Corona-Governance

Politikwissenschaftliche Perspektiven und Konzepte für das Management der Krise

Angesichts des Ausmaßes der Krise, ist es der Bundesregierung erstaunlich schnell gelungen, eine große Anzahl gesellschaftlicher Akteure zumindest institutionell in ihr Krisenmanagement einzubinden. Damit diese Strategie dauerhaft erfolgreich sein kann, bedarf es jedoch darüber hinaus an Ideen, wohin die Reise gehen soll.

„Mir sagen nicht Virologen, (..) [welche Entscheidung] ich zu treffen habe, sondern ich treffe [diese] in Verantwortung für die Leute, für die ich verantwortlich bin. Und ein Virologe kann mir nicht sagen: Ist es eigentlich gut, wenn ein Kind monatelang nicht in der Schule ist? Und welche Schäden entstehen, wenn Menschen durch Arbeitslosigkeit depressiv werden? Wenn das Land in eine Riesenkrise hineinrutscht? Die beantwortet mir kein Virologe.“ 

So ließ sich Armin Laschet (CDU), Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, jüngst auf eine Frage nach der Rolle der virologischen Expertise auf seine Entscheidungen vernehmen und löste damit Empörung ob der vermeintlichen Ignoranz gegenüber Fachwissen aus. Auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (ebenfalls CDU) ging es nicht besser, als er dem Tagesspiegel sagte: „Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig. Grundrechte beschränken sich gegenseitig.“ 

Nehmen wir mal eine empörungsfreie, wohlwollende Perspektive ein, dann bedeutet, was beide wohl sagen wollen: Es gibt in der epidemischen Ausnahmesituation des Coronavirus keine Absolutheiten – Reflektieren, Diskutieren, Abwägen und Entscheiden müssen sich weiterhin in relativen Bezugsgrößen vollziehen. 

Diese zwei Diskurs-Schlaglichter der vergangenen Wochen zeigen – im Grunde wenig überraschend: Eine Krankheit wie Covid-19 betrifft die gesamte Vielfalt von Gesellschaft, Politik und Wirtschaft. Die Politikwissenschaft spricht bei diesen komplexen, auf unsicheren Entscheidungssituationen und Widersprüchen beruhenden Problemen von wicked problems. Die Literatur zu grenzübergreifenden Krisen (transboundary crises), für die eine Pandemie wie die derzeitige als perfektes Beispiel gelten kann, nennt drei Dimensionen der Herausforderungen für das politische System: Krisen dieser Art (1) überschreiten territoriale Grenzen (räumlich), (2) sind nicht auf einzelne Teileinheiten und Politikfelder begrenzt (funktional) und können auch hinsichtlich Beginn, Ende, Dauer oder der Zuordnung folgenreicher Ereignisse (zeitlich) komplex sein (Ansell et al. 2010). 

Von der Ein- zur Vieldeutigkeit

Für die hiesige Argumentation ist die zweite Dimension entscheidend. Dieser funktional-übergreifende Charakter der Corona-Pandemie zeichnet sich dadurch aus, dass sie nicht innerhalb eines einzelnen politischen Teilbereichs – hier also der Gesundheitspolitik – gelöst werden kann, sondern übergreifend Expertise wie auch Steuerungsfähigkeiten aus anderen Teilbereichen, sprich: den Ressorts und den mit ihnen verknüpften Fachcommunities benötigt. Das ist es, was Laschet anspricht, wenn er auf die externen Effekte des Corona-Lockdowns auf Kinder bzw. Arbeitslose hinweist. Das ist es, was Schäuble meint, auch wenn sein Satz insofern ergänzt werden sollte, als ein Dilemma der Abwägung des Schutzes von Leben konstruiert werden könnte: einmal des Schutzes vor Covid-19 und einmal vor den potenziellen Folgen von Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit, häuslicher Gewalt, Einsamkeit etc.

