Unsere Jugend stärken: Mit drei B’s gegen Einsamkeit und für Demokratie

In ihrem Beitrag für „Jugendsozialarbeit aktuell“ erklärt Melanie Weiser vom Projekt „Kollekt“ den Zusammenhang von Einsamkeitserfahrungen Jugendlicher und Extremismus. Sie zeigt auf, welche Schritte es braucht, um Einsamkeit präventiv zu bekämpfen – und so Demokratie zu stärken.

Einsamkeit war lange ein Phänomen, das ausschließlich mit älteren Menschen in Verbindung gebracht wurde. Seit den Jahren der Coronapandemie ist die Aufmerksamkeit dafür jedoch breiter aufgestellt – und zwar mit Grund: Seit 2020 zeigen Befragungen deutlich, dass Einsamkeit, also das subjektive Gefühl, zu wenig Kontakte zu haben und keine Nähe zu anderen Menschen zu spüren, bei jungen Menschen stärker verbreitet ist als bei allen anderen Generationen. Dieses Gefühl kann sich auf das Vertrauen junger Menschen in ihre Mitmenschen und in politische Institutionen auswirken und in der Folge auch die demokratische Beteiligung beeinflussen.

Das Projekt Kollekt vom Progressiven Zentrum, gefördert durch das Bundesprogramm Demokratie leben! des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, beschäftigt sich seit 2021 mit der Frage, wie bei jungen Menschen Einsamkeitserfahrungen mit antidemokratischen Tendenzen bis hin zu extremistischen Denkmustern zusammenhängen. In Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Claudia Neu, Prof. Dr. Beate Küpper und Prof. Dr. Maike Luhmann entstand hierbei die Studie „Extrem einsam? – Die demokratische Relevanz von Einsamkeitserfahrungen unter Jugendlichen in Deutschland“, bei der zwischen Februar und Juni 2022 zehn Tiefeninterviews und zwei digitale Fokusgruppen mit einsamen Jugendlichen sowie eine repräsentative Umfrage unter 16- bis 23-Jährigen durchgeführt wurden.

Mehr als die Hälfte aller jungen Menschen fühlen sich einsam

Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass es 55 Prozent der befragten jungen Menschen manchmal oder immer an Gesellschaft fehlt und 26 Prozent nicht das Gefühl haben, anderen Menschen nah zu sein. Studien aus dem Jahr 2024 machen deutlich, dass dieses Niveau von Einsamkeit bei jungen Menschen bis heute anhält. Dabei ist die Betroffenheit kein Zufall, es lassen sich Risikofaktoren ausmachen. Junge Einsame leben häufiger allein, öfter auf dem Land, sind seltener in einer Liebesbeziehung, in der Regel finanziell nicht gut aufgestellt und haben häufiger eine Migrationsgeschichte. Deutlich häufiger als ihre nicht-einsamen Gleichaltrigen fühlen sie sich an bestimmten Orten unwohl. Diese Orte sind zumeist öffentliche Räume, wie die Schule, Ausbildungsplatz oder Universität.

Einsamkeit kann sich sowohl physiologisch als auch psychologisch auf das Wohlbefinden der Betroffenen auswirken. Belegt ist, dass Einsamkeit beispielsweise lebensverkürzend wirkt, da sie das Risiko für einen Herzinfarkt oder Schlaganfall erhöht und so schädlich ist wie das Rauchen von 15 Zigaretten am Tag. Neben diesen individuellen Auswirkungen wurden die gesellschaftlichen Folgen von Einsamkeit in bisherigen Studien jedoch kaum behandelt. Dabei bedeutet Einsamkeit nicht nur das Fehlen von vertrauensvollen, engen Beziehungen (emotionale Einsamkeit). Sie kann auch dann entstehen, wenn es an guten Beziehungen innerhalb eines Freundeskreises und einer Einbindung in soziale Netzwerke fehlt (soziale Einsamkeit). Fehlt es Menschen an Zugehörigkeit zu größeren gesellschaftlichen Gruppen, zu einer Gemeinschaft oder zur Gesellschaft insgesamt, spricht man von kollektiver Einsamkeit. Einsamkeit ist somit zugleich ein subjektives, individuelles und gesellschaftliches Phänomen, das sich auf das Zusammenleben und in der Folge auf demokratische Einstellungen auswirken kann. Denn der Zuspruch zur Demokratie hängt damit zusammen, wie stark sich Individuen mit der Gesellschaft verbunden fühlen.

Es gibt einen Zusammenhang zwischen Einsamkeit und antidemokratischen Einstellungen junger Menschen

Diesen Zusammenhang bestätigen die Studienergebnisse von „Extrem einsam?”: Junge Menschen, die Einsamkeit erleben, neigen eher zu autoritären Einstellungen, zur Billigung politischer Gewalt und zu Verschwörungsmentalität. Nur 51 Prozent der einsamen Jugendlichen halten die Demokratie für die beste Staatsform (gegenüber 60 Prozent der Nicht-Einsamen).


„Die Demokratie ist die beste Staatsform.“

Einsamkeitserfahrungen bei Jugendlichen führen zu erhöhter Ablehnung von Demokratie

Mehr als die Hälfte (55 Prozent) der jungen Menschen bemängeln, die Politik greife die für ihre Altersgruppe relevante Themen nicht auf und nur rund ein Viertel stimmen der Aussage „Ich kann die Politik beeinflussen“ zu. Ihre wahrgenommene politische Selbstwirksamkeit, also das Gefühl, die Politik beeinflussen, sich an politischen Prozessen beteiligen zu können und in diesen Prozessen auch gehört zu werden, ist gering. Das kann junge Menschen empfänglich für antidemokratische Kampagnen machen, von denen sie gezielt angesprochen werden, die ihnen ein Gefühl des Gehörtwerdens vermitteln und simplifizierte oder nur scheinbare Lösungen für ihre Sorgen und Ängste aufzeigen. An dieser Stelle ergibt sich ein Ansatzpunkt für die Stärkung demokratischer Einstellungen bei jungen Menschen.

