“Wir dürfen uns in der Politik jetzt nicht mit rückwärtsgewandten Debatten verzetteln”

Was ist die innovationspolitische Antwort auf den Inflation Reduction Act? Und wie kann der deutsche Mittelstand neue Technologien schneller aufnehmen? Im Interview mit Progressives Regieren spricht Franziska Brantner über die Zukunft des Innovationsstandorts Deutschland.

Frau Brantner, Sie waren vor einigen Wochen in Washington, um mit US-amerikanischen Kolleg:innen über den Inflation Reduction Act zu verhandeln. Was bedeutet der IRA für den Innovationsstandort Europa und Deutschland? 

Vom Inflation Reduction Act (IRA) geht ein wichtiges Signal aus: Die USA bekennen sich damit zum Ziel einer klimaneutralen Wirtschaft und stärken mit Steueranreizen und unbürokratischer Förderung klimaneutrale Technologien. Joe Bidens Regierung verfolgt so eine ambitionierte Industriepolitik, die klimafreundliche Innovationen auch finanziell unterstützt.

Gleichzeitig setzt der IRA Deutschland und die EU auch unter Druck. Industrieunternehmen drohen in die USA abzuwandern, weil dort bessere Bedingungen herrschen. Wie sollte aus ihrer Sicht die europäische innovationspolitische Antwort auf den IRA aussehen? 

Das ist die Kritik, die wir eingangs am IRA hatten. Ursprünglich hatte das Gesetz eine stark ausschließende Wirkung auf andere Wirtschaftsräume. Dem konnten wir beispielsweise mit Blick auf E-Autos und Batterien in den Nachverhandlungen entgegenwirken, damit auch E-Autos aus europäischer Produktion gefördert werden können. Noch wichtiger als diese Reaktion auf den us-amerikanischen Vorstoß ist aber, dass wir unsere eigenen Hausaufgaben machen: Wir müssen sicherstellen, dass wir schnelle, einfache finanzielle Unterstützung für innovative Technologien zur Verfügung stellen.

Lassen Sie mich aber eines zum IRA hinzufügen: Das Gesetz wirkt auch regulierend. Beim Wasserstoff beispielsweise ist die Höhe der Forderung an den CO2-Ausstoß gekoppelt. Unsere Aufgabe in Europa ist es ebenfalls, regulatorische Sicherheit herzustellen, um den Unternehmen die langfristige Planung zu erleichtern. In der europäischen Debatte sprechen wir viel über Geld, der regulatorische Aspekt geht häufig unter. Der Markthochlauf innovativer Produkte erfordert aber beides: einfacher Zugang zu finanziellen Mitteln und regulatorische Sicherheit.

Besteht in der Ampelkoalition denn Einigkeit darüber, dass regulatorische Sicherheit die Innovationskraft stärkt? Die Debatte um das Verbrenner-Aus lässt anderes vermuten.

In der Bundesregierung besteht Einigkeit, dass Unternehmen Klarheit brauchen. Niemand würde in Frage stellen, dass gesetzliche Rahmenbedingungen für unternehmerische Planbarkeit wichtig sind. Bei der genauen Definition gibt es dann natürlich unterschiedliche Sichtweisen – nicht nur innerhalb der Koalition, sondern auch zwischen den EU-Mitgliedsländern. Hier müssen wir aufpassen, dass wir durch zu langes Ringen nicht wertvolle Zeit verlieren. Denn dann werden andere die Standards setzen und die Investitionen werden dorthin gehen, wo bereits Klarheit herrscht. Und wir müssen uns bewusst werden, dass sehr viele wichtige Investitionsentscheidungen in den nächsten ein bis zwei Jahren getroffen werden und dann für zwanzig Jahre bestehen. Wir haben also ein gemeinsames Interesse, zügig Klarheit für die Unternehmen zu schaffen.

Lassen Sie uns noch einmal genauer auf den Innovationsstandort Deutschland eingehen: Wie schätzen Sie den Zustand des deutschen Innovationssystems ein? Wo liegen die größten Stärken, wo die Schwächen? 

