Jugendliche aus sozial benachteiligten Milieus werden nur selten in politische Debatten einbezogen, ihre Lebensrealitäten oft übersehen. 24 Jugendliche aus Neukölln und Spandau, 5 PolitikerInnen, 3 Workshops zeigten, dass es auch anders geht. Die Schülerinnen und Schüler aus „Brennpunktschulen“ berichteten den PolitikerInnen aus ihrer Lebenswelt und entwickelten gemeinsam Lösungen für die Herausforderungen ihres Alltags.
In den vergangenen Monaten haben hunderttausende junge KlimademonstrantInnen gezeigt, wie man aus einer marginalisierten Position heraus die politische Debatte bestimmen kann. Auch außerhalb des Klimathemas nehmen Jugendliche gesellschaftliche Probleme wahr und sind bereit, sich für eine Veränderung zum Besseren einzusetzen.
Diese Einschätzung bestätigte bereits unser Policy Fellow Jérémie Gagné im Rahmen des Projektes “Schluss mit halben Sachen – wie lässt sich politische Teilhabe für alle fördern?”, für das er Gespräche mit SchülerInnen an Berliner “Brennpunktschulen” führte. Die Ergebnisse dieser Studie verdeutlichten das Potenzial und den Wunsch nach politischer Teilhabe, der unter sozial benachteiligten Jugendlichen zu finden ist. Sie erkennen die gesellschaftliche Bedeutung von Politik und Wissen um den Einfluss politischen Engagements. Jedoch mangelt es ihnen häufig an institutionellem Wissen und vor allem einem Gefühl von Handlungsmacht, da sie oft nicht ausreichend als “Zielgruppe” und AkteurInnen wahrgenommen werden.
Aufbauend auf dem Policy Brief entwickelte Das Progressive Zentrum das Folgeprojekt “PolitikerInnen fragen, Jugendliche antworten”, das die Möglichkeiten für politische Teilhabe von Jugendlichen beispielhaft stärkt. In Kooperation mit der Organisation “Teach First” trafen Berliner Jugendliche aus sogenannten “Brennpunktschulen” fünf Mitglieder des Berliner Abgeordnetenhauses im Progressiven Zentrum. 24 SchülerInnen wurde so, im Rahmen einer dreiteiligen Workshop-Reihe ein direkter Austausch mit politischen EntscheidungsträgerInnen ermöglicht und empfundene Gräben überwunden.
Workshop – SchülerInnen im Lead, PolitikerInnen im Sparring
Während der ersten Sitzung gaben die Jugendlichen den Abgeordneten Einblicke in ihre Lebenswelten und definierten resultierende Themenfelder und Probleme. Mit Hilfe der Fellows von Teach First wurden Probleme gesammelt, aufbereitet und spezifiziert.
Diese präsentierten und diskutierten sie im zweiten Workshop mit den Abgeordneten. Ausgestattet mit dem Wissen um klare politische Adressaten, entwickelten die SchülerInnen mögliche politische Lösungen und brachten sie in den dritten Workshop ein. Die Abgeordneten agierten den Prozess über als politische Sparringspartner der Jugendlichen, gaben Ihnen Raum zur Entwicklung eigener Ansätze – ohne dabei zu paternalisieren.
ÖPNV, Arbeit und öffentlicher Raum – Jugendliche weit politischer als weithin behauptet
Im Laufe des Projekts wurde deutlich, dass die Jugendlichen weitaus politischer sind als ihnen häufig zugestanden wird und sich Problemfelder aus ihrer Lebenswelt oftmals anders und direkter erschließen, als aus Sicht der erwachsenen Akteure.
Ihre Themen und Probleme gestalten sich vielfältig. So wurde nicht zuletzt ein unzulänglicher ÖPNV – besonders in den Berliner Randbezirken – bemängelt, der die Mobilität der Betroffenen erheblich einschränke. Auch mangelhafte Sauberkeit im öffentlichen Raum, Drogensucht und Obdachlosigkeit spielten eine große Rolle.
Letztlich wurden fehlende Möglichkeiten, als Jugendliche legal bezahlt zu arbeiten, und so finanziell unabhängiger zu sein, diskutiert. Im Laufe der Sitzungen konnten so Brücken geschlagen und ein besseres Verständnis für die jeweiligen Lebenswelten und Herausforderungen der beiden Gruppen geschaffen werden.
Grundstein für mehr: SchülerInnnen als Multiplikatoren im eigenen Umfeld
Bereits während der Workshop-Reihe wurde der Grundstein für eine Wirksamkeit über das Format hinaus gelegt. Zum einem macht eine filmische Aufbereitung das Projekt anschlussfähig für Akteure, die ähnliche Formate durchführen möchten.
Auch versprechen sich die OrganisatorInnen eine aktivierende Wirkung auf SchülerInnen. Neben einer Politisierung der Teilnehmenden könnten sie selbst auch als MultiplikatorInnen in ihrem Umfeld agieren und eine politische Teilhabe proaktiv fördern. Zudem versprachen die teilnehmenden PolitikerInnen durch eine “Rückmeldeverpflichtung”, die Jugendlichen darüber zu informieren, wie ihre behandelten Themen in der politischen Berliner Debatte verlaufen. Somit soll es nicht nur bei Begegnungen bleiben, sondern den SchülerInnen die Möglichkeit gegeben werden, Einblicke in politische Prozesse zu bekommen und ihre Gestaltungsmacht zu entdecken.
[Aktualisierung vom April 2020:]
Im Januar 2020 wurde das Anliegen der SchülerInnen in das Berliner Abgeordnetenhaus getragen. Die Frage an die Berliner Regierung bezüglich des öffentlichen Nahverkehrs wurde beantwortet. Auch die journalistischen Newsletter Tagesspiegel-Checkpoint und Tagesspiegel-Leute berichteten über die Probleme und Ideen der Jugendlichen.
Eindrücke von „PolitikerInnen fragen, Jugendliche antworten“
Fotos von Jacob & Alex, 2019