Land schafft Zukunft: Wie die Grünen in den ländlichen Räumen überzeugen können

In den Kategorien von Stadt und Land spiegeln sich in der Wahrnehmung vieler Menschen immer stärker Interessengegensätze wider. Der Schlüssel für grüne Mobilisierung in ländlichen Räumen liegt darin, das zu ändern.

Wer einen Blick auf die politische Landkarte der Bundesrepublik wirft, dem eröffnet sich ein recht eindeutiges Bild einer politischen Geografie: Die Grünen mobilisieren besonders stark in den Städten. Wenngleich die Wahlergebnisse bei der letzten Bundestagswahl und den letzten Landtagswahlen auf Zuwächse in nahezu allen Wahlkreisen beruhten – die größte Dynamik des Erfolgs entstand aus der Wähler:innemobilisierung in den diversen urbanen Zentren der Republik. Je ländlicher auf der anderen Seite  der Charakter von Wahlkreisen wird, desto geringer fiel der Stimmzuwachs für die Grünen bislang aus. Damit bleibt für die Grünen die Herausforderung bestehen, auf dem „Land“  noch mehr Bürger:innen für sich zu gewinnen. 

Stadt und Land als wiedererwachte Mobilisierungskraft

Freilich hält die begriffliche Verengung auf Stadt und Land einer näheren Betrachtung kaum stand: Denn, so wenig es die Stadt gibt, gibt es den ländlichen Raum. Hineingezoomt in die politische Landkarte heißt das, dass sowohl innerhalb von Städten in ihren einzelnen Stadtgebieten sehr unterschiedlich gewählt wird, als auch in den ländlichen Räumen von beispielsweise Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein oder Thüringen. Jedoch erleichtert das Reduzieren auf die Stadt-Land-Dimension, strukturelle Besonderheiten herauszustellen, die sich aus ökonomischen und kulturellen Prozessen speisen. Denn auch wenn in den letzten Jahrzehnten der Industriegesellschaft mit Urbanisierung, Ausbau von Infrastruktur, Strukturumbrüchen in der Landwirtschaft und letztlich auch einer Diffusion urbaner Lebensstile zu einem gewissen Grad ein Einebnen von Interessengegensätzen und Kulturdifferenzen geführt hat, lebten „Stadt“ und „Land“ als Imagination natürlich in den Köpfen und als ein Teil der Kultur weiter. 

Letzteres gewinnt an Relevanz, da wir in einer Zeit leben, in der strukturelle ökonomische Prozesse unserer Wissensgesellschaft und damit verbundene kulturelle Prozesse dazu führten, dass die Stadt-Land-Dimension wieder eine wichtige Rolle auf der politischen Bühne spielt und die Mobilisierungskraft von Identitätsbildern „Stadt“ und „Land“ durchaus politisch genutzt wird.1

Besondere Veränderungsdynamik in den Städten

Auf der Suche nach angemessenen Zugängen auf die Stadt-Land-Perspektive wird häufig der diagnostische Blick auf die ländlichen Räume und deren Anderssein bzw. Defizite gerichtet, nicht selten aus einer urbanen Perspektive. Ein Perspektivwechsel scheint hier jedoch angemessen, da eine besondere Veränderungsdynamik in den Städten feststellbar ist. Eine herausragende Komponente liegt in den Veränderungen von kulturellen Prozessen: Die für die Wissensökonomie nötige Agglomeration findet in großen Teilen in urbanen Mittel- und Großzentren statt. Universitäten mit ihren vielen jungen Studierenden und Akademiker:innen diverser Berufe stehen für diese Veränderung von Sozialstruktur und Milieuzusammensetzung, die sich in ihrer Intensität stärker in den urbanen Räumen zeigen. Prägend wirken hier Habitus oder Sprache, nicht selten geht diese mit stärker kosmopolitischen Einstellungen einher. Von diesen Veränderungen in den Städten profitieren insbesondere die Grünen, die zunehmend in diesem Milieu fest verankert sind.

Diese Milieuveränderungen in den Städten beeinflussen auch die Identitätsbilder Stadt und Land. Problematisch wird es, wenn das „Wir“ und die „Anderen“ nicht mehr im Sinne einer Vielfalt und unterschiedlichen Kultur verinnerlicht ist, sondern auf kultureller Ebene als ein Statusverlust empfunden wird. Wirkung entfaltet dies dann als gefühltes Abgehängtsein ländlicher Regionen.2 Diese emotionale Ebene kann abgeholt und als Mobilisierungskraft für den politischen Wettbewerb genutzt werden, wenn das gefühlte auch auf ein reales Abgehängtsein trifft. Die Missstände etwa einer schlechten Erreichbarkeit von Krankenhäusern oder des schleppenden Digitalisierungsausbaus sind hinlänglich bekannt. Nicht selten greift die AfD dieses Abgehängtsein auf und nutzt es wie auch andere rechtspopulistische Parteien in Europa als Mobilisierung in ländlichen Regionen. Unterstützend für die „Wir“ und die „Anderen“-Identifikation wirkt hier, dass politische Entscheidungszentren in den Großstädten verankert sind. Damit greift die populistische Abgrenzung nicht nur zur Stadt, sondern auch gegen die politische Elite. 

Die Grünen als politische Kraft mittendrin

Das Zusammenwirken dieser strukturellen ökonomischen und kulturellen Prozesse, die letztlich hinter der bekannten politischen Geografie liegen, stellen insbesondere die Grünen vor Herausforderungen: Gerade weil die Grünen in den Milieus verankert sind, die eng mit dieser neuen Dynamik der Stadt-Land-Dimension verflochten sind, wird das Übersetzen in politische Strategien, auch in den ländlichen Räumen mehr Wähler:innen zu erreichen, nicht unbedingt leichter. Gleichzeitig liegt aber darin eine Chance, denn wenn gerade die Grünen einen Ansatz verfolgen, der die gemeinsamen Interessen von Stadt und Land deutlicher in den Blick nimmt, dann mögen die kulturellen Identitätsbilder weiterleben und sich in einem liebevollen gegenseitigen Belächeln bemerkbar machen, aber nicht in harte Interessengegensätze übersetzt werden. 