Das ist es übrigens auch, was der Virologe Christian Drosten bereits Mitte März selbst eingefordert hatte, als er in seinem Podcast sagte: „Es ist besser, wenn die Politik Mitte/Ende nächster Woche eine fundierte Entscheidung getroffen hat, die an die lokalen Gegebenheiten angepasst ist. Dann hat man sich vielleicht auch noch einmal beraten. Nicht nur mit ein oder zwei Leuten, die an dem Virus arbeiten, sondern auch mit Leuten, die sich mit Schule auskennen, mit Sozialstrukturen und so weiter. Da braucht man auch andere Fachexperten. Es ist ja nicht so, dass solche Dinge Inhalt des Fachs Virologie wären.“

Die Unsicherheit bei der Bearbeitung dieser Art Probleme beginnt bereits bei ihrer Wahrnehmung. Es geht dabei um die Frage, welches Problem wie wahrgenommen wird und weshalb es im Vergleich zu anderen die Aufmerksamkeit der Regierenden auf sich ziehen kann. Die Frage des ‚Ob‘ ist im Fall des Coronavirus natürlich obsolet, doch für das ‚Wie‘ gilt das mitnichten. So könnte etwa bereits der Politikstil einer Regierung Einfluss auf die Wahrnehmung des Problems haben. 

Stellen wir uns das auf Landesebene einmal vor: Hat Landesregierung A einen auf permanenten Austausch mit externen Akteuren setzenden Stil etabliert, nimmt sie die vielen unterschiedlichen Facetten des Problems wahrscheinlicher oder zumindest früher wahr als Landesregierung B, die eher einen ad-hoc-Stil verfolgt und Expertise deshalb situativ einbezieht. Bestehen enge Kommunikations- und Kooperationsnetzwerke etwa zwischen Gesundheitsministerien und kommunalen Gesundheitsämtern oder zwischen Bildungsministerien und Schulträgern, können Hindernisse bei dem so schwierigen „Tanz“ (Tomas Pueyo) der nächsten Monate frühzeitig abgestimmt und geklärt werden, statt Lockerungsmaßnahmen zu implementieren und dann zu merken, dass grundlegende Hygienemaßnahmen nicht vorbereitet sind.

Was wir bisher sehen, ist also: Die Corona-Krise ist ein komplexes, übergreifendes Problem, das nicht ein Politikfeld und seine Bearbeitungsroutinen, -prozesse und -akteure alleine lösen kann. Benötigt wird das Zusammenbinden von Expertisen, Ideenansätzen, Interessen, Motivationen, Kompetenzen und Ressourcen – ob horizontal zwischen Regierungsressorts und externen Akteuren oder vertikal zwischen unterschiedlichen politischen Ebenen von der EU über Bund und Länder bis hin zu den Kommunen. All diese Fragen verhandelt die Politikwissenschaft unter dem Begriff der Governance. Diesem geht es nämlich um die zunehmende Arbeitsteilung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteure unter Rückgriff auf ein diverses Set an Instrumenten, sprich: kein hierarchisches ‚command and control‘, sondern marktliche und vor allem netzwerkartige Lösungen zur Bearbeitung der anstehenden Aufgaben. Regierungen werden so zu Interdependenzmanagern im Sinne ihrer arbeitsteiligen Staatstätigkeit (vgl. Mayntz 2004, S. 72). 

Governing Corona

Der Governance-Diskurs behandelt einmal die (institutionellen) Strukturen der Problembearbeitung, aber auch die sich vollziehenden Prozesse der Interaktionen und Interdependenzen. Governance wird als dynamische Regelungsstruktur verstanden, die dazu dient, (institutionelle) Interaktionsstrukturen zu entwickeln, zu steuern und zu koordinieren. Die Regierung gilt dabei nicht als ein Akteur unter vielen. Auch hierarchiefreie, selbstregulierte Arrangements leben erstens von der zumindest initialen Strukturierung durch Regierungsakteure und zweitens vom „Schatten der Hierarchie“ (Fritz Scharpf), der potenziell auch damit droht, eine Aufgabe in einen hierarchischeren Modus zu überführen. Zum Interdependenzmanagement der Regierung gehört es somit, den Ist-Zustand der Governance-Arrangements zu reflektieren, diese womöglich zu adaptieren und ihn stets über die Grenzen von Ressorts, aber auch die der Regierung selbst hinaus zu denken.

