Deutschland, inmitten einer Welt im drastischen Wandel. Gerade einmal drei Wochen liegt das Ampel-Aus zurück. Seitdem gab es eine unselige Debatte über das Datum der Vertrauensfrage und irgendwie auch über Druckerpapier, hässliche Scheidungsszenen zwischen der FDP und ihren Ex-Koalitionspartnern sowie zum Teil höchst öffentlich ausgebreitete Personaldebatten und -entscheidungen in Vorbereitung auf die vorgezogene Bundestagswahl am 23. Februar 2025. Politik als Politainment noire.
Nach diesem Theaterdonner richtet sich der Blick nun endlich auf die Programmatik. Mit welchen Inhalten wollen insbesondere die progressiven Parteien in die kommende Bundestagswahl ziehen? Wie stellt sich das rot-grüne Lager – der Farbe Gelb nunmehr entkleidet – angesichts grassierender Wachstumsschwäche der deutschen Wirtschaft, wachsendem Unsicherheitsempfinden der Bürger:innen und globalem Rechtsruck neu auf?
Trägheit als Schutzmechanismus trifft polit-strategische Gemengelage
Klar ist: Die Zeiten der großen Projekte, der umstürzenden Reformwerke, ja, der Aufbrüche sind vorbei, Utopieüberschüsse sind nicht mehr zu befürchten. Die SPD hat den revolutionären Furor ihrer Anfangszeiten ja schon länger hinter sich gelassen. Doch auch die Grünen wollen niemanden mehr verschrecken. Von der sozial-ökologischen Transformation ist kaum mehr die Rede. Zu überfordernd seien entsprechende Ansagen gewesen, sagt auch der Soziologe Armin Nassehi, der sie mit einer gewissen Grundträgheit des Wahlvolks kollidieren sieht:
„Trägheit ist nicht einfach ein Programm, eine Marotte oder ein abzulegender Charakterzug, sondern ein struktureller Schutzmechanismus, der freilich auch Kosten hat. Die Krisendiagnosen jedenfalls sagen, dass schnell etwas getan werden müsste, und zwar von ‚uns allen‘.” Das ließe sich insbesondere am Dauerthema Klimawandel beobachten, „dessen disruptive Dringlichkeits- und Katastrophensemantik sich selbst routinisiert hat”. Die steigende Dringlichkeit erzeuge dabei aber keine schnellen Veränderungen, sondern eher Abwehrreaktionen; diese könne man moralisch kritisieren, müsse sie aber wenigstens begreifen. Weniger ankündigen also, um am Ende mehr umsetzen zu können?
Hinzu kommt eine polit-strategische Gemengelage, wie sie ZEIT-Autor Bernd Ulrich beschreibt: „Die Wirklichkeit verlangt nach großen, radikalen und synergetischen Antworten, auf die das politische System nicht vorbereitet ist und auf die die Politik die Menschen nicht vorbereitet hat. In Deutschland versuchen alle Parteien der Mitte in diesem Wahlkampf noch einmal, vielleicht ein letztes Mal, auf die Qualitative quantitativ zu antworten, auf das Fundamentale graduell und auf das Schnelle langsam.“
Mit Sicherheit und Optimismus in den Wahlkampf
Positiv hervorzuheben ist der Fokus der SPD auf das Thema „Sicherheit im Wandel”, die explizit auch soziale Sicherheit und gesellschaftlichen Zusammenhalt meint – Aspekte, die auch wichtiger Bestandteil eines progressiven Sicherheitskonzepts sind, das eine den Herausforderungen der Gegenwart angemessene Alternative zum klassisch konservativen Sicherheitsverständnis bietet. Ebenso positiv ist, dass die Grünen entgegen aller Schmähungen ihren Optimismus nicht verlieren und weiterhin Konstruktivität und Kompromissfähigkeit erkennen lassen. Mit Blick auf ihren Bundesparteitag in Wiesbaden Mitte November steht zu vermuten, dass die Partei Themen wie Bezahlbarkeit, Klima, Gerechtigkeit, aber auch Wirtschaftsfragen ins Zentrum ihres Wahlkampfs stellen wird.
Skeptisch hingegen macht der ständige Rekurs der SPD auf die Blockaderolle der FDP in der Ampel. In einer künftigen Regierung wolle man endlich das machen, was auch im Programm steht. Das Problem ist: Welcher Koalitionspartner wird dann wieder blockieren? Dabei ist das ständige Sich-Abarbeiten an Friedrich Merz als böser neoliberaler Angstfigur nicht zuletzt politikkulturell problematisch – und wirkt aus der Rolle der Kanzlerpartei heraus wenig souverän. Auf der anderen Seite schwelt bei den Grünen der Dauervorwurf eine Elitenpartei zu sein, wogegen wohl vorerst wenig auszurichten ist.
