Transformationsregionen: Sind die Verlierer von heute die Gewinner von morgen?

Die Transformation wird manche Regionen stärker treffen als andere. Daraus ergeben sich nicht nur andere Ansprüche an eine Industriepolitik – auch die soziale Frage muss neu beantwortet werden.

Die Transformation in eine klimaneutrale Zukunft erfordert den grundlegenden Umbau der deutschen Industrie. Dafür sind erhebliche öffentliche und private Investitionen nötig – und nicht alles wird sich mit Geld lösen lassen. Es braucht Innovation, ausreichend Fachkräfte, Planungssicherheit, gesicherte Energiequellen und kluges staatliches Handeln. All das setzt auch die industriellen Kraftzentren Deutschlands unter Druck. (Ehemals) strukturschwache Regionen im Osten und Norden der Republik hingegen verfügen aufgrund guter Bedingungen für erneuerbare Energien häufig über Standortvorteile. 

Die Debatte über regionale Ungleichgewichte in der Transformation wurde zuletzt politisch neu aufgeladen. Die geoökonomischen und -politischen Entwicklungen infolge des Kriegs gegen die Ukraine etwa machten regionale Unterschiede deutlich. Der rapide Ausstieg aus dem Gas- und Ölgeschäft mit Russland war ein Schock für die deutsche Wirtschaft und hat die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung kurzfristig herausgefordert. Es ist noch offen, welche langfristigen Effekte der Umbau der Energieimportinfrastruktur auf unterschiedliche Regionen in Deutschland haben wird. 

In den USA setzt der wegweisende Inflation Reduction Act (IRA) bei Transformationsregionen an. Hier wird deutlich: Auch wenn die USA industriepolitisch vorgelegt haben, ähnelt sich die Rhetorik der Regierungen in Washington und Berlin. Olaf Scholz’ Ruf nach mehr Respekt für gute Arbeit und die Lebensleistung ähnelt der Strategie des US-Präsidenten, hochqualifizierte Jobs in den ehemaligen Industrieregionen der USA zu schaffen. 

Dabei geht es auf beiden Seiten des Atlantiks nicht nur um ökonomischen Umbau, sondern auch um soziale Gerechtigkeit beim industriellen Wandel, der für die Menschen in den Regionen und den betroffenen Industriezweigen deutlich spürbar ist. Schon im Ansatz des deutschen “Strukturstärkungsgesetz Kohleregionen” von 2020 zeigte sich beispielhaft: Neben öffentlichen Investitionen braucht es ein ganzheitliches Konzept, um den Menschen ökonomische und soziale Perspektiven zu geben. Ansonsten droht, dass vor allem rechtspopulistische Akteur:innen mit ihren Narrativen gegen Wandel und Fortschritt die Nährböden für Unmut und Entrüstung bereiten.

Europa sollte rasch entscheiden, ob es einen ähnlichen Plan wie die USA zur Modernisierung der Infrastruktur für eine klimaneutrale Produktion und zur Stärkung der Industrie im Binnenmarkt entwickeln kann. Bereits nach der Finanzkrise 2008/2009 haben der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und seine Gewerkschaften mit einem Marshallplan für Europa massive Investitionen in die europäische Infrastruktur gefordert. Die Forderungen von damals haben nichts von ihrer Aktualität eingebüßt.

Blicken wir auf die Transformationsregionen in Deutschland, stellen sich also folgende Fragen: Verändern sich die regionalen Kräfteverhältnisse in Deutschland durch die Transformation grundlegend und was bedeutet das für die regionale Struktur- und Industriepolitik? Wie können die materiellen und immateriellen Bedingungen für einen erfolgreichen Umbau gewährleistet werden? Und was muss eine progressive Strukturpolitik leisten, um die Transformation voranzutreiben und zugleich gleichwertige Lebensverhältnisse zu fördern?

Ein handlungsfähiger Staat kann massive Investitionen anstoßen

Definiert werden muss vor allem die Rolle des Staates – sowohl in der Industriepolitik als auch in der Transformation ganzer Regionen mit all ihren gesellschaftlichen Herausforderungen. Der Wandel ist so umfassend, dass ein Festhalten an Sparpolitik – symbolisiert und im Grundgesetz manifestiert durch die Schuldenbremse – wirtschaftspolitisch und sozial unsinnig ist. Wir brauchen massive Investitionen in digitale Netze, die Verkehrs-, Lade-, und sonstige Infrastruktur und in Qualifizierungsangebote für die Beschäftigten.

Subventionen in einzelne Branchen und/oder Unternehmen von strategischer Bedeutung sind für die IG Metall Mittel zum Zweck, um möglichst geschlossene Wertschöpfungsketten aufzubauen. Dabei gilt jedoch: Gute Arbeit und Tarifbindung müssen genau wie bei öffentlichen Subventionen die Richtschnur bei der öffentlichen Auftragsvergabe sein. Die Unterstützung von Ansiedlungen in strategischen Bereichen wie beispielsweise der Halbleiter- oder Batterieindustrie ist unerlässlich, um unabhängiger von volatilen weltweiten Lieferketten zu werden. Und darüber hinaus leistet sie einen Beitrag zur strukturpolitischen Entwicklung einzelner Regionen.

