Corona-Beobachtungen: Blick zurück ohne Zorn

Beobachtungen, Gedanken, Phantasien eines einstweilen Davongekommenen

Während sich die Corona-Krise weiter entfaltet, hält Jens Flemming inne. In seinem Essay stellt er heraus, warum „Maß und Mitte“ eine unpassende Maxime sei, wie erstmals die Methodik der Wissenschaft in den öffentlichen Fokus geriet und was durch mehr Ehrlichkeit gewonnen würde.

Irgendwann wuchs das Bedürfnis, sich des Geschehens zu vergewissern, Eindrücke zu sortieren. Der Höhepunkt der Corona-Krise schien überschritten, besiegt war das Virus jedoch nicht, die Bedrohung immer noch ubiquitär, schwer greifbar. Ordnung in die Beobachtungen zu bringen, das Gewirr sich widersprechender Stimmen zu durchdringen, war und ist schwierig. Klarheit über Abläufe und Entscheidungsprozesse werden ohnehin erst die HistorikerInnen bringen. Ob sie damit beim Publikum auf Resonanz stoßen, ist kaum abzuschätzen.

Schon möglich, dass Covid-19 im kulturellen Gedächtnis der Nation ein ähnliches Schicksal erleidet wie die 1892 für einige Wochen in Hamburg wütende Cholera-Epidemie mit Tausenden von Toten. Denn die ist über lokale Aufmerksamkeit – von verstreuten Bemühungen einer überschaubaren Zahl von SpezialistInnen abgesehen – nicht hinausgelangt. Ähnliches gilt für die Hongkong-Grippe 1968/70 oder die Asiatische Grippe 1957/58. Auch hier waren zahlreiche, in die Zehntausende gehende Opfer zu beklagen.

Maß und Wert

Zwei, drei Dinge sind im Gedächtnis geblieben.

Zum einen sprachliche Wendungen: Nehmen wir nur die Formulierung „Maß und Mitte“, zu hören aus unions- wie aus sozialdemokratischem Mund; eine poetisch anmutende Kombination. Sie suggeriert Tiefsinn, als habe da einer lange und intensiv nachgedacht. 

Tatsächlich handelt es sich jedoch um eine bloße Tautologie. Denn das Maß ist per definitionem beheimatet in der Mitte, an jenem Ort, der sich durch die Abwesenheit der Extreme auszeichnet. Das mittlere, von Maß, Tugend, Vernunft und Gerechtigkeit geleitete Leben hat bereits der griechische Philosoph Aristoteles als die von allen Existenzformen glücklichste und beste beschrieben.

Wenn schon kommunikationsstrategisch Terrain besetzt werden sollte, hätte sich als pointierte Maxime für politisches Handeln ein anderer Begriffszwilling angeboten: „Maß und Wert“, eine Anleihe bei Thomas Mann, der seiner 1937 begründeten Exilzeitschrift eben diesen Titel gegeben hatte. Wollte man „Wert“ dabei nicht wie sonst zu beobachten zur beliebigen Allerweltsfloskel verkümmern lassen, wäre zwingend geboten, die eine wie die andere Kategorie und beide in ihrer Beziehung zueinander mit praxistauglicher Anschauung zu füllen.

Ohne Pro und Contra hätte man sich jedoch nicht davonstehlen, der Frage nach dem normativen Gehalt differenter, auch polarer Wertvorstellungen sich nicht entschlagen können. Anläufe, sich dem zu stellen, gab es. Der Bundestagspräsident zum Beispiel warf in diesem Sinne einen Stein ins Wasser. Der schlug ein paar Wellen, eine ernsthafte Diskussion, die sich nicht gleich in den üblichen Abwehrreflexen erschöpfte, erwuchs daraus nicht.

Öffentlichkeit und Wissenschaft

Sodann die Wissenschaft: In den ersten Corona-Wochen hing die Gesellschaft an den Lippen der VirologInnen und EpidemiologInnen. Dahinter steckte die Hoffnung, diese könnten wasserdichte Erklärungen liefern und wirksame Heilmittel versprechen.