Mit drei B’s gegen Einsamkeit und für Demokratie: Beachtung, Bildung, Beteiligung

Der erste Schritt zur Prävention von Einsamkeit und zur Stärkung der Demokratie besteht darin, junge Menschen ernst zu nehmen. Ihre Zukunftssorgen und -ängste sowie das Gefühl, damit nicht gehört zu werden, sind real und müssen gesamtgesellschaftlich und politisch anerkannt werden – kurz gesagt Beachtung finden. In dieser Generation sind nicht nur die zukünftigen Entscheidungsträger:innen, die unsere Gesellschaft und nachfolgende Generationen prägen werden. Sie sind die Gesellschaft von morgen, die wählen und sich engagieren wird – oder auch nicht – und somit die Demokratie und alle, die in ihr Leben prägen wird. Junge Menschen sind daher nicht nur ein elementarer Teil unserer Zukunft, sondern auch der Werte, Prinzipien und der Politik, die in den kommenden Jahrzehnten das Leben in Deutschland prägen werden. Hierfür sollten gesellschaftliche Verbundenheit und freiheitlich-demokratische Prinzipien die Grundsteine sein.

Doch die Demokratie besteht, weil sie gelebt wird. Sie darf daher nicht erst im Leben von jungen Menschen auftauchen, wenn man mit 16 oder 18 Jahren das erste Mal vor einer Wahlurne steht, sondern muss bereits vorher vermittelt und erlebt werden. Eine Bildungsoffensive kann hierbei zwei Ziele vereinen: Sie kann auf der einen Seite über Einsamkeit aufklären, dabei unterstützen, das Thema zu entstigmatisieren und Wege aus der Einsamkeit vermitteln. Der „Methodenkoffer gegen Einsamkeit” des Kollekt-Projekts bietet hier sechs konkrete methodische Ansätze zur Aufklärung über und Arbeit gegen Einsamkeit für Pädagog:innen, Lehrer:innen und Sozialarbeiter:innen. Zudem kann Bildung Demokratie erfahrbar machen – sowohl theoretisch als auch praktisch. Junge Menschen interessieren sich für das politische Geschehen, wünschen sich jedoch beispielsweise mehr Informationen zu programmatischen Unterschieden der Parteien, um eine fundierte Wahlentscheidung treffen zu können. Doch Demokratie kann nicht einfach auswendig gelernt werden, sie muss praktiziert werden. Somit reicht es nicht, Inhalte des schulischen Lernens zu reformieren; auch Beteiligungsangebote in Schulen müssen ausgebaut werden. Nur innerhalb von Regelstrukturen werden alle Mitglieder zukünftiger Generationen sicher erreicht. Eine Einbindung von Projekten wie zum Beispiel „aula” oder „Schüler*innenHaushalt” integrieren und normalisieren hierbei Beteiligung in die Lebensrealität junger Menschen und stärken so ihre demokratische Haltung. Denn wer daran gewöhnt ist, sein Umfeld mitzugestalten und mitzuverantworten, wird auch nach der Schule noch gerne weiter daran mitarbeiten. Gleichzeitig wird so einer von vielen Wegen eröffnet, Schule zu einem Ort zu machen, an dem sich mehr junge Menschen wohlfühlen.

Jedoch muss Beteiligung nicht nur im schulischen Kontext gestärkt werden. Bereits heute gibt es dank Organisationen wie „Es geht LOS” und Jugendverbänden Projekte und Möglichkeiten, junge Menschen in kommunale und bundesweite Entscheidungen miteinzubeziehen. Von Zukunftsbudgets, über deren Verfügung Kinder und Jugendliche entscheiden und einer Absenkung des Wahlalters bis hin zu Wahlkreistagen von Abgeordneten des Deutschen Bundestags, Jugend- und Bürger:innenräten gibt es vielfältige Formate der Beteiligung, die auf allen Ebenen Politik erlebbar machen. Gleichzeitig geben sie jungen Menschen in Beteiligungsprozessen eine Stimme und stärken so ihre Selbstwirksamkeit auf demokratische Weise.

In allen drei Bereichen – Beachtung, Bildung und Beteiligung – existieren folglich Ansätze, Projekte und Ansprechpartner:innen für Praxis und Politik zur Bekämpfung von Einsamkeit und der Stärkung des demokratischen Mindsets junger Menschen. Einsamkeit und Demokratie haben eines gemeinsam: Sie können nur gemeinsam angegangen werden. Denn der Weg aus der Einsamkeit braucht unterstützende Personen und Strukturen und auch die repräsentative Demokratie funktioniert nur über die Einbindung aller Gruppen. Eine Stärkung junger Menschen in ihrer sozialen, gesellschaftlichen und demokratischen Position bildet daher das Fundament ihrer und unserer Zukunft.

Zuerst erschienen in Jugendsozialarbeit aktuell (Nr. 229 / 2024) der Katholischen Jugendsozialarbeit Nordrhein-Westfalen.

Autorin

Melanie Weiser

Junior Projektmanagerin
Melanie Weiser ist Junior Projektmanagerin für demokratiepolitische Projekte im Schwerpunktbereich Resiliente Demokratie. Zuvor war sie unter anderem im Bundestag an der Schnittstelle zum Ministerium für Wirtschaft und Klimaschutz tätig und arbeitete bei der Alliance for Securing Democracy des German Marshall Funds in Brüssel.
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