Wer versucht, sich einen Reim auf die Krise der repräsentativen Demokratie zu machen, wird mit einer ganzen Reihe sehr verschiedener Diagnosen und Therapievorschlägen konfrontiert. Eine seit vielen Jahrzehnten weit verbreitete These lautet, die Bürgerinnen und Bürger verlangten nach mehr direkter oder indirekter Beteiligung. Das politische System sei zu wenig responsiv, zu selbstreferenziell, durch Netzwerke in den Parteien zu sehr abgeschottet. Und in der Tat: Erscheint die politische Szene nicht bisweilen wie eine Drehbühne, auf der wie in einem Karussell die immer gleichen Gesichter erscheinen?
Die Standardantwort, die sich aus dieser Diagnose ergibt, lautet: Mehr Partizipation wagen. Der dominante Strang der politikwissenschaftlichen Debatte unter dem Arbeitstitel „democratic innovation“ ist seit langem darauf fokussiert, neue Input-Kanäle zu eröffnen. Bürgerräte gelten momentan als der wohl wichtigste Ansatz, um den Graben zwischen „den Politikern“ und „den Bürgern“ zu schließen. Zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger diskutieren hier unter Anleitung von externen Fachleuten über anstehende politische Fragen. Während beispielsweise Hélène Landemore darin den Königsweg zu einer ganz neuen, nicht mehr im klassischen Sinne repräsentativen Demokratie sieht, setzen Kritikerinnen wie Cristina Lafont Fragezeichen: Versucht man hier etwa, Abkürzungen zu nehmen, den langwierigen politischen Prozess eines Werbens für einen breiten gesellschaftlichen Meinungswandel zu umgehen? Mit Philip Manow muss man die Frage stellen, welche Formen der „Demokratisierung der Demokratie“ am Ende gar eine Entdemokratisierung bedeuten könnten. Die Gefahr, dass am Ende Beteiligungseliten (die legendären schwäbischen Ingenieure in Rente) die neuen Beteiligungsformate dominieren, ist nicht von der Hand zu weisen.
Wie viel Beteiligung ist eigentlich gewünscht?
Aber problematisch an diesem Ansatz der Ausweitung des Input-Kanals könnte nicht nur das Ergebnis, sondern bereits die Prämisse sein, dass sich die Bürgerinnen und Bürger intensiv beteiligen wollen. Wünschen sie sich nicht einfach einen Staat, der seine Aufgaben erfüllt und sie ansonsten in Ruhe lässt? Merkels berühmter Satz „Sie kennen mich.“ drückt genau diese Vorstellung einer delegierenden Beauftragung aus: „Machen Sie sich keine Sorgen, wir kümmern uns, für die Inhalte brauchen Sie sich nicht zu interessieren.“, schien sie den Deutschen zu sagen – und hatte damit über 16 lange Jahre Erfolg.
Die „Zeitenwende“ könnte indes nicht nur in einer neuen geopolitischen Lage bestehen, sondern auch darin, dass das von Merkel in Perfektion inkarnierte Modell einer dienstleistenden und zugleich abpuffernden Demokratie nicht mehr funktioniert. Und dafür gibt es zwei Gründe. Der erste besteht darin, dass ein dienstleistender Staat in eine Legitimationskrise gerät, wenn er nicht mehr – um die grauenhafte Vokabel zu benutzen – „liefert“.
De facto konfrontiert die Bundesrepublik Deutschland heute die Bürgerinnen und Bürger nämlich mit zahlreichen völlig unnötigen und schwer zu rechtfertigenden Zumutungen. Wie ist es möglich, so muss man sich fragen, dass die Zuverlässigkeit der Bahn Lichtjahre hinter derjenigen unserer Schweizer Freunde zurückbleibt? Wer als Eidgenosse in Deutschland mit der Bahn reist, traut seinen Augen nicht. Es ergibt sich das Bild eines vielleicht nicht „failed“, aber doch eines „failing State“.
Auch wer sich vor einer Rhetorik des „Staatsversagens“ hütet, muss feststellen: Die Liste der nicht erklärbaren und schwer erträglichen Missstände ist erschreckend lang. Die Überlastung der Notaufnahmen, der Pflegenotstand, das im freien Fall befindliche Bildungssystem, in dem jeder Ehrgeiz aufgegeben wurde, jemals zu den Klassenbesten wie Finnland oder Kanada aufzuschließen, eine chaotische, inkonsistente und nur durch das Engagement der Bürgerinnen und Bürger überhaupt noch halbwegs erträgliche Migrationspolitik – all dies gehört ebenso auf die lange Liste wie das leidige Problem eines überkomplexen Steuersystems. Man erinnere sich: Das Versprechen eines „einfacheren und gerechteren Steuersystems“ stammt von 2004. In 20 Jahren ist nichts geschehen, was den sozial ungerechten Folgen eines überkomplexen Steuersystems, das jene privilegiert, die die Lücken zu nutzen wissen, entgegenarbeitet. Auch der völlig aus dem Ruder gelaufene Immobilienmarkt gehört zu den Zumutungen, die die Bürgerinnen und Bürger in die Verzweiflung treiben können, solange sie nicht zu jenen gehören, die als Vermieter immer höhere leistungslose Einkommen verbuchen dürfen.