In der Praxis des derzeitigen Corona-Managements lässt sich vieles davon beobachten. Ein Blick auf die Bundesregierung: 

Corona-Kabinett

  • Montags:
    • Treffen des sogenannten kleinen Corona-Kabinetts unter Leitung der Bundeskanzlerin. Außerdem dazu gehören die MinisterInnen folgender Ressorts: Verteidigung, Finanzen, Innen, Auswärtiges Amt, Gesundheit und der Chef des Bundeskanzleramtes.
    • Auch die beamteten StaatssekretärInnen treffen sich (geleitet vom Chef des Bundeskanzleramtes). Gemeinsame Vorbereitung der regulären Sitzung des Regierungskabinetts am Mittwoch mit der Änderung, dass die einzelnen Ressorts Themen anmelden, die wegen des Coronavirus sofort bewältigt werden müssen. Die StaatssekretärInnen legen fest, mit welcher personellen Zusammensetzung und bis wann die Anliegen bearbeitet sein sollen.
  • Mittwochs:
    • Reguläre Sitzung des Kabinetts. Ergänzend dazu findet eine Lageunterrichtung durch externe Akteure (genannt ist als Beispiel das Robert-Koch-Institut) statt.
    • Zusätzliches Treffen der beamteten StaatssekretärInnen (alle Ressorts) unter Leitung des Chefs des Bundeskanzleramtes. Diese Runde bereitet die Themen und Beschlüsse des großen Corona-Kabinetts vor und legt zu weiteren Themen den Bearbeitungsprozess fest.
  • Donnerstags: 
    • Das große Corona-Kabinett ist an der Reihe. Neben den TeilnehmerInnen vom Montag sind hier auch alle FachministerInnen hinzugeladen, die bei den zu behandelnden Themen zuständig sind.

Sonstige Instanzen und Formate

  • Gemeinsamer Krisenstab: Das Bundesgesundheits- und das Innenministerium haben einen gemeinsamen Krisenstab für operative Themen etabliert, wie die Umsetzung der Beschlüsse der Corona-Kabinette, die Befassung mit Hilfeersuchen der Länder sowie das durchgehende Monitoring der Corona-Lage. 
  • Beschaffungsstab: Im Zuständigkeitsbereich des Bundesgesundheitsministeriums wurde außerdem ein Beschaffungsstab angesiedelt, der durch eine Task Force ergänzt wird, die Unterstützungsangebote (z. B. von Wirtschaft und Wissenschaft) wie auch -anfragen (etwa von Ländern) koordinieren und beschleunigen soll.
  • Regelmäßige Bund-Länder-Schalten

Diese erste Auflistung der öffentlich verfügbaren Informationen zur regierungsinternen Corona-Governance zeigt, dass die Bundesregierung strukturell durch neue Gremien (Corona-Kabinette und Stäbe) sowie prozessseitig durch neue Meetingroutinen auf die Krise reagiert hat. Das Problem wird offensichtlich als politikfeld- und akteursübergreifend im Sinne einer transboundary crisis wahrgenommen, letzteres erstmal nur signalisiert durch die Erwähnung der Lageunterrichtung durch externe Akteure sowie durch die Hinweise auf Bund-Länder-Kooperationen in Beschaffungsfragen und die Schalten mit den MinisterpräsidentInnen. Die gewählten Arrangements überraschen dabei keineswegs, hat die Bundesregierung doch mit ebensolchen Formaten bereits auf andere wicked problems wie den Klimawandel oder die Digitalisierung reagiert.

Den Blickwinkel weiten

Während die regierungsinterne Governance dadurch gut erkennbar ist, gilt dies nicht für eine mögliche Integration externer Interessen aus Wissenschaft, Wirtschaft oder Gesellschaft. Um hiermit einhergehende Vor- und Nachteile sowie mögliche Folgewirkungen erörtern zu können, soll die Deutsche Akademie der Wissenschaften Leopoldina als Proxy genutzt werden. Diese legte am Ostermontag, dem 13. April, eine sogenannte ad-hoc-Stellungnahme „Coronavirus-Pandemie – Die Krise nachhaltig überwinden“ mit Handlungsempfehlungen für die Bundesregierung vor. Ohne genauer auf die Analysen und Vorschläge eingehen zu wollen, wird das Papier zunächst einmal der anfangs formulierten Erwartung einer sektorübergreifenden, viele Teildisziplinen außerhalb der Virologie und Epidemiologie integrierenden Problembearbeitung gerecht. Die 26 beteiligten WissenschaftlerInnen der Arbeitsgruppe setzen sich zum Ziel, die „psychologischen, sozialen, rechtlichen, pädagogischen und wirtschaftlichen Aspekten der Pandemie“ zu behandeln. 

