Applaus alleine reicht nicht!

Substantielle und nachhaltige Verbesserungen in der Pflege sind dringlicher denn je

Widrige Arbeitsbedingungen, gesundheitliche Risiken, hohe Fluktuation – der Pflegesektor steckte auch schon vor Corona tief in der Krise. Die Pandemie wirft jetzt ein Schlaglicht auf den gewaltigen Handlungsbedarf. Dabei steht der Sektor vor zwei Kernherausforderungen: Einerseits vor dem Kraftakt der Pandemiebewältigung. Andererseits vor dem demografischen Wandel: Bis 2040 müsste in der gesamten OECD die Anzahl der Beschäftigten im Pflegesektor um 60 % steigen, um das derzeitige Verhältnis von Pflegekräften zu älteren Menschen zu halten. Was muss passieren, um diese Herausforderungen zu meistern?

Den Anfang machte New York. Auf der Höhe der ersten Corona-Welle im März 2020 applaudierten die Einwohner der Millionenstadt täglich an Fenstern, auf Balkonen und auf der Straße, um Ärzten, Krankenschwestern, Pflegern,Rettungssanitätern und anderen Helfern für ihren unermüdlichen Einsatz im Kampf gegen die Corona-Pandemie zu danken. 

Viele Städte in Frankreich, Italien, Spanien, Großbritannien und anderen Ländern folgten schnell ihrem Beispiel. Auch in Paris standen wir im Lockdown jeden Abend um 20 Uhr am Fenster, begrüßten die Nachbarn von gegenüber, und klatschten gemeinsam für all die Menschen, deren Arbeit plötzlich überlebensnotwendig und so zentral für das Funktionieren unserer Gesellschaften geworden war und die trotz hoher Infektionsrisiken Tag und Nacht im Einsatz waren.

Die Dankbarkeit galt dem Gesundheits- und Pflegepersonal, aber auch vielen anderen, bisher eher gering geschätzten Berufen, wie Fahrradkurieren, Reinigungskräften, KassiererInnen, und anderen Dienstleistern, ohne die das gesellschaftliche Leben im Lockdown zusammengebrochen wäre. Es waren jedoch insbesondere die Arbeitsbedingungen und die Bezahlung der Arbeitskräfte im Gesundheits- und vor allem im Pflegebereich, die ins Zentrum der Diskussionen um eine bessere finanzielle und soziale Anerkennung dieser Berufsfelder rückten.

Heute, fast ein Jahr nach der ersten Applausrunde, sind die Stimmen – und das Klatschen – leiser geworden.

Zwar haben viele OECD-Länder schnell auf die Corona-Herausforderungen reagiert, beispielsweise mit Bonuszahlungen und zusätzlichen Stellen bei medizinischen und Pflegeberufen. Jedoch blieben die Maßnahmen häufig hinter den Erwartungen der betroffenen Berufsgruppen zurück, und brachten aufgrund erneuter Corona-Wellen und Engpässen bei der Rekrutierung neuen Personals in vielen Fällen weder die notwendige Erleichterung für das Personal noch eine spürbare Verbesserung der Bezahlung.

Trotz Systemrelevanz – wie sieht die Realität in den Pflegeberufen aus?

Besonders problematisch ist in vielen Ländern die Situation in der Pflege. Dabei sind die Probleme keineswegs neu, sondern seit langem hinreichend bekannt. Schon vor der Corona-Krise riefen viele Länder den Pflegenotstand aus, gekennzeichnet durch Personalmangel, starke Fluktuation, und schlechte Arbeitsbedingungen. Die Frage nach verbesserter wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Anerkennung von Gesundheits- und Pflegeberufen ist auch eine Frage der Gleichstellung.

Denn weltweit sind mehr als 70 % der Beschäftigten im Gesundheitswesen und rund 90 % der Beschäftigten in der Pflege Frauen.

Viele Arbeitsplätze in der Pflege werden nicht in Vollzeit, sondern nur in Teilzeit (doppelt so häufig in der Pflege wie insgesamt im OECD-Durchschnitt) angeboten. Die Bezahlung ist meist schlecht: im OECD-Durchschnitt verdienen PflegerInnen rund 9 Euro in der Stunde, verglichen mit EUR 14 für Arbeitskräfte, die im gleichen Beruf im Krankenhaus arbeiten. Befristete Beschäftigung ist ebenfalls weit verbreitet; das kann zwar sowohl für Arbeitgeber als auch für Arbeitnehmer Flexibilität bringen, trägt aber auch zu prekärer Beschäftigung, geringerer sozialer Absicherung und mangelnder Kontinuität für die Patienten bei. Im Durchschnitt von 20 OECD-Ländern, für die entsprechende Daten vorliegen, arbeitet die Hälfte der Pflegekräfte in Schichtarbeit (zum Beispiel nur vormittags oder nachmittags). Schichtarbeit wird mit einer Vielzahl von Gesundheitsrisiken in Verbindung gebracht, wie zum Beispiel Angstzuständen, Burnout und Depressionen. Schon vor der Krise litten Pflegekräfte überproportional unter gesundheitlichen Problemen: Im Durchschnitt ist mehr als die Hälfte (60 %) der Beschäftigten in der Pflege körperlichen Risiken ausgesetzt und 44 % leiden an psychischen Problemen.