Der populistische Wunsch danach, die Kontrolle wieder zu gewinnen („Take back control!“, hieß es bei den Brexiteers) erscheint vor diesem Hintergrund durchaus verständlich: Vielen Bürgerinnen und Bürgern scheint ihr Staat überfordert, planlos, immer nur reaktiv das jeweils aktuell größte Feuer löschend. Die drei großen Probleme, die die neue Ampel-Koalition aus der Merkel-Ära erbte, die Energieabhängigkeit von Russland, die Sicherheitsabhängigkeit von den USA und die Exportabhängigkeit von China, müssen nun unter enormem Zeitdruck bearbeitet werden. Aber dazu muss erst wieder das Bild eines überhaupt proaktiv und nicht nur reaktiv handlungsfähigen Staates restauriert werden.
Unproduktive Zumutungen
Demokratiepolitisch problematisch ist diese Konstellation, weil die Zumutungen, die der Staat seinen Bürgerinnen und Bürgern damit aufhalst, völlig unproduktiv sind, niemanden besser machen, zu nichts anleiten. Niemand wird in seinen Bürgertugenden gestärkt, wenn in Hamm mal wieder die Zugteilung scheitert, bei der Wohnungsbesichtigung die Schlange 200 Meter lang ist oder bei der Steuererklärung Erinnerungen an Kafka wach werden. Wer durch diese Dinge wundgescheuert ist, reagiert aber – und das ist das eigentlich Dramatische – äußerst gereizt, wenn jene epochalen Zumutungen artikuliert werden, die mit der „großen Transformation“ einhergehen.
Neben den verheerenden Wirkungen des Denkbildes vom „liefernden“ Staat, bricht derzeit nämlich die eigentliche Herausforderung in aller Härte durch: Eigeninitiative, Zuversicht und Planungssicherheit bräuchten die Bürgerinnen und Bürger eigentlich, um die viel größere Zumutung eines Übergangs in das postkarbone Zeitalter zu gestalten. Mit welcher Glaubwürdigkeit aber kann ein Staat diese Zumutungen der bitteren Realität an die Bürgerinnen und Bürger weitergeben, nachdem er über Jahrzehnte versprochen hat, diese in Ruhe zu lassen und zu „liefern“, dabei aber unproduktive Belästigungen verursachte?
Mehr Zumutungen wagen
Aus dieser extrem schwierigen Konstellation scheint nur eine grundlegende Korrektur herauszuführen, die zunächst daran erinnert, dass „Demokratie“ keineswegs bedeutet, dass man den Staat als Dienstleister betrachtet. Die Geschichte der Demokratie lässt sich auch schreiben als eine Geschichte der Zumutungen, die demokratische Staaten an ihre Bürgerinnen und Bürger richten. Nachdem der Kopf des Monarchen gefallen war – ganz wörtlich oder staatsrechtlich durch Konstitutionalisierung –, galt es zunächst, die anfallenden Aufgaben neu zu verteilen. Was andere taten, musste nun selbst getan werden: Verteidigung, Verwaltung, Rechtsprechung, Bildung. In all diesen Bereichen bedeutete Demokratisierung auch, dass man zur Mitarbeit angehalten wurde. Die französische levée en masse ist hierfür nur das naheliegendste Beispiel.
Dass uns heute in Deutschland beispielsweise eine Wahlpflicht oder eine Pflichtfeuerwehr beide als völlig „unzumutbar“ erscheinen, lässt sich selbst schon als Ausdruck einer fragwürdigen Fehlhaltung betrachten. Reflexhaft wird auf solche Vorschläge mit der Warnung vor „Zwangsarbeit“ und „Arbeitsdienst“ reagiert. Beteiligung müsse immer ein „Angebot“ bleiben. Für die Wahlbeteiligung solle besser mit Gratis-Grillwürstchen geworben werden.Aber aus einer republikanischen Sicht sind es genau diese aus der Werbewirtschaft stammenden Vorstellungen des „attraktiv-Machens“, die für eine echte citoyenne und einen echten citoyen würdelos sind: Ein demokratischer Rechtsstaat ist keine Würstchenbude und die Wahl kein Konsumobjekt, das es zu bewerben gilt, sondern eine Bürgerpflicht.
