Die Landtagswahlen in Bayern und Hessen waren mehr als Landtagswahlen: Es waren bundesdeutsche Zwischenwahlen, sagt unser Vorsitzender Wolfgang Schroeder. Eine Analyse in sieben Punkten.
Charakter und allgemeine Wirkung der Wahlen in Bayern und Hessen
“Die LTW in Bayern und Hessen hatten den Charakter von bundesdeutschen Zwischenwahlen, die über den weiteren Weg der Ampel entscheiden. Dabei ist das Ergebnis zweigeteilt: Auf der formalen, machtpolitischen Ebene kann die Ampel so weiter regieren wie bisher. Keine Veränderung bei der Aufstellung der Landesregierungen. Keine Veränderung im Bundesrat. Auf der Symbolebene gibt es jedoch eine ganz starke Wirkung, die vor allem die Themen Migration und ökologische Transformation betrifft. Es war eine Protestwahl gegen den inhaltlichen Kurs in diesen Politikfeldern. Deshalb sollte die Ampel andere Akzente setzen und klarere Entscheidungen treffen. Was angesichts unserer komplexen, verrechtlichten und europäisierten Strukturen Kraft und Zeit kostet.”
Zentrale Herausforderung ist die Migration
“Man muss sehen, dass die Bundesrepublik in den letzten Jahren um fast vier Millionen Menschen größer geworden ist. Da ist in der Bevölkerung der Eindruck gereift, dass die Regelungen der Migration in der Europäischen Union nicht funktionieren, das Wachstum in Deutschland zu stark ist und andere Felder dadurch in Mitleidenschaft geraten. Die umfassende Beunruhigung und Unzufriedenheit ist kein AfD-Phänomen mehr. Sie muss in Berlin aufgenommen werden.”
Der Aufstieg der AfD im Westen ist ein weiterer Baustein in der europäischen Normalisierung mit einer radikalen Protestpartei im Parteienwettbewerb
“Die AfD profitiert von der Migrationslage. Das ist das stärkste Thema der AfD. Hinzu kommt aber, dass sich die allgemeine Unzufriedenheit in dem gestörten Kommunikationsverhältnis zwischen Parteien und Bevölkerung zugunsten der AfD auswirkt. Man attestiert ihr, dass sie die Themen zumindest benennen und damit den zornigen und unzufriedenen Bürgerinnen und Bürgern eine Sprache gibt. Hinzu kommt, dass sich immer mehr Bürger nicht mehr davon beeindrucken lassen, wenn im gesellschaftlichen Diskurs gesagt wird: „Diese Partei ist rechtsextrem, diese Partei ist eine Gefährdung für die Demokratie.“
Postfaktische Wahlkämpfe in Bayern und Hessen kein gutes Zeichen für die Erneuerungsfähigkeit der Parteien
“Die demokratischen Parteien sollten vor allem einen ernsthafteren thematischen Dialog mit den Bürgern führen. Wenn man sich dazu den Landtagswahlkampf in beiden Ländern anschaut, hat man den Eindruck, das waren postfaktisch-surrealistische Wahlkämpfe. Den Leuten brennt unter den Nägeln die Fragen von Migration, von Unsicherheit, von Inflation, von ökologischer Transformation. Die Wahlkämpfer haben aber eher über selbst inszenierte Stimmungen, Marginalien und über Stilfragen gestritten. Es wurden den Bürgern keine substanziellen Angebote gemacht, wie man besser mit der Migration oder der ökologischen Transformation umgehen kann. Es wurden eher Teflon-Wahlkämpfe geführt.”
Eine liberal konservativ geführte Union mit einem professionellen Parteiapparat hat gute Chancen zur neuen Hegemonialkraft in Deutschland zu werden
“Eines der interessantesten Ergebnisse dieser beiden Wahlkämpfe sind die Variationen in der Aufstellung der Union. Der homöopathisch geführte Wahlkampf von Boris Rhein scheint die Befindlichkeit einer größeren Zahl von Menschen abzuholen. Stabilität, Kontinuität und geringe Profilierung kommen bei Wählerinnen und Wählern der Union gut an. Das lässt sich nicht auf andere Parteien übertragen – Olaf Scholz macht das ja auch, bei ihm kommt das nicht so gut an. Für die Union, die in Hessen über eine professionell geölte Parteiorganisation verfügt, konnte sich dies anders auswirken.
Während der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz stark auf Polarisierung setzt, verkörpert Rhein eher eine homöopathische Konfrontationsstrategie mit stark kooperativen Dimensionen. Dies scheint die Sicherheitsbedürfnisse einer beträchtlichen Zahl von Menschen eher zu erfüllen. Eine gut aufgestellte Union kann unter bestimmten Bedingungen durchaus an die 40 Prozent herankommen. Dann hat sie eine ganz andere Machtperspektive in dieser Republik.”
Wahlen in Wiesbaden und München wake up call für die SPD
“Die Wahlen in Bayern und Hessen zeigen deutlich, dass es für die SPD kein weiter so geben kann. Ihr bricht der Unterbau weg. Damit knüpft Hessen an die Entwicklung in NRW an, wo für die SPD über Jahrzehnte die wichtigste Basis lag. Das bedeutet, dass die SPD in den Ländern einen längerfristigen Erneuerungsprozess einschlagen muss. Ohne personelle, programmatische und organisatorische Neuaufstellung wird es nicht weitergehen.”
Dynamik in der Stabilität
“Die bundesdeutschen Zwischenwahlen zeigten einmal mehr, dass das politische System stabil ist und die Nervositäten zunehmen. Signale werden gesendet, die für die Regierung ein klarer Auftrag sind. Zudem hat jede Partei und jedes Parteiensystem ihre eigene Struktur und Problematik. Aufs Ganze nimmt der Druck zu und die Desintegrationsprozesse wachsen. Dabei verfestigt sich der Populismus als feste Größe.”
Medienresonanz zu der Analyse
Wie die AfD auch im Westen punktet
Jim-Bob Nickschas