Auf den ersten Blick bietet das Papier also eine angemessen breite Entscheidungsgrundlage für die Bundesregierung, um ein besseres Bild auf das oben formulierte Abwägungsdilemma aus gesundheitlichen und den anderen soziologischen, pädagogischen, wirtschaftlichen etc. Folgen zu erhalten. In der medialen Berichterstattung wurde das Papier vor allem für seine Empfehlungen zu möglichen Schul- und Kitaöffnungen in Kombination mit der deutlich verfehlten Geschlechterparität im Gremium (nur zwei Frauen) kritisiert. Doch interessant ist noch etwas anderes: Jede Teildisziplin und jede Wissenschaftlerin, jeder Wissenschaftler bringen ihre/seine Eigenperspektive ein. Sie neigen dabei dazu, auch vorher bereits bestehende Wunschinstrumente als Lösungen für das neue Problem einzubringen. Die Corona-Krise öffnet hier ein Gelegenheitsfenster, das es zu nutzen gilt (John Kingdon (2014) spricht dabei von „pet solutions“). Beispiele dafür sind dieser Tage vielerorts zu beobachten. Ob die Abwrackprämie für die Automobilindustrie, die Versuche, Klimaschutzmaßnahmen zurückzuschrauben oder die gewünschte Refinanzierung der Maßnahmen durch Sonderabgaben auf Vermögen. Im Leopoldina-Papier kann dies sehr gut im wirtschaftswissenschaftlichen Abschnitt verdeutlicht werden, wird dort doch eine „vollständige Abschaffung des Solidaritätszuschlags“ sowie ein Festhalten an der Schuldenbremse angeraten. Eine Schwerpunktsetzung, die so sicherlich nicht jede Ökonomin und jeder Ökonom unterschreiben würde. 

It’s the ideas, stupid!

Wie kann nun bei all diesen Unwägbarkeiten und Widersprüchen eine den unterschiedlichen Facetten der Corona-Krise angemessene Problembearbeitung vonseiten der Bundesregierung aussehen? Was wir derzeit beobachten, ist eine lediglich auf den strukturellen Aspekt von Governance bzw. auf die Entwicklung neuer institutioneller Arrangements abzielende Organisationspolitik. Diese kann zwar helfen, wenn die Herausforderung lediglich in einer besseren übergreifenden Abstimmung liegt, etwa hinsichtlich des Austauschs zu unterschiedlichen Bedarfen an Nachschub in den einzelnen Teileinheiten. Geht es aber um die Bearbeitung komplexer, grenzübergreifender Krisen, reichen eine gemeinsame Gremienlösung und situatives Integrieren von externen Akteuren nicht aus. Der Grund dafür liegt in der Charakteristik von Politikfeldern und ihren Grenzen, die ihre je eigenen Blickwinkel, Pfadabhängigkeiten, Akteure etc. entwickelt haben und so zur Beharrung im eigenen Subsystem tendieren. 

Um solchermaßen bestehende Eigenperspektiven mehrerer Politikfelder zu integrieren, lohnt ein Blick auf die vier Is: issuesideasinterestsinstitutions. Ohne aktive Gestaltung durch Regierungsakteure, die Arrangements schaffen (institutions), aber diese auch mit einem gemeinsamen Zweck aufladen (ideas) und die entscheidenden Akteure einbinden (interests), reicht das Vorliegen einer mehrere Felder überspannenden Herausforderung (issues) nicht aus (Jochim und May 2010, S. 307). 

