagen. Niemand sollte ausblenden, dass wir es in Ostdeutschland in manchen Regionen mit einer Art antidemokratischem Basisrauschen zu tun haben: in Gestalt der Montagsdemos, die für die Frage der lokalen Meinungsführerschaft in kleinen Städten eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen.
Könnte ein Zusammenspiel progressiver Parteien und der Zivilgesellschaft im Osten diesbezüglich ein Ansatzpunkt sein? In Nordhausen hat letztere ja eine große Rolle gespielt bei der Stichwahl um den Posten des Oberbürgermeisters.
Nordhausen war eine Sondersituation, die sich so einfach andernorts nicht wiederholen lässt. Dennoch kann daraus gelernt werden – etwa, dass es auf die Stärkung lokaler Themen und die Sichtbarkeit bürgerschaftlichen Engagements ankommt und nicht nur auf Parteien und ihre Agenda. Nordhausen zeigt eben auch, dass es darum geht, dass eine kritische Zivilgesellschaft Gehör findet und nicht der Eindruck entsteht, es gäbe nur die AfD und ansonsten eine Gleichgültigkeit. Dem ist nicht so. Es gibt in jedem Ort im Osten Menschen, die für eine demokratische Kultur einstehen. Die gilt es zu stärken – gerade weil ihre Position vielerorts so bedroht ist.
In Thüringen hat die CDU jüngst ein Gesetz für eine niedrigere Grunderwerbsteuer durchgesetzt – mit kalkulierter Zustimmung der AfD, deren dortiger Landesverband vom Erfurter Verfassungsschutz als erwiesen rechtsextrem eingestuft wird. Mit dem “Korrekte-Sprache-Gesetz”, das Gendersprache in Schulen und Behörden verbieten soll, hat sie ein weiteres Gesetz in den Landtag eingebracht, für dessen Beschluss sie auf die Stimmen der AfD angewiesen sein wird. Politischer Pragmatismus – oder eine Einladung der CDU an die AfD zum Kulturkampf, wie es die Frankfurter Rundschau beschreibt?
Die AfD sendet ja eine doppelte, in gewissem Sinne paradoxe Botschaft an die CDU. Einerseits: Mit uns, der AfD, ist bürgerlich-konservative Politik mehrheitsfähig. Andererseits: Die CDU in ihrer Gestalt als konservative Volkspartei soll zerstört werden, um aus ihren Trümmern die national-konservativen Teile zu bergen und der AfD gefügig zu machen. Allen, die mit der AfD kooperieren sollte klar sein, dass die AfD nicht auf Konsens aus ist, sondern auf Hegemonie und die Durchsetzung ihrer Inhalte, die in ihrem Kern offen rechtsextrem sind. Zumindest im Osten ist die AfD eine Anti-Systempartei.
Birgt das Vorgehen der CDU in Thüringen mit seinen Effekten auf die CDU im Bund auch eine Chance der Abgrenzung für die Ampelparteien – die Chance für eine progressive Strategie Ost?
Schwer zu sagen. Dazu bräuchten die Ampelparteien eine tragende progressive Erzählung, die Fähigkeit Begriffe zu besetzen und Diskurse zu bestimmen – und ganz bewusst nicht dem Agenda Setting der AfD thematisch zu folgen. Letzteres ist fatal, weil es jene entmutigt, die sich dem Bild vom blauen Osten entgegenstellen. Hier könnten Menschen, die an der Schnittstelle von Wissenschaft und Zivilgesellschaft arbeiten, breitere Resonanz gebrauchen. Sozialwissenschaftler wie Daniel Kubiak oder Alexander Leistner machen eine gute, aber leider unterschätze Arbeit. Es braucht verschiedene Bausteine, den Hegemonie-Debatten der extremen Rechten Grenzen zu setzen. Und letztlich sind alle in der Verantwortung für die Demokratie im Osten – einige allerdings mehr als andere: jene, die konkrete Gestaltungsmacht haben.
Das Interview führte Maria Menzel-Meyer
Foto: Juliane Menzel