Rafael Laguna de la Vera und Thomas Ramge beim Roundtable mit Anke Hassel

„Das Digitalisierungsthema haben wir verpennt“

Deutschland ist als Innovationsstandort in zentralen Feldern der Transformation abgeschlagen. Warum fehlt es an wettbewerbsfähigen Digitaltechnologie-Unternehmen? Und welche politischen Maßnahmen braucht es, um Deutschland als Technologiestandort zu stärken? Darüber haben Autor und KI-Experte Thomas Ramge und Gründungsdirektor der Bundesagentur für Sprunginnovation, Rafael Laguna de la Vera, diskutiert – moderiert von Anke Hassel, Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats des Progressiven Zentrums.

In der Grundannahme sind sich die Beteiligten einig an diesem Abend: Die Digitalisierung der industriellen Produktion sei ein entscheidender Baustein für das Gelingen der sozial-ökologischen Transformation – und genau der Baustein, bei dem es in Deutschland hake. Es brauche neben gesellschaftlicher Akzeptanz für Innovation und Veränderung auch ein zuversichtliches Bild der Zukunft. Und eine wirtschafts- und innovationspolitische Agenda, um im globalen Wettbewerb bestehen und die Potenziale in der digitalen Transformation nutzen zu können.

Es scheitert an der Übersetzung

Das Problem, so Laguna de la Vera, bestehe weniger im Bereich Forschung und Entwicklung, in dem Deutschland durchaus eine gute Positionierung habe. Es scheitere aber an der Übersetzung guter Ideen in tatsächliche Innovation. Bei Patenten beispielsweise liege Europa gleichauf mit den USA oder China. In der Ansiedlung großer, innovativer Tech-Unternehmen aber liege Deutschland weit zurück: „Das Digitalisierungsthema haben wir verpennt“, so die Diagnose Laguna de la Veras. Und nun?

Ein möglicher Lösungsansatz sei die Investition in Sprunginnovationen (leapfrogging).  Laguna de la Vera zufolge geschehe diese nur unzureichend, was vor allem an übermäßiger staatlicher Regulierung liege. Grund dafür sei ein tiefes Misstrauen gegenüber technischen Innovationen, das den Blick auf das Ergebnispotenzial verstelle: „Das ganze staatliche Finanzierungssystem ist ein Misstrauenssystem.“ 

Dazu käme das geringe Tempo bei der zügigen Umsetzung von Ideen. Ein Beispiel: der Zukunftsrat, der im Januar 2024 tagte und ein 70-seitiges Ideenpapier produzierte – ohne bisher tatsächliche Entwicklungen nach sich zu ziehen.  

Auch mangele es an großen, niedrigschwelligen Investitionen in Digitalisierungsprojekte, so Laguna de la Vera. Da angesichts der deutschen Haushaltslage häufig zuerst beim Investitionskapital gekürzt werde, beschafften sich Innovatoren ihre Finanzierung häufig im internationalen Raum – oder wanderten ganz ab. Dabei seien Firmen auf anfängliche staatliche Investitionen angewiesen. Selbst heute etablierte Technologiekonzerne wie Amazon hätten ohne nicht überstanden. Im Techbereich herrsche eine turbokapitalistische Goldgräbermentalität; viele Ideen konkurrieren um einen Teil des Weltmarktes, aber nur wenige schaffen es. Rafael de la Vera sagt dazu: Wer nicht mitspielt, kann nicht gewinnen. Heißt: Wenn Deutschland mitspielen will, muss es eine der grundlegendsten Fragen beantworten – aber wie?

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Ein neuer Diskurs als Grundlage für Lösungen

Erst kürzlich hat KI-Experte und Autor Thomas Ramge gemeinsam mit dem Progressiven Zentrum ein Impulspapier veröffentlicht, das sich der Frage einer Fortschrittserzählung widmet. Unter dem Titel „Wie sieht eine gute Zukunft mit KI aus? Eine Fortschrittserzählung“ entwirft der Autor – ausgehend von Umfragewerten, die der deutschen Bevölkerung einen weitgehend pessimistischen und sorgenvollen Blick auf Künstliche Intelligenz als Technologie attestieren – das Bild einer guten Zukunft mit KI.  Anknüpfend daran unterstrich Ramge in der Diskussion die Notwendigkeit einer positiveren Erzählung. Diese sei nicht die Lösung des Problems – aber sie könne helfen, das Vertrauensproblem zu beheben. Denn: Auch eine zu kritische Haltung in der Bevölkerung führe zu Innovationshemmungen. 

Neben den Investitionen in intelligente Technologien brauche es auch eine positive Erzählung über KI, um sie in eine intelligente Anwendung zu bringen. Nicht der Einzelne sei dabei für den geringen Einsatz von KI verantwortlich, aber die individuelle Haltung sei ein Spiegelbild einer tiefliegenden gesellschaftlichen Skepsis, die uns ausbremst. Den Diskurs  zu ändern, sei nicht die Lösung des Problems, aber notwendige Bedingung, um überhaupt Lösungen finden zu können, die wiederum gesellschaftliche Akzeptanz finden.Mehr Ergebnis- statt Prozessorientierung

Welche Rolle aber hat der Staat? Ramge zufolge liegt ein Teil des Gesamtproblems auf staatlicher Ebene, wirksam wären Steuerabschreibungsmodelle wie in Großbritannien oder das Vorantreiben der Entbürokratisierung. Der Staat, ergänzt Laguna de la Vera, müsse im Bereich von Innovation eher wie ein Unternehmen agieren – und dazu die Frage nach dem Ergebnis und nicht die nach dem Prozess im Mittelpunkt stellen. Alte Regeln müssten gelockert werden, es brauche mehr Freiheit zum Ausprobieren, Scheitern und neu machen, um in kleinem Rahmen zu besseren Ergebnissen zu kommen. 

Neue positive Entwicklungen

Bei aller Kritik: Es gebe in Deutschland durchaus positive Signale in diese Richtung, so Laguna de la Vera – etwa die gerade erst im September 2024 veröffentlichte Agenda des Start-up-Verbands, den Zukunftsfonds oder den Start-up-Kongress des Bundeswirtschaftsministeriums. Auch der sogenannte Draghi-Report, der jüngst massive Investitionen forderte, wurde als Positivbeispiel für eine zielführende kritische Auseinandersetzung herausgestellt. In Deutschland würden Innovationen also durchaus vorangetrieben und sinnvolle Schritte in Richtung der Digitalisierung unternommen. 

Allerdings, so Laguna de la Vera, würden diese oft nicht ausreichend kommuniziert – die Ausgangsanalyse in Ramges Impulspapier sei dafür ein aufschlussreicher Beleg. Und schließlich gebe es, so Laguna de la Vera, allen Grund für eine positive Erzählung, denn: „Wir haben die Brainpower – aber wir müssen den Unternehmen und Menschen die Möglichkeit geben, sich hier zu entfalten.“

Luise Schulze

Kommunikationsassistentin
Luise ist Kommunikationsassistentin im Bereich Kommunikation. Zuvor hat sie ihr Bachelorstudium in Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin abgeschlossen. Vorher absolvierte sie ein Praktikum im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und arbeitete als Werkstudentin im Bereich Social Media für die medizinisch wissenschaftliche Verlagsgesellschaft (MWV). Besonderen Fokus legte Luise während ihres Studiums auf die Erforschung politischer Institutionen in den internationalen Beziehungen und die politische Theorie.
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