Wie die Energiekrise zur Souveränitätskrise wurde – und wie ein Ausweg aussehen könnte

Es gab Bedenken – sie wurden kaum gehört. Es gab Kritik – sie wurde überstimmt. Und es gab Einflussnahme – sie wurde nicht als echte Gefahr erkannt. Doch nun steht Deutschland vor der schmerzlichen Erkenntnis, dass in der Energie- und Rohstoffpolitik mit Russland in den vergangenen Jahren bittere Versäumnisse geschehen sind. Und aus der Energiekrise ist längst eine Souveränitätskrise geworden. In der europäischen Zusammenarbeit könnte ein Ausweg liegen – wenn Fehler der Vergangenheit nicht wiederholt werden.

Nach sicherheitspolitischen Bedenken ist die durch den russischen Krieg gegen die Ukraine verursachte Gas- und Stromkrise das vermutlich bedeutendste Thema in der deutschen Öffentlichkeit seit dem Beginn der Invasion. In mehreren europäischen Staaten ist angesichts des Krieges die Einsicht erwachsen, dass die Energie- und Rohstoffpolitik der vergangenen Jahrzehnte Abhängigkeiten von Staaten geschaffen hat, die nicht nur zum Teil autoritär geführt werden, sondern wie im Falle Russlands ihre Rohstoffe sogar als strategisches Instrument der Sicherheitspolitik einsetzen. Westliche Demokratien haben einen Teil ihrer Souveränität zugunsten günstiger Rohstoffe abgegeben. Eine bittere Erkenntnis. Und mit der Loslösung von Russland ist es leider nicht getan. Im Bereich der Halbleiterproduktion oder bei seltenen Erden bestehen teils noch ausgeprägtere Abhängigkeiten von einzelnen autokratischen Staaten wie China.

Um zukünftig ein Mehr an Souveränität im Bereich der Energie- und Rohstoffpolitik zu erreichen, braucht es einen neuen strategischen Ansatz, aber auch schnelle politische Fortschritte in Richtung Energiewende und Klimaneutralität

Mehr Souveränität, nicht mehr Autarkie

Kurzfristig lag und liegt der Fokus der Krisenreaktion auf der Diversifikation von Gasimporten und der Reduktion des Gasbedarfs, insbesondere in den Sektoren Wärme, Strom und Industrie. Die politische Debatte darüber, welche zusätzlichen Maßnahmen dafür in den nächsten Monaten notwendig sind (z.B. verpflichtende Reduktion des Gasverbrauchs, Entkopplung Gas- und Strommarkt; Atomkraft) ist in vollem Gange. In der kurzen Frist steht die Energiesicherheit dementsprechend im Vordergrund. Deutschland, dass muss leider festgestellt werden, wäre in der derzeitigen Lage mit am schlechtesten auf einen “Wettlauf des Energienationalismus” vorbereitet. 

In der kurzfristigen Krisenreaktion dürfen jedoch die großen Transformationsthemen und die Auswirkungen in der mittleren Frist nicht aus den Augen verloren werden. Beispielsweise müssen Lock-In-Effekte in neue fossile Infrastrukturen verhindert werden, die dem Ziel der Klimaneutralität bis spätestens 2045 im Wege stehen. Parallel müssen alle Potentiale der Transformation gehoben werden. Dazu gehören der deutlich beschleunigte Ausbau der erneuerbaren Energien, eine Offensive bei der Energieeffizienz und der schnelle Hochlauf der grünen Wasserstoffwirtschaft. Dazu gehören aber auch eine bessere Nutzung der Digitalisierung und die weitere Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren für die Energiewende. 

Mehr Souveränität bedeutet ausdrücklich nicht nationale Autarkie. Zwar gibt es in den Ländern Europas, auch in Deutschland, viele Potentiale für eine erneuerbare Energiewelt, diese sind aber in vielen Fällen limitiert und teurer als in anderen Ländern. Der Handel mit und Import von erneuerbaren Energien und klimaneutralen Produkten wird dementsprechend weiterhin ein wichtiger Baustein der Energiestrategie sein. Zukünftig ist aber in allen Bereichen ein stärkerer Fokus auf Diversifikation und Resilienz notwendig. Beispielsweise bei der Frage nach “Reshoring” der Solarindustrie oder einer neuen Diversifikationsstrategie in den Lieferketten gibt es noch keine einheitliche Perspektive. 

Lock-Ins in fossile Infrastrukturen vermeiden

Zentral ist eine enge europäische Zusammenarbeit. Der European Green Deal bietet einen weltweit einzigartigen Rahmen für Klimaschutz, Souveränität und Wettbewerbsfähigkeit. Dies gilt bei der Produktion von erneuerbaren Energien und grünem Wasserstoff (größtes Potential an den Küsten und im Süden Europas), aber insbesondere auch beim Aufbau von gemeinsamer Energieinfrastruktur und entsprechender Finanzierungsverantwortung. Hier fehlt in vielen Bereichen aber noch das europäische “Mindset”. Das gemeinsame Ziel ist die Klimaneutralität, es wird aber viele unterschiedliche europäische, technologische Wege dorthin geben (vgl. z.B. Rolle der Atomkraft in Frankreich). Ein zentraler, drängender Bereich für die europäische Energiekooperation ist der Ausbau der Offshore-Windenergie. Aufgrund der langfristigen Planungsverfahren und Investitionsvolumina gilt es hier frühzeitig gemeinsame Initiativen und offene Fragen, etwa hinsichtlich der verfügbaren Flächen, anzugehen. 

