Jahrzehntelang waren die Krisen der Welt scheinbar immer woanders – im globalen Süden, im deutschen Osten, jenseits der Grenze –, aber jetzt sind Krieg und Pandemie, Hitze und Flut, Inflation und Arbeitskräftemangel direkt vor unserer Haustür. Die Deutschen fürchten um ihren Wohlstand und erzählen sich Geschichten von einer besseren Vergangenheit. Nicht Tatendrang angesichts der gewaltigen Herausforderungen greift um sich, sondern Verbitterung, Wut und Ressentiment. Die lähmenden Verlustängste vieler Deutscher drohen die notwendige gesellschaftliche Transformation auszubremsen.
Das Paradies brennt
Das große Integrationsversprechen der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, „allen soll es besser gehen“, bröckelt spätestens seit den späten 1980er Jahren. Die Liberalisierung der Märkte, Privatisierung öffentlicher Güter und Ökonomisierung der Lebenswelt versprach nicht nur die Wirtschaft zu globalisieren und den Staat flottzumachen, sondern auch individuelle Profite (Stichwort Telekom-Aktien) und eine bunte Welt voller Wahlfreiheit. Doch der Preis war hoch: prekäre Arbeitsverhältnisse, soziale Entsicherung und Verwahrlosung des öffentlichen Raums. Die Mittelschicht geriet unter Druck und die regionalen Disparitäten verschärften sich. Doch soziale Ausbeutungsverhältnisse, demografischer Wandel und Ressourcenübernutzung ließen sich weiterhin ohne Probleme wegblenden. Günstige Flugreisen, billiges Grillfleisch und große SUVs nährten die Illusion, dass demonstrativer Konsum nahezu kostenlos und für alle möglich sei. Nun brennen die Ferienparadiese im Süden, der Sprit ist teuer und die schicke Stadtwohnung unbezahlbar. Da wundert es nicht, dass zwei Drittel der Deutschen aktuell davon ausgehen, dass es zukünftigen Generationen schlechter geht, laut einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey unter Leitung von Benjamin Seifert. Weitere Civey-Umfragen belegen zudem, dass Wut, Kontrollverlust und Machtlosigkeit inzwischen zu einem vorherrschenden Lebensgefühl der Deutschen geworden sind. Auch wenn diese Stimmungslage im Osten der Bundesrepublik stärker ausgeprägt ist, handelt es sich um ein gesamtdeutsches Phänomen. Ein erster Höhepunkt dieser düsteren kollektiven Gefühlslage war der Beginn der Coronapandemie; der Angriffskrieg auf die Ukraine hat diese Mutlosigkeit weiter forciert. Vor diesem Hintergrund verliert die Eindämmung des Klimawandels für die Bevölkerung an Bedeutung, während soziale Fragen wie die Bekämpfung von Altersarmut, aber auch die innere Sicherheit wichtiger werden. Gleichwohl bleibt davon unbenommen, dass Nachhaltigkeit weiterhin einer deutlichen Mehrheit der Deutschen ein zentrales Anliegen ist.
Ein Bündel von Verlustängsten
Doch wie geht eine Gesellschaft, die auf permanenten Fortschritt ausgerichtet ist, mit diesen zunehmenden Verlustängsten um? Welche Verlustnarrative können sich (mehr) Gehör verschaffen als andere? Welche Zukunftssorgen werden als legitim empfunden und welche von der Gesellschaft zurückgewiesen? Kann es gelingen, aus der Phase der bockigen Transformationsverweigerung wieder in Aktion zu kommen? Und ein starkes individuelles wie kollektives Verantwortungsgefühl für die Welt zu entfachen?
Aktuell scheint noch die Abwehr zu überwiegen. Klimaschutz und Energiewende werden von weiten Teilen der Bevölkerung als Bedrohung des Wirtschaftsstandorts Deutschland wahrgenommen. Die German Wut entzündet sich an Heizungsgesetz, Tempolimit und „Klimaklebern“. Neben der lauten Empörung um den Verlust des Lebensstandards und sozialen Status haben sich seit geraumer Zeit in peripheren ländlichen Räumen infrastrukturelle Verlustnarrative (“Schule weg, Bus weg, Arzt weg”) herausgebildet, die sich nun mit der Sorge vor der Mobilitätswende verbinden, in Zukunft noch weiter abgekoppelt zu werden. Von hier aus ist es nur noch ein Schritt zum Gefühl der politischen Machtlosigkeit und Demokratieskepsis. Gleichwohl wollen andere Teile der Bevölkerung dieser Agonie und Wut nicht die Oberhand lassen: Akteure wie „Fridays for Future“ oder die „Letzte Generation“ wollen ihre Sorge um das Klima produktiv machen und die Gesellschaft zum Handeln bewegen. Allerdings haben gerade die Aktionen der „Letzten Generation“ – trotz breiter Zustimmung der Bevölkerung zum Klimaschutz – zu einer Diskursverschiebung geführt: Nicht der Klimawandel wird negiert, sondern die Legitimität des Protestes wird in Frage gestellt. So lässt sich das Thema Klimawandel abwehren und skandalisieren ohne politisch und persönlich handeln zu müssen (Kumkar 2022)1.
Wofür – nicht wogegen!