Die im Rahmen der Herausforderung der Epidemie entwickelten Gremien – Coronakabinette oder Beratungsstrukturen etwa –, müssten demzufolge auch daran gemessen werden, wie sie es schaffen, diverse Binnenperspektiven zu integrieren und diese Akteure und Interessen durch eine übergreifende Dachidee von der Zusammenarbeit zu überzeugen. Ein Konzept, das hierfür Antworten liefern möchte, sind die sogenannten boundary-spanning policy regimes. Ein solches Policy-Regime ist ein politikfeldübergreifendes Arrangement mit dem Ziel, unterschiedliche politische Programme und Ziele im Sinne politischer Kohärenz zu integrieren. Als Hebel sieht es die für die Bearbeitung der wicked problems relevanten Akteure in den Politikfeldern, die es gelte, in Richtung einer gemeinsamen Zielperspektive zu incentivieren (Jochim und May 2010, S. 307). Während andere Ansätze dafür zuvorderst institutionelle Arrangements in den Blick nehmen, setzt dieser genau an den Bedingungen zur Integration der Eigenperspektiven an. 

Die vier Is am Beispiel des Corona-Krisenmanagements

Sehen wir uns die vier Merkmale einmal genauer an:

Issues: Der Punkt lässt sich schnell abarbeiten. Das Virus und seine pandemische Ausbreitung liefern einen extrem starken Impuls, über einzelne Politikfelder hinweg eng zusammenzuarbeiten. Die Krise fungiert als Gelegenheitsfenster – nicht nur, wie oben angesprochen, für einzelne Lieblingslösungen, sondern auch für Kooperation infolge multipler Betroffenheiten. Damit ist aber noch nichts gesagt über das Zustandekommen, geschweige denn die Erfolgsaussichten eines Policy-Regimes. Dafür sind die folgenden drei Merkmale entscheidend.

Institutions: Institutionen bzw. das Design und Zusammenspiel der institutionellen Arrangements legen die Spielregeln für das Kooperationsvorhaben fest. Sie strukturieren Aufmerksamkeit, Kommunikationswege und verteilen Verantwortlichkeiten. Wie dies für die Corona-Krise gestaltet ist, wurde oben bereits vorgestellt: Die Corona-Kabinette dienen als zentrales Gremium der Krisenbewältigung auf zentralstaatlicher Ebene. Zur Unterstützung sind StaatssekretärInnenrunden – und damit die Arbeitsebene – vorgeschaltet. Für kurze Wege und situative Bedarfe sind die Stäbe eingerichtet. Externe Akteure werden ebenfalls situativ einbezogen, zum genauen Prozedere ist aber wenig bekannt. Ein strategisches Zentrum dürfte um Kanzleramtsminister Helge Braun angesiedelt sein, der durch seine doppelte Präsenz in Corona-Kabinetten und Staatssekretärsrunden nicht nur personell eine Schnittstellenfunktion ausübt, sondern auch verstärkt öffentlich präsent ist.

Interests: Ohne die Unterstützung vielfältiger Interessen bzw. Akteure und deren Mobilisierung im gemeinsamen Interesse bleibt das übergreifende Regime bereits im Startblock stecken. Eine breit gefächerte Integration von Interessen dient als Relevanzsignal und Legitimationsbasis nach außen und gleichzeitig zur Wissensgenerierung, Reflexion und auch hier Legitimitätssteigerung nach innen. Die Mobilisierung von Interessen hilft so auch dabei, Angriffsflächen für Kritik zu reduzieren und Vertrauen in der Bevölkerung aufzubauen bzw. zu bewahren (für den Doppelbedarf von governance capacity und governance legitimacy vgl. Christensen et al. 2016). Aufgrund der bei den Issues bereits adressierten multiplen Betroffenheiten – entweder infolge der gesundheitlichen Konsequenzen oder der Folgen des Lockdowns – ist die Motivation zum Einbringen und Integrieren von Interessen und damit die potenzielle Mobilisierungsfähigkeit in der aktuellen Situation enorm hoch.