Jedoch, je länger die Bedrohung durch das Virus anhielt, desto größer wurden Ungeduld und Missmut, desto geringer freilich war die Gefahr, dass wir einer Expertokratie anheimfallen. Wer in diesen Wochen wollte, konnte gleichsam unter Laborbedingungen studieren, wie Wissenschaft funktioniert. Denn hier wurde – ein beispielloser Vorgang – coram publico unter Anteilnahme der Bevölkerung demonstriert, dass zum Wesen der Forschung die Fehlbarkeit gehört, dass Wissenschaft ein niemals endender Prozess ist.  Neue Befunde erfordern regelmäßig neue Urteile bis hin zur Revision des gestern noch Gültigen.

Das paart sich mit der Einsicht, dass es auch in der Wissenschaft um Deutungsmacht geht, um Reputationsgewinne, um Reichweite und Wirksamkeit. Aber: ohne Debatte und kontroverse Interpretationen sind Erkenntnisse und Perspektiven nicht zu gewinnen. Derartige Denk- und Suchbewegungen muss man aushalten, nicht zuletzt PolitikerInnen müssen das. Denn sie und nicht ihre BeraterInnen aus den Instituten und Forschungslaboren sind es, die Entscheidungen zu treffen und zu verantworten haben.

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Transparenz und Ehrlichkeit

Ein Drittes: Der viel bemühte Begriff „Krise“ steht für Situationen existentieller Gefährdungen, in denen sich entscheidet, ob die Dinge sich zum Besseren oder zum Schlechteren wenden.

Welche Richtung der momentane Ausnahmezustand nehmen wird, welche materiellen und immateriellen Folgekosten auf die Gesellschaft zukommen, wissen wir nicht. Die „neue Normalität“ sagt derzeit kaum mehr, als dass wir BürgerInnen achtsam sein, Masken tragen und Distanz zu den Mitmenschen halten sollen. Triftige Entwürfe für eine künftige Ordnung sind einstweilen nicht in Sicht. 

Gewiss, an Debattenbeiträgen mangelt es nicht. „Deutschland neu denken“, lautet bisweilen die Devise. Dabei zeigt sich, dass vertraute Reflexe sich keineswegs verflüchtigt haben, die üblichen Verdächtigen ebenso wenig. Überhaupt wünscht man sich, dass über der neuen Normalität die unerledigten Baustellen der alten nicht vergessen werden. Die karge Bezahlung und die schlechten Arbeitsbedingungen der Krankenschwestern und Pflegekräfte, um nur dies zu nennen, sind keine Themen, die erst seit Corona auf der Tagesordnung stehen.

Allein: Wenn man die Gehälter erhöhen und sich nicht mit einmaligen, keineswegs üppigen Bonuszahlungen aus dem Staub machen will, sollte man dem Publikum nicht verhehlen, dass dies nicht ohne Erhöhungen der Sozialabgaben und/oder der Staatszuschüsse zu haben sein wird. Und die treffen alle. Hier wäre nun wirklich Transparenz das Gebot der Stunde. Wenn so etwas wie neue Ehrlichkeit zur Signatur der neuen Normalität heranreifen würde, wäre viel, vielleicht Entscheidendes gewonnen.

Ein Letztes: Mit Staunen und Erleichterung sind wir gewahr geworden, dass die Koalition, die kaum jemand gewollt hat, gleichsam über Nacht und gezwungen durch die Umstände zu entschlossenem, ja zu gemeinsamen Handeln gefunden hat, dass sie tut, wofür sie berufen worden ist: Zu regieren nämlich, was – nebenbei – den Effekt hat, dass der Satz, es sei besser nicht als schlecht zu regieren, sich endgültig als das entpuppt, was er immer schon war: Eine wohlfeile, hasenfüßige Parole.

Autor

Jens Flemming

Friedrich-Ebert-Stiftung
Jens Flemming ist Vertrauensdozent der Friedrich-Ebert-Stiftung und Leiter der Informationsstelle zur Geschichte des Nationalsozialismus in Nordhessen.

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