Thematisch das Einende zwischen den Lebenswelten stärker herausstellen

Eine Antwort der Grünen auf gefühlte Interessengegensätze zwischen Stadt und Land kann sein, thematisch stärker das Einende zwischen beiden Lebensräumen in den Mittelpunkt zu stellen. So verbindet etwa die Menschen, unabhängig von ihrem Lebensumfeld, dass sie von der Politik erwarten, Antworten auf die Klima- oder Energiekrise zu finden.3 Fallen dann die konkreten Maßnahmen für die Umsetzung in den urbanen und ländlichen Räumen unterschiedlich aus, entspräche das einerseits den Handlungsmöglichkeiten vor Ort. Andererseits entspräche das unterschiedliche Vorgehen entlang der unterschiedlichen Möglichkeiten von Stadt und Land auch einem verantwortungsvollen Umgang mit unterschiedlichen sozialen Bedingungen. Auch mit einem breiteren Themenportfolio stärker sichtbar zu sein, bietet auch Chancen, Verbindendes zwischen den Lebenswelten in Stadt und Land herauszustellen. 

Gesellschaftliche Bündnisse erweitern

Bündnisse zwischen Parteien und anderen gesellschaftlichen Organisationen galten jeher als eine wichtige Basis für das Formulieren politischer Forderungen und damit auch einer Versicherung der Wähler:innenbasis. Auch hier liegt eine Chance für die Grünen, ihre Bündnisse mit gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Akteur:innen weiter zu stärken. So können wichtige soziale Verbindungen in die ländlichen Räume hinein wachsen. Hier bieten sich zudem Möglichkeiten, nicht nur Vorstellungen grüner Politik zu vermitteln, sondern im Dialog konstruktiv weiterzuentwickeln.  

Akzeptanz von Veränderung entsteht auch durch den Ausgleich von Zumutungen 

Mit der Ampelkoalition sind drei Parteien in Regierungsverantwortung, die in der Veränderung eher eine Chance als das Risiko sehen. Das Mandat, den Reformstau anzugehen, haben sie zwar mit ihrer Wahl erhalten. Dennoch bedarf es einer permanenten Kommunikation mit den Bürger:innen über die eingeschlagenen Pfade und über Hindernisse auf dem Weg. Denn die Akzeptanz für die langfristige Transformationspolitik, insbesondere vor dem Eindruck des aktuellen Krisenmanagements, ist ein fragiles Gut.

Wie stark die Akzeptanz von Veränderungen ist, damit Stabilität, Sicherheit und Freiheit geboten werden können, hängt keineswegs von einer städtischen oder ländlichen Lebenswelt ab. Entscheidend ist vielmehr, wie die Chancen und Gewinne der Transformation, aber auch die Verteilung der damit verbundenen Zumutungen ausgestaltet sind und wie diese Zumutungen gegebenenfalls kompensiert werden. Deutlich wird das etwa an der Umsetzung der Energiewende, die auch die Stadt-Land-Dimension berührt. Der Ausbau von Windkraftanlagen bedarf Fläche in den ländlichen Räumen. Die politische Implementierung muss gemeinsam mit den Menschen vor Ort geschehen und den gebotenen Respekt vermitteln. Denn bei diesen Flächen handelt es sich nicht nur um eine Ressource, sondern sie bedeuten auch Heimat, die sich verändern wird. Kompensation können hier etwa eine direkte finanzielle Beteiligung von Gemeinden oder Bürger:innen an den Erträgen der heimischen Windkraftanlagen bieten. Vor dem Hintergrund, dass in unserer Gesellschaft weitere Interessengegensätze im Zuge der sozial-ökologischen Transformation aufgegriffen werden, sollte die Kombination aus einer Kultur des Respekts und der ausgewogenen Verteilung von Zumutungen wichtiges Element eines progressiven Regierungsstils werden beziehungsweise bleiben.

Fußnoten

1 Haffert, Lukas (2022): Stadt, Land, Frust. Eine politische Vermessung. 1. Auflage. München: C.H.Beck (Beck Paperback).

2 Stroppe, Anne-Kathrin; Jungmann, Nils (2022): Stadt, Land, Wahl – Welchen Einfluss hat der Wohnort auf die Wahlentscheidung bei der Bundestagswahl 2021? easy_social_sciences, 67: S. 49-60, https://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/handle/document/79904/ssoar-easy-2022-67-stroppe_et_al-Stadt_Land_Wahl_Welchen_Einfluss.pdf?sequence=1&isAllowed=y&lnkname=ssoar-easy-2022-67-stroppe_et_al-Stadt_Land_Wahl_Welchen_Einfluss.pdf

3 Eichhorn, Jan (im Erscheinen): Stadt und Land in der Klimakrise: Gemeinsamer Blickwinkel oder divergierende Perspektiven? Politische Einstellungen in verschiedenen Wohnortsumfeldern – von ländlichen bis städtischen Räumen (Heinrich-Böll-Stiftung).

Autorin

Stefanie John

Bündnis 90 / Die Grünen
Stefanie John ist Vorstandsreferentin für Daten- und Umfeldanalyse im Bundesvorstand von BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN. Zuvor leitete sie das Referat Politik- und Parteienforschung in der Heinrich-Böll-Stiftung.

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