Headerbild zu "Die Progressive Lage" mit Portraitfoto von Autor Dominic Schwickert

Ein Staat, der baut

Die neue schwarz-rote Regierung steht kurz vor dem Start. Der Koalitionsvertrag, auf den sich die neuen Koalitionäre verständigt haben, ist umfangreich. Doch er alleine wird nicht ausreichen, um die dringend notwendigen Veränderungen umzusetzen. In der kommenden Legislaturperiode muss der Staat wieder agieren: als aktiver Gestalter, der mit Fokus, Geschwindigkeit und einem erneuerten Vertrauen in die eigenen Kräfte auftritt – und so auch wahrgenommen wird. Warum Deutschland ein neues politisches Projekt braucht.

Ich erinnere mich gut an den Moment, als mir klar wurde, wie tief das Problem in unserer Gesellschaft sitzt: Es war nach einer Debatte zur Zeitenwende, als mir ein Kollege sagte, er beneide seine Eltern – nicht um ihre Vergangenheit, sondern um die Zuversicht in die Zukunft, die sie in seiner Lebensphase gehabt hätten. „Wir“ hätten ja nur noch die Krise. Er sagte das nicht zynisch, sondern ganz nüchtern.

Die Abwesenheit von Zuversicht ist heute weit verbreitet – und sie ist Gift für jede demokratische Ordnung. Denn die liberale Demokratie lebt nicht nur von Regeln, Verfahren und rechtsstaatlicher Stabilität, sondern auch von dem Versprechen, dass es besser werden kann.

Die Krise der Zuversicht: Eine gescheiterte Erzählung

Dieses Versprechen ist enttäuscht worden – gleich in zweifacher Hinsicht. Erstens, weil es materiell oft nicht eingelöst wird. Und zweitens, weil es keine neue politische Erzählung gibt, die Orientierung stiftet.

Kaum jemand hat diesen doppelten Verlust so präzise beschrieben wie Andreas Reckwitz, einer der bedeutendsten Soziologen unserer Zeit. Reckwitz spricht vom Ende des Fortschrittsglaubens als „Meta-Verlust“ – ein Verlust, der die Mitte verunsichert, weil er das Selbstverständliche infrage stellt: dass es den Kindern einmal besser gehen wird als den Eltern. Doch so treffend Reckwitz’ Diagnose, so wichtig kollektive Trauerarbeit über kollektiv empfundene Verluste ist: Bewältigung braucht auch Handeln, Selbstwirksamkeit, braucht Gestaltung.

Die demokratische Mitte in Deutschland verteidigt heute den Status quo, während die radikale Rechte ein emotional aufgeladenes Projekt formuliert – eines, das sich als bevölkerungsnah, einfach und zukunftsträchtig geriert. Ja: Rechtspopulistische Politik verspricht Aufbruch.

Für die progressiven Kräfte – die Parteien und Bewegungen links der Mitte – ist das ein Schock, denn in ihrem Verständnis stehen sie selbst für Aufbruch und Fortschritt. Eine Antwort auf die rechtspopulistische Herausforderung kann aber nicht allein im „Bewahren“ und ganz sicher nicht im „Beharren“ liegen. Sie muss ermöglichend sein. Sie muss dort ansetzen, wo Vertrauen verloren ging: bei der konkreten Lebensrealität der Menschen.

Denn Fortschritt ist keine Erzählung oder eine abstrakte Idee. Fortschritt ist, wenn Wohnungen errichtet und Schulen saniert, Stromtrassen ausgebaut und KI-Chips produziert werden. Aber auch wenn der Bus fährt und die Ärztin einen Termin hat. Fortschritt heißt: funktionierende Infrastruktur, bezahlbarer Wohnraum, gute Versorgung.

Die Modernisierungsblockade: Warum zu wenig passiert

Wir leben in einem Land, in dem ständig über Infrastrukturmaßnahmen geredet wird, in dem aber zu wenig Konkretes passiert. Ein Land, das Geld mobilisieren kann, aber Probleme hat, Baugenehmigungen auszustellen. Das Sondervermögen beschließt, aber Monate braucht, bis Förderprogramme überhaupt starten können. Das Pläne hat, aber keine Kapazitäten, sie in die Tat umzusetzen. 

Warum nicht?

In den USA macht zurzeit das Buch „Abundance” der beiden Journalisten Ezra Klein und Derek Thompson Furore, das diese Modernisierungsmisere analysiert. Es ist im Kern eine Generalabrechnung mit dem Zustand der US-Demokratie – aber auch eine Handlungsanleitung für erfolgreiche demokratische und insbesondere progressive Politik weltweit. 

Sie führen an, dass die progressive Mitte in den USA zwar gute Absichten verfolgt, jedoch immer wieder an der Umsetzung scheitert. Der Grund dafür liege in einem zu starren, bürokratischen System von Regelungen und Prozessen, das notwendige Veränderungen blockiert. Viele dieser Regeln sind auf Betreiben der politischen Linken entstanden: als Resultat von ausgleichenden Kompromissen oder der Ausweitung sozialer Rechte. Hier müsse die linke Mitte ein neues Denken an den Tag legen und letztlich flexibler und effizienter werden, fordern sie. Ezra Klein und Derek Thompson nennen es: „A liberalism that builds.“

Was Klein und Thompson für die USA formulieren, trifft auch den Kern der deutschen Malaise, denn ähnliche Denkmuster prägen auch hierzulande die politische Mitte. 