Die große Stärke des deutschen Innovationsstandorts liegt darin, dass wir mit unseren Universitäten und Forschungsinstituten, aber auch dank vieler Unternehmen, über eine sehr starke und innovative Forschungslandschaft verfügen. Was uns noch nicht so gut gelingt, ist die Nutzbarmachung von wissenschaftlichen Ergebnissen, von guten Ideen, die hier täglich entstehen, für Produkte, Produktionsprozesse oder neuartige Geschäftsmodelle. In den USA ist es üblich, dass auf berufliche Stationen in der freien Wirtschaft auch Anstellungen in der Wissenschaft folgen und umgekehrt. Im deutschen Modell, das in dieser Hinsicht etwas weniger flexibel ist, müssen wir Kooperationsformen zwischen Wirtschaft und Wissenschaft stärken. Länder und Bund arbeiten daran, Lücken durch gezielte Förderung zu schließen.

Sie sprechen es an: In der Innovationspolitik haben viele Akteure ihre Finger im Spiel. Das Forschungsministerium hat die Zukunftsstrategie Forschung und Innovation vorgelegt, das Verkehrsministerium arbeitet an einer Digitalstrategie, aus ihrem Haus, dem Bundeswirtschaftsministerium, stammt die Startup-Strategie. Hinzu kommt die Allianz für Transformation im Bundeskanzleramt, die sich der Thematik ebenfalls annimmt. Fehlt es der Bundesregierung an einer übergreifenden Innovationsstrategie? 

Es ist allen Beteiligten bewusst, dass wir die unterschiedlichen Strategien gerade in einem so komplexen Feld wie der Innovationspolitik ressortübergreifend abstimmen müssen und das ist bei den genannten Strategien auch passiert. Aber hier gibt es sicherlich Verbesserungspotenzial.

Was sind die konkreten Ansätze?

Dass Forschung und Wirtschaft – die beiden zentralen Felder für den Bereich Innovation – institutionell getrennt sind, hat gute Gründe. Was wir noch nicht gut genug erfasst haben, ist, dass Innovationsprozesse von Forschung zu Produkt nicht mehr linear sind, sondern iterativ. Dieser Wandel muss sich auch in der innovationspolitischen Governance widerspiegeln.

Diese Innovationsprozesse sind nicht nur iterativ, sondern finden auch in langfristigen Zyklen statt. Gleichzeitig ist der Wettbewerbsdruck hoch. Wir müssen jetzt die richtigen Weichen stellen, um den Innovationsstandort Deutschland zu stärken. Welche konkreten Schritte kann die Ampelkoalition aus Ihrer Sicht noch in dieser Legislaturperiode ergreifen?

Wir reformieren aktuell die Bundesagentur für Sprunginnovationen (SPRIN-D), um sie noch besser aufzustellen. Mit der Start-Up Strategie unterstützen wir ganz gezielt Ausgründungen. Der größte Hebel liegt aus meiner Sicht aber in der Zusammenarbeit mit den Ländern, nicht nur die Bundesebene ist hier gefragt. 

Wie bewerten Sie denn die bisherige Arbeit der SPRIN-D? Wie kann ihr Potenzial noch weiter ausgebaut werden? 

Es gilt jetzt zunächst die institutionelle Form der SPRIN-D zu ändern und dann werden wir auswerten, wie es läuft. Wenn die Ergebnisse stimmen, ist es sicherlich eine Option, die Mittel auszuweiten. Aber ich bin erst einmal sehr froh darüber, dass wir mit der SPRIN-D einen Akteur haben, der explizit dort Innovationen anstößt, wo private Geldgeber und klassische Forschungsförderung es nicht leisten können. 

Lassen Sie uns über eine Gruppe sprechen, die für die deutsche Wirtschaft besonders zentral ist: der Mittelstand. Die OECD attestierte der Mehrheit der deutschen mittelständischen Unternehmen kürzlich, den Transfer von neuen Technologien in die Unternehmen weiterhin unzureichend zu leisten. Woran hakt es bei der Innovationskraft des deutschen Mittelstands? 