Und gleich noch eine unschöne Botschaft: Unser Gehirn ist auf schlechte Nachrichten programmiert. Menschen geraten in Wut, wenn sie geballt mit negativen Botschaften überflutet werden. Daher haben es gute Neuigkeiten und positive Botschaften – gerade in Zeiten Sozialer Medien – schwerer, unsere Aufmerksamkeit zu erringen. Doch wie kommen wir aus dieser Dauerkrisenwahrnehmung heraus? Die Neurowissenschaftlerin Maren Urner schlägt drei alltagstaugliche Wege vor. Erstens: Sich fragen, wofür und nicht wogegen will ich sein? Was wollen wir erreichen? Zweitens: Lagerdenken überwinden: Mit wem kann ich mich verbinden, um an Lösungen zu arbeiten? Was ist unser kleinster gemeinsamer Nenner? Und drittens: Uns neue Geschichten erzählen, wofür es sich zu kämpfen lohnt, von Menschen, die etwas bewirken, von Problemen, die wir gelöst haben. Die Weltliteratur ist voll von diesen – unperfekten – Helden: Odysseus, Luke Skywalker und Johanna von Orleans. Gute soziale Beziehungen und Begegnung, Nähe und Zusammenhalt sind die besten Gegenmittel gegen Ressentiments und Wut, sie lassen uns kreativ positive zukunftsorientierte Lösungen entwickeln.
An Begegnungsorten wird Zukunft konkret
Doch gerade an diesen milieu- und generationsübergreifenden Begegnungsorten mangelt es zunehmend. Seit vielen Jahren sehen die Deutschen den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Gefahr. Die großen Integrationsmaschinen der Moderne wie Erwerbsarbeit, Daseinsvorsorge und bürgerschaftliches Engagement befinden sich in tiefgreifendem Wandel. Es mangelt an Sozialen Orten (Kersten/Neu/Vogel 2022)2, die Kommunikation und Miteinander vor Ort gestalten. Auch Generationen außerhalb der eigenen Familie begegnen sich nur sehr selten, noch seltener arbeiten sie gemeinsam an Zukunftsfragen (Neu 2023)3. Aber Zukunft wird vor Ort konkret. Ebenso wie Mitwirkung. Doch die Möglichkeit zur Mitwirkung und damit auch zur Erfahrung der Selbstwirksamkeit und des gemeinsamen Handelns ist an konkrete Gelegenheitsstrukturen (wie dem Vorhandensein von Infrastruktur) gebunden. Dabei, so Peter Siller, Leiter des Stabs Transformation im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, gehe es eben auch um eine gelingende Strukturgestaltung der öffentlichen Räume, öffentlichen Netze und Infrastrukturen . So lässt sich auch fragen: Welche Strukturen brauchen wir, um die Wut aufzufangen und produktiv umzusetzen?
Soziale Gerechtigkeit in der Transformation
Die Soziologin Katharina Hoppe betont, dass die Debatte um Wohlstandsverluste zu wenig mit sozialer Ungleichheit verknüpft wird. Denn der Anspruch, die Transformation “sozial verträglich” zu gestalten, reiche nicht aus, da er an der umfassenden Einkommens- und Vermögensungleichheit nichts ändere. Vielmehr sei auch die Emissionsungleichheit in den Blick zu nehmen, denn wohlhabende Menschen verursachen deutliche höhere Emissionen: Die reichsten zehn Prozent der Menschheit verantworten fast die Hälfte der weltweiten Emissionen, während die ärmere Hälfte der Bevölkerung lediglich ein Zehntel der Treibhausgase verursacht (Sager 2022)4. Peter Siller betont, dass es zukünftig nicht darum gehen könne, alle besser zu stellen, sondern darum, die Benachteiligungen vor allem der Schlechtergestellten im gesellschaftlichen Transformationsprozess auszugleichen. Dafür müsse die Transformation insofern republikanisch gedacht werden, als es um eine kollektiv gestaltete und somit demokratisch verhandelte Transformation gehe und nicht um einen bloßen Strukturwandel. Besonderes Augenmerk legt Siller auf die zukünftige Gestaltung der Arbeitswelt. Verluste in Erwerbsbiografien seien dabei offen zu benennen, um sie bearbeiten zu können.
Die Wut dämpfen und gemeinsam handeln
Kollektive Gefühle der Unsicherheit, der Wut und des Ressentiments drohen die gesellschaftliche Transformation zu einer nachhaltigen und klimaneutralen Welt zu gefährden. Mehr noch: Die verschiedenen Verlustnarrative bilden Anschlusspunkte für Verschwörungsmythen und neurechte Versprechungen. Wut und Angst lähmen. Daher bedarf es offener gesellschaftlicher Diskurse, was es uns kostet, wenn wir nichts für den Klimaschutz, die öffentliche Infrastruktur und mehr soziale Gerechtigkeit tun und was wir gewinnen, wenn wir jetzt handeln. Folgen wir Maren Urner, dann braucht es darüber hinaus auch gute Geschichten und Vorbilder, die uns ermutigen, Zukunft zu denken. Vor allem aber gute soziale Beziehungen und Kooperationen (im Erwerbs- wie im Privatleben), die unsere Wut dämpfen und uns gemeinsam die Zukunft gestalten lassen.
Dieser Text ist auf Grundlage einer Fachgruppendiskussion während unseres politischen Symposiums “Wie viel Konflikt verträgt die Transformation” am 28. Juni 2023 in Berlin entstanden.
Quellen
1 Nils Kumkar, Alternative Fakten FFM 2022.
2 Kersten, Jens/Neu, Claudia/Vogel, Berthold: Das Soziale-Orte-Konzept, Hamburg 2022.
3 Neu, Claudia: Generationsübergreifendes bürgerschaftliches Engagement für Zukunftsthemen in Kommunen, hrsg. von Population Europe, Berlin 2023.
4 Sager, Lutz: Highly unequal carboon footprints, 2022.