Gerade die politische Linke in Deutschland muss sich der Tatsache stellen, dass viele bestehende Regelungen in der Vergangenheit zwar aus gutem Grund entstanden sind: Sie sind oft das Resultat von ausgleichenden Kompromissen und sozialen Bedürfnissen. Gleichzeitig haben diese Regelungen häufig auch den Effekt, dass damit eine hohe Komplexität und Regelungsdichte geschaffen wurden, die heute notwendige Veränderungen verlangsamen. 

Mehr Flexibilität und Effizienz für die progressive Mitte

Um Gestaltungsspielraum zu schaffen, ist es daher nötig, bestehende Verfahrensweisen zu hinterfragen und Strukturen zu reformieren. Mehr Flexibilität und Effizienz werden jedoch einen Preis haben – sei es durch Widerstand innerhalb der eigenen politischen Reihen oder durch die sozialen Kosten, die mit einer schnellen Umsetzung verbunden sind. 

Die progressive Mitte muss bereit sein, diesen Preis zu zahlen, wenn sie ihre Überzeugungskraft zurückgewinnen und glaubwürdig als Treiber für die Modernisierung agieren möchte. Sie sollte einen gesellschaftlichen Dialog initiieren, in dem eine echte Auseinandersetzung mit der Frage stattfindet, wie gesellschaftliche Ziele effizient und gleichzeitig gerecht erreicht werden können.

Dieser gesellschaftliche Dialog muss auf Grundlage von klaren, zukunftsorientierten Ideen geführt werden, die den Anspruch haben, praktische Veränderungen zu erzielen. Widerstand, Streit und schmerzhafte Anpassungen werden in diesem Verständigungsprozess nicht ausbleiben – im Gegenteil. Aber nur wenn dieser Streit produktiv ausgetragen wird, kann es gelingen, die Weichen für eine neue politische Realität zu stellen, in der Reformen nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch umgesetzt werden.

Pragmatismus statt Nostalgie

Ich bin überzeugt: Wir müssen den weitgehend verlorengegangenen Glauben an den Fortschritt nicht betrauern, sondern ihn neu begründen. Nicht nostalgisch, sondern pragmatisch. Nicht durch Pathos, sondern durch Handeln. Indem wir wörtlich wie politisch wieder bauen und aufbauen: von Infrastruktur bis Vertrauen. Fortschritt ist, wenn Politik nicht nur den Mangel verteilt, sondern den Zugang schafft: zu Mobilität, Bildung, Gesundheit, Energie. 

Das klingt auf den ersten Blick vielleicht nicht spektakulär – aber es wäre ein großer Mindshift. Denn es würde dem liberalen Staat genau das zurückgeben, was ihm verloren gegangen ist: state capacity, also Handlungsfähigkeit und Wirksamkeit. Wenn wir als Mitte-Links-Lager wieder gewinnen wollen – Vertrauen, Mehrheit, Zukunft –, dann nicht mit Moral oder Management, sondern mit einem Projekt: Ein Staat, der baut. Der nicht kleinlich, sondern groß denkt. Der sich nicht verzettelt, sondern konzentriert. Der sagt, worauf es ankommt – und es dann auch tut.

Es geht nicht um weniger oder mehr Staat. Sondern um einen Staat, der wieder funktioniert. Um Fülle. Zugang. Richtung. Ein Staat, der baut. Ja, das ist mühsam. Ja, das ist Verwaltungshandwerk. Aber es ist eben auch Politik.

Letztlich gilt: Nur wenn sie den Mut aufbringt, die nötigen Veränderungen anzustoßen, wird die politische Mitte in der Lage sein, ihre Rolle als treibende Kraft der Modernisierung zu behaupten – und die Zuversicht zu stiften, die unser Land in die Zukunft führen kann.

Eine Kurzversion dieses Textes erschien am 29.04.2025 im Politischen Feuilleton von Deutschlandfunk Kultur. Jetzt anhören!

Alle zwei Wochen geht ein:e Autor:in aus dem Netzwerk von Das Progressive Zentrum in der Kolumne Die Progressive Lage einer aktuellen politischen Frage nach, ordnet ein, kommentiert, setzt Impulse, an denen wir uns reiben können – auch wir als Herausgeber:innen, weil die Standpunkte unserer Autor:innen nicht zwangsläufig immer auch unsere sein werden.

Autor

Dominic Schwickert

Geschäftsführer des Progressiven Zentrums
Dominic Schwickert ist seit Ende 2012 Geschäftsführer des Progressiven Zentrums. Er hat langjährige Erfahrung in der Politik- und Strategieberatung (u.a. Stiftung Wissenschaft und Politik, Bertelsmann Stiftung, IFOK GmbH, Stiftung Neue Verantwortung, Deutscher Bundestag, Bundesministerium für Wirtschaft und Energie).
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