Zunächst einmal ist der Mittelstand in Deutschland so stark, wie in kaum einem anderen europäischen Land. Das dürfen wir nicht vergessen. Wir sehen aber, dass es bei der Digitalisierung und der KI noch große ungenutzte Potentiale gibt. Deshalb stellen wir Transformationsgelder zur Verfügung, insbesondere auch für die Verbindung Klimaschutz und Digitalisierung – gepaart mit einer maßgeschneiderten Beratung vor Ort in den Unternehmen wie beispielsweise durch die Mittelstand-Digital-Zentren. Zweitens gilt es, die digitale Infrastruktur zu verbessern. Ein wichtiger Aspekt ist hier schnelles Internet in der Fläche, ein anderer die Datensicherheit. Unternehmen müssen sich darauf verlassen können, dass sie durch die Digitalisierung nicht die Kontrolle über ihre Daten verlieren. Das fördert das Vertrauen, um digitale Technologien mehr zu nutzen. Deshalb versuchen wir beispielsweise mit der europäischen Cloud Gaia-X  eine sichere Dateninfrastruktur zur Verfügung zu stellen. Drittens braucht der Mittelstand das richtige Personal, um die Digitalisierung vor Ort voranzutreiben. Dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz kommt daher auch hier eine wichtige Rolle zu. 

In Kürze bringt das amerikanische KI-Unternehmen OpenAI eine neue Version des bahnbrechenden Chatbots ChatGPT auf den Markt. Google und das chinesische Unternehmen Baidu sind ebenfalls in den Wettbewerb eingestiegen. Deutschland und die EU scheinen hier hingegen nur passive Beobachter zu sein. Haben wir überhaupt noch eine Chance, im Feld der KI aufzuholen? 

Das erfolgreiche KI Start-up Aleph Alpha aus meiner Heimat Heidelberg ist ein herausragendes Beispiel, dass es durchaus Bereiche gibt, in denen wir als Innovationsstandort Deutschland gut dastehen. Bei der KI müssen wir also differenzieren  

Richtig ist aber auch, dass die Anbieter, die jetzt im internationalen Wettbewerb führend sind, ihre Alleinstellung seit Jahrzehnten aufgebaut haben. Es stellt sich deshalb die Frage, ob wir unseren Wettbewerbern überhaupt noch ermöglichen können, große Player zu werden oder ob diese Möglichkeit de facto wegen der monopolartigen Stellung der Konkurrenz gar nicht mehr besteht. Ich hoffe, dass es nochmal einen Moment geben wird, in dem wieder ein richtiger Wettbewerb stattfinden kann. 

Wir müssen aufpassen, dass die europäische Gesetzgebung und die nationalen Förderinstrumente gut ineinander greifen und wir nicht mit der einen Seite etwa datenregulatorisch etwas aufbauen, was wir mit der anderen wieder konterkarieren. Wir müssen zum Beispiel bereit sein, Daten zu teilen, ohne in Richtung einer chinesisch-autoritären oder kaum regulierten us-amerikanischen Variante zu verfallen. Es ist unsere europäische Aufgabe, eine menschenfreundliche Digitalisierung hinzubekommen, die aber trotzdem auch wirklich wirksam und zeitgemäß ist. Damit wir nicht am Ende de facto die us-amerikanischen Modelle haben, weil bei uns gar nicht die Möglichkeit da war, einen Markthochlauf nach unseren eigenen Regeln zu organisieren. 

Noch einmal zurück nach Deutschland: Im internationalen Vergleich weisen wir eine sehr geringe Gründungsneigung auf, die seit den 2000er Jahren messbar abgenommen hat (KfW 2022). Was kann die Politik tun, damit aus dem Land der Denker und Tüftler auch ein Land der Gründer und Gründerinnen wird? 