Die Zumutungen der Nachhaltigkeit
Jenseits eines auf Ungebundenheit und Konsum reduzierten Freiheitsbegriffs bestünde die Herausforderung folglich darin, einen genuin politischen Begriff von Freiheit wieder zu entdecken, der auf kollektive Selbstbestimmung setzt, nicht auf individuelle Maximierung des Weltzugriffs und Ungebundenheit. Dass Freiheit beim Individuum beginnt, wie von libertärer Seite zu hören ist, mag ja richtig sein. Nur: Solange sie auch beim Individuum stehenbleibt, bleibt sie naiv. Eine Freiheit, die darauf pocht, dass man als Individuum von allen Zumutungen verschont bleibt und „sein Ding“ machen kann, ist schlicht unreif. Als pubertäre Phase mag eine solche Haltung entwicklungspsychologisch nötig sein. Wenn Erwachsene sie an den Tag legen, sollte sie eigentlich als lächerlich erscheinen.
Dass die Symbolfiguren eines solchen Freiheitsbegriffs – man denke an Elon Musk – hingegen als Heroen, ja als beinahe nietzeanisch anmutende Übermenschen erscheinen, sollte zu denken geben. Denn in diesem intellektuellen Umfeld kann jede Einschränkung klimaschädlichen Verhaltens nur als Angriff auf die Menschenwürde verstanden werden: Im Privatflugzeug nach Sylt zu fliegen, ist dann Ausdruck wahrer „Souveränität“. Die absolutistische Vorgeschichte dieses Begriffs bleibt dann ebenso verdrängt wie die klimaschädlichen Folgen eines solchen Verhaltens. Es gilt: „Die Freiheit nehm‘ ich mir!“. Dass Freiheit mit Verantwortung einhergeht, erweist sich dann als hohle Phrase, die in Sonntagsreden aufgerufen, im Montagshandeln aber widerlegt wird: Ein solcher Freiheitsbegriff bedeutet einfach Verantwortungslosigkeit, ein Recht auf Rücksichtslosigkeit.
Einübung sozialer Freiheit
Dass Freiheit als soziale Praxis eingeübt werden kann, ist keine neue oder originelle These. In der Regel wird dafür aber die „Zivilgesellschaft“ (was immer das genau sein mag) in Haftung genommen. Kirchen und Vereine sollen „Wertevermittlung“ leisten und dem demokratischen Rechtsstaat jene demokratiekompatiblen Bürgerinnen und Bürger zuliefern, ohne die keine Demokratie funktioniert. Oft ist dann mit Böckenförde von den „Bedingungen“ die Rede, „die der demokratische Rechtsstaat nicht selbst bereitstellen kann“.
Die Alternative zu diesem Modell bestünde in der Wiederentdeckung eines Demokratiebegriffs, der die Möglichkeit einschließt, dass der Staat seine Bürgerinnen und Bürger mit Zumutungen konfrontiert. Diese Zumutungen – die Pflicht zur Beteiligung, die Einberufung zu Ämtern, die Wahlpflicht, ja vielleicht sogar eine verpflichtende Bürgerarbeit – wären dann aber nicht konfus, unnötig und korrosiv wie die eingangs genannten Belastungen. Im Gegenteil: Wenn die Zumutungen der Demokratie gerecht verteilt, plausibel erläutert, transparent und fair sind, würden sie die Bürgerinnen und Bürger nicht schwächer, gestresster, ermatteter machen, sondern besser, stärker, erfahrener.
Die alte Formel „Mehr Demokratie wagen!“ würde dann nicht einfach implizieren, immer mehr „Angebote“ zu machen, sondern eben auch: Mehr Zumutungen zu formulieren. Damit könnten Praktiken und Haltungen eingeübt werden, die für die Bewältigung der „großen Transformation“ unverzichtbar sind. Auch hier wird man nämlich wenig Erfolg haben, wenn man weiter dem Glauben anhängt, Nachhaltigkeit ließe sich „sexy machen“. Eine postkarbone Gesellschaft wird sich nicht unbemerkt auf der Hinterbühne der Gesellschaft einrichten lassen. Die Zumutungen kommen so oder so. Klüger scheint es da, sie offen auszusprechen und die Bürgerinnen und Bürger nicht als Konsumenten mit infantilem Freiheitsbegriff, sondern als Mitglieder eines Res publica anzusprechen.
Und wie macht man das? Geboten ist zunächst so etwas wie logische Kohärenz. Zumutungen dürfen nicht widersprüchlich sein. Nichts ist schlimmer als der double-bind zwischen dem Ziel, „das Wachstum anzukurbeln“ und den Ressourcenverbrauch zu minimieren. Wer Zumutungen formuliert, muss erklären, warum diese nötig sind und welche Vorteile ihre Bewältigung verspricht. Außerdem müssen Zumutungen gerecht verteilt werden. Es darf nicht der Eindruck entstehen, jenen, die ohnehin zu kämpfen haben, würden nun noch weitere Bürden auferlegt. „Mehr Zumutung wagen!“ wird nur funktionieren, wenn diese nicht als erratische Kurzschlusshandlungen erscheinen, sondern als Bestandteil einer größeren Strategie plausibel gemacht werden können.