Im Ansatz der missionsorientierten Industriepolitik übernimmt der Staat eine aktivere Rolle. Das bedeutet eine stärkere Steuerung des industriellen Wandels entlang sozial erwünschter Kriterien und mit dem Wohl der Allgemeinheit im Blick. Wenn der Staat Subventionen verteilt, ist es demnach zentral, statt auf großflächige Ausschüttungen auf einzelne Zugpferde zu setzen und diese dann umfangreich zu unterstützen. 

Transformation ganzheitlich verstehen

Eine Gefahr liegt darin, Transformation und Industriepolitik zu eng zu verstehen. Denn der Umbau betrifft die ganze Gesellschaft. Hier stellt sich vorrangig die Frage, welche Zielbilder und Visionen die Politik im Sinne des Gemeinwohls überhaupt verfolgt. 

Es braucht eine strategischere und demokratische Vorausschau, um eine reine “Verwaltungslösung” der Transformation zu verhindern. Dabei können Wissen und Erfahrungen von Akteuren (Verbände, Gewerkschaften, Zivilgesellschaft, Bürger:innen, Unternehmer:innen), die die Transformation gestalten und in die Tat umsetzen, eine wichtige Quelle von Expertise sein und somit staatliches Handeln ergänzen und begleiten. Die globalen und nationalen ökologischen Erfolgskriterien und Ziele sind beschlossen, die sozialen (leider) noch nicht. Unter anderem Gewerkschaften und Betriebsräte sind auf diesem Gebiet aktiv und bringen sich ein. 

Die Wahrnehmung der Risiken durch die Transformation führt bereits jetzt dazu, dass Bürger:innen sich von fortschrittlichen Ansätzen in der Transformation abwenden und rechtspopulistischen Versprechen verfallen. Das enorme Vertrauenskapital auf kommunaler Ebene sollte man in der Transformation als wichtige Ressource verstehen, um diese Menschen wieder in das demokratische und rechtsstaatliche Lager zurückzuholen. Mehr kritische Debatte vor Ort und die Bereitschaft, Investitionsentscheidungen an kommunale Stellen zu übergeben, sind zwei Ansätze dafür.

Es darf ebenso nicht ausgeblendet werden, dass auch andere Sorgen als die vor der Klimakrise legitim sind. Es braucht daher mehr “trade-offs”, die für die Bevölkerung nachvollziehbar und verständlich sind. In der Industriepolitik geht es stets auch um Innovation und die Berücksichtigung der vielfältigen Auswirkungen staatlicher Subvention. In der Infrastrukturpolitik ist das etabliert: Neben großen Nutznießern profitierten schon kurzfristig auch viele kleine Betriebe und Privathaushalte. Staatliche Förderung sollte immer auch gesellschaftspolitische Ziele verfolgen, wie beispielsweise die Erhöhung der Tarifbindung oder den Ausbau der Mitbestimmung zugunsten guter Arbeit. 

Themen der Transformation in der Mitte der Gesellschaft diskutieren

Was im Fall der Energieversorgung von geographischen Faktoren determiniert wird, unterliegt in anderen Transformationsprozessen dem Ermessen der Regierung und von Unternehmen. Reshoring von Industrie und der Derisking-Ansatz gegenüber China können in Deutschland Gewinnerregionen hervorbringen. Wer von üppigen Subventionen wie in den USA träumt, könnte von der europäischen Antwort bislang aber enttäuscht werden. Der Green Industrial Plan der EU verfügt nicht über dieselbe Schlagkraft wie der IRA.

Sollten sich Europa und Deutschland doch noch zu einer ambitionierteren Industriepolitik entschließen, könnte darin der Schlüssel zur Belebung abgehängter Regionen liegen. Statt der Tendenz zu wenigen ökonomisch erfolgreichen Agglomerationen nachzugeben, könnte progressive Industriepolitik die “places that don’t matter” wieder dynamisieren und zugleich der klimaneutralen Produktion einen großen Schritt näherkommen. Das schließt eine Politik, die starke Regionen stärkt, nicht aus.

Die Themen der Transformation müssen in der Mitte der Gesellschaft diskutiert werden. Das Gebäudeenergiegesetz (GEG) hat den hohen Bedarf nach gesellschaftlicher Aushandlung gezeigt. Wer der Diskussion aus dem Weg geht, sollte sich über die Krise der liberalen Demokratie nicht wundern. Die Transformation der Industrie und der gesamten Gesellschaft wird gelingen, wenn der Staat und politische Akteur:innen auf allen Ebenen eine eingreifende und aktivierende Rolle wahrnehmen. 

Dieser Text ist auf Grundlage einer Fachgruppendiskussion während unseres politischen Symposiums “Wie viel Konflikt verträgt die Transformation” am 28. Juni 2023 in Berlin entstanden.

Autor

Dirk Schulze

IG Metall
Dirk Schulze ist Bezirksleiter der IG Metall Berlin, Brandenburg, Sachsen.

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