Ideas: Die bisherigen drei Is sehen erfolgversprechend aus, doch hier kommen wir zum Knackpunkt. Wie lautet die zentrale strategische Idee, die das übergreifende Regime im Kern zusammenhalten soll? Ist diese attraktiv genug, die politikfeldspezifischen Eigenperspektiven zu integrieren? Eine ausführliche Untersuchung der Regierungskommunikation kann an dieser Stelle zwar nicht erfolgen. Zielvorgaben anhand von epidemiologischen Kennzahlen jedoch – das haben die letzten Tage zwischen Verdopplungszeit, Reproduktionsfaktor und weiteren Indikatoren eindrücklich gezeigt – können immer nur temporäre Perspektiven aufzeigen, nicht aber selbst Kernziele sein. Auch deshalb sollte eine solche strategische Komponente der Dynamik der Entwicklung Rechnung tragen und den oben erwähnte zeitliche Dimension von transboundary crises berücksichtigen. 

Leitplanken, Richtungen und Ziele

Im Prinzip geht es darum, wie die Bundesregierung den dilemmaartigen „Tanz“, der in den kommenden Monaten bevorsteht, strategisch-kommunikativ rahmt und damit insbesondere die Länder durch richtungsweisende Leitplanken mitnimmt. Um eine solche übergreifende ideenbezogene Aufnahme zu erreichen, müsste diese zwischen der Gewährleistung eines bedarfsgerechten Gesundheitssystems auf der einen und den negativen Effekten, die von zu diesem Zweck implementierten Maßnahmen ausgehen, auf der anderen Seite integrieren und dazu vor allem animierende, motivierende und einigende Framings nutzen. Die aktuelle Lösung weitgehender Spielräume für die Länder bei gleichzeitiger Installation einer fall- und regionenbezogenen Notbremse verbleibt dazu viel zu sehr auf einer rational-administrativ prozessbezogenen Ebene.

Das Problem, das in der aktuellen Corona-Governance zu beobachten ist, liegt also weniger in einer Vielzahl von (in ihrer Relevanz alternierenden) Indikatoren für die Entwicklung der Infektiosität oder aus allen Interessenrichtungen vorgebrachten „pet solutions“. Das Problem ist eher darin zu sehen, dass keine gemeinsamen strategischen Zielvorgaben (aus einem klar definierten Steuerungszentrum) entwickelt und kommuniziert worden sind. An denen könnte sich abarbeiten, wer möchte. Aus solchen allgemein bekannten Zielvorgaben würden aber klare Richtungsvorgaben resultieren, anhand derer sich für sämtliche Umfeldakteure Leitplanken und Orientierung ergäben.


Der Blog
Corona & Society: Nachdenken über die Krise
Was können Gesellschaft und Politik programmatisch-konzeptionell aus der Krise lernen?


Literaturverzeichnis

Ansell, Chris, Arjen Boin, und Ann Keller. 2010. Managing Transboundary Crises: Identifying the Building Blocks of an Effective Response System. Journal of Contingencies and Crisis Management 18 (4): 195–207.

Christensen, Tom, Per Laegreid, und Lise H. Rykkja. 2016. Organizing for Crisis Management: Building Governance Capacity and Legitimacy. Public Administration Review 76 (6): 887–897.

Jacob, Klaus, und Axel Volkery. 2007. Umweltpolitikintegration und Selbstregulierung. Ein Vergleich von Instrumenten zur Umweltpolitikintegration in den OECD-Ländern. In Politik und Umwelt, Hrsg. Klaus Jacob, Peter H. Feindt, Per-Olof Busch und Frank Biermann, 360–381. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Jochim, Ashley E., und Peter J. May. 2010. Beyond Subsystems: Policy Regimes and Governance. Policy Studies Journal 38 (2): 303–327.

Kingdon, John W. 2014. Agendas, alternatives, and public policies. Harlow: Pearson.

Mayntz, Renate. 2004. Governance im modernen Staat. In Governance – Regieren in komplexen Regelsystemen: Eine Einführung, Hrsg. Arthur Benz, 65–76. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Autor

Alex Berzel

Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg
Alex Berzel ist Gastwissenschaftler an der Professur für Verwaltungswissenschaft an der Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg. Im Projekt „Arrangements vorbeugender Sozialpolitik. Konzeption und Umsetzung vorbeugender Sozialpolitik auf Ebene der Bundesländer – Lern- und Transfermöglichkeiten“ der Universität Kassel wirkt er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter mit.

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