Insofern ist es nicht überraschend, dass der durchschnittliche Verbleib an einem Arbeitsplatz in der Pflege zwei Jahre kürzer ist als in anderen Berufen. Informelle Arbeit, vor allem von MigrantInnen, ist ebenfalls weit verbreitet. Dies setzt viele der Beschäftigten im Gesundheits- und Sozialwesen einem Armutsrisiko aus.

Die Pandemie wirft damit ein Schlaglicht auf strukturelle Probleme: Niedriges Investitionsniveau im Pflegebereich, unzureichende Personalausstattung und eklatante Sicherheitsmängel. Pflegekräften fehlen oft die entsprechende Ausbildung oder ganz einfach die Möglichkeiten, Infektionsprotokolle oder andere Präventionsmaßnahmen umzusetzen.

Infektionsausbrüche in Pflegeheimen führen häufig zu Fehlzeiten des Personals, da die Mitarbeiter entweder selbst krank werden, in Quarantäne gehen müssen, oder aber berechtigte Angst haben, zur Arbeit zu gehen. Im Bereich der häuslichen Pflege erhöhen solche Ausfallzeiten von Pflegekräften auch die Belastung und den Stress für informelle oder pflegende Familienangehörige.

Wie reagieren OECD-Länder auf die Herausforderungen in der Coronakrise?

Mehrere OECD-Länder haben die finanziellen Mittel für die Pflege erhöht, um die Pandemie-bedingten Mehrkosten zu bewältigen. Australien, zum Beispiel, hat Pläne zur Aufstockung des Personals angekündigt und Spanien hat flexible Teams eingerichtet, um in betroffenen Pflegeeinrichtungen schnell intervenieren zu können. Deutschland hat finanzielle Unterstützung für die Pflege zugesagt, insbesondere bei der Erhöhung der Mindestlöhne, der Auszahlung von Prämien für Pflegekräfte, und bei der Erleichterung der Verteilung von persönlicher Schutzausrüstung. Frankreich hat ebenfalls Unterstützung in Form von Prämien für Arbeitnehmer und staatlicher Beteiligung an zusätzlichen Kosten für Pflegeeinrichtungen angekündigt.

Diese Massnahmen sind wichtig und höchst willkommen. Aber sie werden nicht ausreichend, um den Pflegesektor fit für die Zukunft zu machen. Der demografische Wandel wird den Bedarf an Pflegeleistungen weiter steigen lassen.

Im OECD-Durchschnitt wird der Anteil der 80-Jährigen und Älteren bis 2050 von 5 % auf fast 10 % der Bevölkerung ansteigen. Das bedeutet, dass die Zahl der Pflegekräfte bis 2040 in der gesamten OECD um 60 % steigen müsste – das entspricht zusätzlichen 13,5 Millionen Beschäftigten –, um das derzeitige Verhältnis von Pflegekräften zu älteren Menschen zu halten.

Gleichzeitig werden weniger jüngere Menschen zur Verfügung stehen und bereit sein, angesichts der schwierigen Arbeitsbedingungen und der geringen Wertschätzung Tätigkeiten im Gesundheits- und Sozialwesen zu übernehmen.

Außerdem werden die Bedürfnisse der pflegebedürftigen älteren Bevölkerung komplexer. Immer mehr ältere Menschen leben mit multiplen chronischen Erkrankungen und/oder Demenz. Während sich der Gesundheitszustand und der Grad der Pflegebedürftigkeit verschlechtern, bleibt das Profil der Arbeitskräfte unverändert. In OECD-Ländern haben weniger als ein Viertel der Pflegekräfte einen Hochschulabschluss. Häusliche Pflegekräfte – die nicht als Krankenpfleger qualifiziert sind – machen den Großteil der Beschäftigten aus (70 %) und unterliegen sehr geringen Qualifikationsanforderungen.

Was sollten wir aus der Corona-Krise lernen?

Die Corona-Krise hat uns alle aufgerüttelt und uns noch deutlicher vor Augen geführt, wie wichtig gute Pflege für alle, und besonders für unsere Eltern und Großeltern ist. Wenn es gelingt, die Arbeitsbedingungen in der Pflege zu verbessern, wird sich auch die Qualität der Leistungen verbessern und die Personalfluktuation abnehmen.

Mit höheren Einstiegsgehältern und besseren Perspektiven für ihre persönliche Entwicklung und Aufstiegsmöglichkeiten können Pflegekräfte motiviert werden, auch längerfristig in diesem Berufsfeld zu bleiben.