Die strategische Handlungsfähigkeit Europas definiert sich immer im Verhältnis zu anderen. Der Umbau der Wirtschaft Richtung Klimaneutralität verändert diese strategische Handlungsfähigkeit grundlegend und erfordert ein hohes Maß an internationaler Kooperation. Der zunehmend stark ausgeprägte Nexus von Außen-, Energie-, Klima-, Handels- und Industriepolitik ist weit über die derzeitige Situation hinaus eine “kopernikanische Wende”. Den globalen Trends zur Entkopplung und Fragmentierung sowie sich zuspitzender Systemkonflikte müssen Deutschland und Europa mehr Gestaltungsmacht und -willen entgegenstellen. Traditionelle Partnerschaften werden in einigen, aber nicht in allen Fällen die Partnerschaften der Zukunft sein. Neben einer Vertiefung der Kooperation innerhalb des Westens sind auch viele neue, grüne Handelswege und Kooperationsabkommen denkbar (z.B. grüner Ammoniak aus Namibia; Just Energy Transition Partnership mit Südafrika; grüne H2-Partnerschaft mit Chile). 

Zu vermeiden sind allerdings Lock-In Effekte in fossile Infrastrukturen, die der Klimatransformation entgegenstehen (z.B. avisierte Gaskooperation mit Senegal; langfristige Gaslieferverträge mit Australien). Auch der Klimaclub muss schnell mit Leben befüllt werden, um über die deutsche G7 Präsidentschaft hinaus eine substanzielle Rolle zu spielen. Die derzeitige Situation kann auch den Verhandlungen um progressive Handelsabkommen, etwa mit Kanada, einen neuen Impetus verleihen.

Ein gestaltendes Europa ist aber auch für die Wettbewerbsfähigkeit und letztendlich fortdauernde Souveränität des Kontinents im Verlauf der Klimatransformation essentiell. Technologisch sind europäische Akteure in vielen zentralen Transformationstechnologien und klimaneutralen Wachstumsmärkten gut positioniert (z.B. Circular Economy, Wärmepumpen), diese Position ist aber kein Selbstläufer. Systemische Integration, die Produktion von ausreichend Strom und diversifizierte Importrouten für strategisch wichtige Rohstoffe erfordern zusätzliche Investitionen und gemeinsames handeln. Beispielsweise stellt sich die USA mit dem Inflation Reduction Act im Bereich des Recyclings von Rohstoffen deutlich progressiver auf, Start-Ups wie Avanti könnten zum “Game Changer” bei der Batterieproduktion werden. Europa exportiert derzeit noch Elektroschrott, obwohl daraus seltene Erden gewonnen werden können. Die richtige Balance von (auch transatlantischer) Kooperation in diesen Bereichen und europäischer Industriepolitik wird eine große Herausforderung der nächsten Jahre. Europa darf in Märkten nicht zurückfallen, in welchen ein komparativer Vorteil möglich ist. Parallel ist aber auch ein deutlich stärkerer Fokus auf die Potentiale der Energie- und Materialeffizienz ausschlaggebend: “Souveränität wächst mit jeder Kilowattstunde, die wir nicht verbrauchen”.  

Neue Strategien für die Transformation

Die derzeitige “Souveränitätskrise” wurde durch hohe fossile Energiepreise gekoppelt mit der Abhängigkeit von Russland verursacht. Erneuerbare Energien sind aus technologischer, wirtschaftlicher und politischer Perspektive die Lösung. Die Energiewende erfordert jedoch ein sehr hohes Maß an globaler Kooperation (u.a. für Großprojekte mit hohen Investitionsausgaben), aber auch lokal und regional sind neue Strategien für die Transformation und soziale Ausgewogenheit notwendig

In Deutschland gibt es hinsichtlich der Potentiale und Verfügbarkeit erneuerbarer Energien ein Nord-Süd-Gefälle, die entsprechende Infrastruktur (Leitungen) ist sowohl für die Nord-Süd Verbindungen als auch im Bereich der Verteilernetze noch nicht ausreichend entwickelt. Viele Standorte von gestern können die Standorte von morgen werden. Gleichzeitig gilt es, Perspektiven für die energieintensiven Industrien im Süden Deutschlands zu ermöglichen. Schnelle Maßnahmen, um den Fachkräftemangel für die Klimatransformation zu adressieren, könnten mit der Chance gepaart sein, traditionelle technische Berufe und das Handwerk wieder attraktiver für mehr junge Menschen zu machen.  

Abschließend weisen viele Erkenntnisse darauf hin, dass eine neue Industriepolitik für Deutschland und Europa notwendig ist, um die Energiesouveränität des Kontinents im Kontext der Klimatransformation zu stärken. Während weiterhin Kompetenzen in den Bereichen Technologie, Produktion und Handel von Energie notwendig sein werden, gilt es, bestehende und neue Kernkompetenzen im Rahmen der Reformvorhaben des European Green Deals herauszuarbeiten und diese Bereiche deutlich aktiver zu gestalten. 

Auf unserem politischen Symposium „Fortschritt aus der Krise“ diskutierten Expert:innen in drei Fachgruppen. Dieser Text entstand auf Grundlage der in Fachgruppe 1 geführten Diskussion mit dem Titel: „Souveranität“: Energie- und wirtschaftspolitische Souveränität unter Bedingungen der (De-)Globalisierung.

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