Gründerinnen ist hier genau das passende Stichwort. Denn hier ist unser Nachholbedarf am größten: Wir haben noch viel ungenutztes Potential, da wesentlich weniger Frauen als Männer gründen. Das weist darauf hin, dass wir bei der Gründungsneigung nicht nur ein generelles, sondern auch ein spezifisches Problem haben.

Zum generellen Problem: Eine bessere Gründungskultur kann man nicht verordnen, aber wir können sie auf politischem Wege fördern, indem wir Gründung schon in der Schulbildung vermehrt thematisieren, an Hochschulen Gründungszentren stärken, wo Unternehmen und junge kluge Köpfe auch räumlich nah beieinander sind. Ein anderer Punkt ist natürlich, dass es in Deutschland zu lange dauert, ein Unternehmen zu gründen und eine Finanzierung aufzustellen. Hier müssen wir besser werden und Hürden abbauen. Was den Kapitalzugang betrifft, haben wir mit dem Zukunftsfonds ein gutes Instrument an der Hand.

Zum spezifischen Problem der geringen Gründungsneigung bei Frauen: Die Unternehmensgründung fällt oft in die gleiche Lebensphase wie die Familiengründung. Das führt in Deutschland aus strukturellen und kulturellen Gründen dazu, dass Männer häufiger gründen als Frauen. Bei dem Förderprogramm EXIST vereinfachen und standardisieren wir die Elternzeitmodelle und ergänzen das. mit spezifischen Förder- und Mentoringprogrammen wie etwa EXIST-Women. Das Potenzial von Frauen in der Unternehmensgründung auszuschöpfen, ist immer noch eine große Aufgabe. 

Sie waren gerade für Regierungskonsultationen in Tokio. Was kann Deutschland in Sachen Innovationspolitik von Japan lernen?

In Japan gibt es eine wesentlich engere Kooperation zwischen Staat und Wirtschaft, als es bei uns der Fall ist. Nicht jede staatliche Investition der letzten Jahrzehnte war von Erfolg gekrönt. Was wir im positiven Sinne von Japan lernen können, ist die Koordinierung von Markthochläufen und das Sicherstellen, dass gute Ideen durch Industriekooperationen auch wirklich in den Markt kommen. Japan hat zudem eine sehr resiliente Wirtschaft, die ein stärkeres Augenmerk darauf legt, dass Innovation im heimischen Markt stattfindet. Dieses Bewusstsein dafür, dass Abhängigkeit einen hohen Preis haben kann, ist in Japan bei Unternehmen und Staat sehr ausgeprägt.

Zum Abschluss eine grundsätzliche Frage: Zurzeit häufen sich die Abgesänge auf den Innovationsstandort Deutschland. Wie blicken Sie auf die Zukunft des deutschen Innovationsmodells?

Ich bin optimistisch. Wir sind aktuell in einer Phase, in der wir die Grundlagen dafür legen, unseren Wohlstand zu erneuern und klimaneutrales Wachstum zu schaffen. Ich bin immer wieder begeistert davon, wie viele neue Technologien in unserem Land entwickelt werden. Unsere Aufgabe ist jetzt, dass diese Innovationen die Chance haben, schnell genug voran und auf den Markt zu kommen. Wir dürfen uns in der Politik jetzt nicht mit rückwärtsgewandten Debatten verzetteln, sondern müssen Zukunftszugewandheit an den Tag legen. Unsere Aufgabe ist es, schneller zu werden, damit das, was bei uns entsteht, rechtzeitig die Marktreife erreicht und am Ende wieder Weltmarktführer werden kann.

Das Interview führte Paul Jürgensen.

Autor:innen

Franziska Brantner

Bündnis 90/Die Grünen
Franziska Brantner ist Politikerin (Bündnis 90/Die Grünen) und Politikwissenschaftlerin. Seit Dezember 2021 ist sie Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz.

Paul Jürgensen

Senior Grundsatzreferent
Paul Jürgensen ist Senior Grundsatzreferent des Progressiven Zentrums. In dieser Funktion verantwortet er übergreifende Projekte in den Themenfeldern „Gerechte Transformation“ und „Progressives Regieren“.

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