Einige OECD-Länder sind bereits dabei, strukturelle Reformen in der Pflege einzuleiten. Über die Löhne hinaus fördern Norwegen und die Niederlande zum Beispiel ein gesünderes Arbeitsumfeld durch eine bessere Prävention von Arbeitsunfällen und Krankheiten, was wiederum Fehlzeiten und Fluktuation verringern kann. Eine Änderung der Arbeitsorganisation mit flexibleren Arbeitsplänen, besserer Organisation der täglichen Arbeit und Planung von Schichten sowie ein besseres Personalmanagement in Pflegeheimen sind ebenfalls notwendig. Hier sind insbesondere auch die Sozialpartner gefragt, gemeinsam in Tarifverhandlungen bessere Bezahlung und Arbeitsbedingungen in der Pflege zu erreichen.

Es sollten Sicherheitsstandards entwickelt werden, wie zum Beispiel Personalquoten und -qualifikationen, Infrastruktur und bessere Wohnumgebungen, die dann auch angemessen evaluiert und durchgesetzt werden. Dänemark, Finnland, Norwegen, Portugal und Schweden zum Beispiel benutzen national definierte Indikatoren zum Monitoring der Leistungsqualität zur Sicherheit der Bewohner in ihren Pflegeheimen.

In der Zukunft wird der Pflegebedarf mit großer Wahrscheinlichkeit weiterhin überwiegend von häuslichen Pflegekräften gedeckt werden, die viele gering qualifizierte Aufgaben übernehmen. Es besteht aber auch ein Bedarf an Pflegekräften, die über höhere Kompetenzen in der Altenpflege und Pflegekoordination sowie über sogenannte „soft skills“ , wie gute Kommunikationsfähigkeiten, verfügen. In Deutschland wird daher derzeit ein wissenschaftlich basiertes Instrument zur Bestimmung des richtigen Skill-Mix für die Pflege entwickelt.

Systemrelevanz der Pflege auch nach der Coronakrise

Zweifelsohne ist die Coronakrise für die politischen Diskussionen rund um die Pflege in OECD-Ländern ein Beschleuniger. Die Frage nach notwendiger Transformation und strukturellen Reformen in diesem Sektor stellt sich eben nicht zum ersten Mal. In vielen Ländern, insbesondere jenen, in denen die Alterung der Bevölkerung  schon weiter vorangeschritten ist, wie in Deutschland, Italien oder Japan, steht das Thema schon seit Jahren auf der politischen Agenda. In Deutschland wurde die Konzertierte Aktion Pflege bereits 2018 gemeinsam von den drei Bundesministerien für Arbeit und Soziales, Gesundheit, und Familien eingeleitet. Und auf individueller Ebene kennt jede Familie, in der plötzlich ein Pflegefall eintritt, die Schwierigkeiten, schnell die beste professionelle und bezahlbare Hilfe für pflegebedürftige Eltern oder Großeltern zu finden.  

Die Coronakrise führt uns deutlich vor Augen, welch hohen gesellschaftlichen Wert die Pflege hat. Im Lockdown waren es in vielen Ländern die Pflegekräfte, die an Corona erkrankte Heimbewohner unter grossen eigenen Gesundheitsrisiken in ihren letzten Stunden begleiteten. Wie kann es sein, dass wir die Menschen, die uns mit der Betreuung derer helfen, die zu den wichtigsten Personen in unserem Leben zählen, unter schlechten Bedingungen und zu Niedriglöhnen arbeiten und sie so wenig gesellschaftliche Anerkennung erfahren lassen? Das ökonomische Argument ist die Produktivität der Pflegetätigkeit – ist sie niedrig, so wird auch die Entlohnung entsprechend niedrig sein. Der soziale Wert dieser Leistungen aber ist hoch, wie kann sich das auch wirtschaftlich, das heißt, in der Entlohnung niederschlagen? 

Eine Antwort auf diese Frage zu finden, wird eine breit angelegte gesellschaftliche Diskussion erfordern. Applaus alleine reicht nicht; alle gesellschaftlichen Akteure – Staat, Sozialpartner, Zivilgesellschaft und wir alle, die Pflegeleistungen heute oder in Zukunft nachfragen, sind aufgerufen, Systemrelevanz ernst zu nehmen und uns für substantielle und nachhaltige Verbesserungen in der Pflege einzusetzen.


Literatur:

Autorin

Monika Queisser ist Leiterin der Abteilung für Sozialpolitik bei der OECD. Sie leitet zudem eine OECD-weite Initiative zur Geschlechtergleichheit in Bildung, Arbeit und Unternehmerschaft. Zuvor war sie bei der Weltbank in Washington D.C. und und am ifo Institut für Wirtschaftsforschung beschäftigt.

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