Immerhin: In Finanzfragen herrscht zwischen SPD und Grünen relativ hohe Einigkeit – sowohl in Hinblick auf die Schuldenbremse als auch auf eine höhere Besteuerung der Superreichen und eine gerechtere Ausgestaltung der Erbschaftssteuer. Auch beim Ausbau der erneuerbaren Energien gibt es viel Konsens. Beide Parteien betonen, dass Sonne und Wind auf mittlere Sicht die kostengünstigste Art sind, Strom zu produzieren. Beide wollen dank reformierter Schuldenbremse die Erneuerung der Infrastruktur endlich angehen.
Mit dem Wachstumschancengesetz, das noch von der Ampel verabschiedet, aber in weiten Teilen noch nicht umgesetzt ist, liegt ein gemeinsamer Katalog von Maßnahmen vor, mit denen die Wirtschaft wieder in die Spur kommen soll. Eine Prämie für Investitionen in Energieeffizienz sowie verbesserte Abschreibemöglichkeiten und eine ausgeweitete Forschungszulage für Unternehmen können mittel- bis langfristig helfen. Angesichts täglicher Krisenbotschaften von Standortverlagerungen und Arbeitsplatzabbau sind jedoch weitere Sofortmaßnahmen dringend geboten.
Doch auch wenn vielerorts erklärt wird, dass die Bundestagswahl – wie die Präsidentschaftswahl in den USA – in erster Linie über wirtschaftliche Themen entschieden werden wird, spielt dieses Mal auch das Thema Außenpolitik eine außergewöhnlich prominente Rolle. Vergangene Krisen und Kriege geschahen in der Regel inmitten von Legislaturperioden und spielten in Wahlkämpfen kaum eine Rolle. Deutschland steht in Bezug auf den Krieg gegen die Ukraine vor einer entscheidenden Wegscheide. Bei diesem Thema sind SPD und Grüne dezidiert uneins: Während die SPD weiterhin mit der Besonnenheit des Kanzlers punkten will, spricht sich Robert Habeck deutlich für eine Lieferung des Marschflugkörpers Taurus aus. Es setzt sich hier die außenpolitische Jamaika-Koalition fort, die bereits zu Ampel-Zeiten erkennbar war, als Grüne und FDP regelmäßig näher bei der Union als bei der SPD standen, im Sinne der Koalitionsdisziplin jedoch auf Kanzlerlinie blieben.
Kein Gegeneinander-Ausspielen von Themen mehr
Quasi als metapolitische Botschaft hat die SPD sich ein Ende des Entweder-oder auf die Fahnen geschrieben – das wird mit Blick auf die am Montag an den Start gegangene Wahlkampfkampagne deutlich: „Entweder Sicherheit oder sichere Renten, gute Löhne und eine starke Wirtschaft? Warum nicht beides?“ So dürfe auch die Unterstützung der Ukraine-Hilfe nicht auf Kosten des sozialen Zusammenhalts in Deutschland geschehen. Die Frage ist, ob diese vermeintliche Wechselwirkung, der so wortreich eine Absage erteilt wird, durch ihre ständige Wiederholung nicht überhaupt erst ins Bewusstsein rückt.
Semantisch setzt die SPD jedenfalls nicht auf eine Neuauflage des gescheiterten Friedens-Wahlkampfs zur letzten Europawahl, sondern kündigt den Kampf für die Bürger:innen des Landes an. Das klingt eher nach Abstrampeln als nach Kontrolle und Gravitas. Die aber versprüht auch Robert Habeck nicht, der als „Kandidat für die Menschen“ an den Küchentischen der Republik erstmal zuhören möchte. Reden ist immer gut, aber man möchte meinen, den progressiven Kräften fehlt es doch seit Jahren nicht an Erkenntnissen, sondern eher am Anerkennen und Verinnerlichen derselben, an Umsetzung und an Diskurskraft.
Die Schicksalsfrage unserer Demokratie
Weniger ankündigen, um am Ende mehr durchzusetzen. Das mag eine Strategie sein. Selten waren die Verhältnisse vor einer Bundestagswahl unübersichtlicher. Keine der Kanzlerkandidaturen ist ein Selbstläufer – auch und gerade nicht die von Friedrich Merz. Nach der Wahl könnten Kanzlerfraktionen historisch klein sein, Koalitionen erneut komplex, der Zwang zu Kompromissen erdrückend hoch – und das bei gesteigertem Profilierungsbedarf der einzelnen Koalitionäre. Oftmals ist jetzt von einer letzten Chance die Rede, die die Parteien der Mitte noch haben. 2029 sei dann die eigentliche Schicksalswahl.
Um eine Partei ist es bei alldem nämlich erstaunlich ruhig: Die AfD wartet nur darauf, dass sich die Parteien der Mitte erschöpfen, verkanten und gegenseitig ausschließen – um irgendwann als die Art von Lösung auf den Plan zu treten, bei der sich alle anderen wünschen, sie hätten ihr Problem zurück. Denn bei all den skizzierten ebenso richtigen wie in Teilen unambitionierten Inhalten fehlt ein Entscheidendes beinahe völlig: die Frage nach dem weiteren Umgang mit den rechtsradikalen Hetzern, die sich schon bald als Schicksalsfrage unserer Demokratie erweisen könnte.
Herzlich
Karl Adam