Nun sind zumindest die Wahlen hierzulande durch – und die Ergebnisse zeigen, dass die Sorgen berechtigt waren: Bei der Europawahl kamen die Ampel-Parteien zusammen gerade einmal auf einen Stimmenanteil von 31 Prozent. Bei den Landtagswahlen sollte es noch schlimmer kommen: In Thüringen vereinte die Ampel – insgesamt! – nur 10,4 Prozent und in Sachsen 15,2 Prozent der Wähler:innenstimmen auf sich. In Brandenburg ergibt sich durch das starke Abschneiden der SPD (30,9 Prozent) zwar ein anderes Bild, doch auch hier fuhren Grüne (4,1 Prozent) und vor allem die FDP (0,8 Prozent) miserable Ergebnisse ein.
Ein Jahr vor dem regulären Bundestagswahltermin ist die Zukunft des offenkundig ungeliebten Ampel-Bündnisses damit ungewiss. Für die einzelnen Parteien gilt es, sich nach den Wahlniederlagen dieses Jahres neu aufzustellen und programmatisch zu erneuern. Dass das auch wirklich geschieht, scheint ebenso unumgänglich wie unsicher.
Gelb – Die Devise heißt More of the same
Schauen wir auf den kleinsten und in der Ampel erfolglosesten Koalitionspartner, die FDP, so sind hier erstaunlicherweise keine großen Umbrüche zu verzeichnen. Trotz einer beispiellosen Serie von Wahlniederlagen ist Christian Lindner zumindest intern nach wie vor unumstritten. Allenfalls weisen Misstöne um das Rentenpaket auf innerparteiliche Meinungsverschiedenheiten hin. Parteivize Johannes Vogel inszeniert sich hier deutlich als Kritiker einer Reform, die sein Vorsitzender zusammen mit Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) vorgestellt hatte.
Davon abgesehen scheint die FDP ihre Rettung in der Devise More of the same zu suchen. Immer wieder werden Punkteprogramme vorgelegt, etwa zu Mehr Autoverkehr in den Innenstädten oder Nur noch Brot, Wasser, Seife für abgelehnte Asylbewerber, die erkennbar keine Chance auf Realisierung im Rahmen der Ampelkoalition haben. Die Partei schielt – so viel ist klar – längst auf neue Bündnisse an der Seite der Union.
Grün – Einflusskonsolidierung und Wegbolz-Rhetorik
Dorthin schielten zuletzt auch die Grünen, insbesondere nach dem Rückzug ihres gesamten Bundesvorstands sowie dem Austritt weiter Teile der Parteijugend – inklusive Rücktritt ihres Vorstands. Der jetzige Wirtschaftsminister Robert Habeck steht kurz vor der Ernennung zum Kanzlerkandidaten seiner Partei und hat dabei das ehemalige Merkel-Klientel im Blick.
Dass die designierte neue Co-Vorsitzende Franziska Brandtner als Staatssekretärin im Wirtschaftsministerium Habeck nahesteht, der in dieser Funktion ihr Vorsitzender ist, nutzen Spötter bereits um bei den neuen Grünen von einem Bündnis Robert Habeck, einem BRH, zu sprechen. Das ist natürlich Unfug, denn eine innerparteiliche Einflusskonsilidierung ist ein Jahr vor der Bundestagswahl machtpolitisch weder unlogisch noch an sich verwerflich. Und vor allem ist es meilenweit entfernt von dem Gebaren der Kaderpartei BSW, in der die Spitzenkandidierenden in den Ländern lediglich Staffage sind und sämtliche Entscheidungen von der Namensgeberin Sahra Wagenknecht persönlich getroffen werden.
Das Problem ist also nicht so sehr, dass der grüne Kanzlerkandidat sich und seine Partei in Position bringt; es ist vielmehr der Ton, den er auf der Suche nach lagerübergreifenden Mehrheiten für seine Reformagenda bisweilen anschlägt. Bei einem Unternehmertag sagte er kürzlich über das Lieferkettengesetz, es gehe nicht um einzelne Verbesserungen; vielmehr wolle er die „Kettensäge anwerfen und das ganze Ding wegbolzen“.
Dass die Kettensäge in der politischen Ikonographie längst untrennbar mit dem argentinischen Trump-Pendant Javier Milei verbunden ist, mag noch ein Versehen gewesen sein. Dass aber ein menschenrechtspolitischer Meilenstein wie das Lieferkettengesetz, durch das seit Inkrafttreten 2023 längst auch gravierende Missstände etwa in der Textilindustrie aufgedeckt werden konnten, mal eben „weggebolzt“ werden soll, um sich damit bei Unternehmern vermeintlich beliebt zu machen, das muss dann doch befremden.
Rot – Ruhe und Kontinuität, wo Umbau und Erneuerung angezeigt wären
Und während Habeck bolzt, herrscht bei der Kanzlerpartei SPD nach wie vor jene gespenstische Ruhe, die parteihistorisch untypisch und wohl eine Folge der Konvulsionen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte ist. 2019 hatte die Parteibasis mit dem Duo Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans das größtmögliche Andere gewählt – nur um sich beim folgenden Parteitag mit sich selbst zu versöhnen und sogleich wieder auf Realpolitik im Rahmen der damals ungeliebten Großen Koalition umzuschwenken. Dieser innerparteiliche Versöhnungsprozess wurde abgeschlossen mit Olaf Scholz‘ Ernennung zum Kanzlerkandidaten. Was folgte war „der seltsame Sieg“ (Dietmar Süß) bei der Bundestagswahl 2021, der strukturelle Probleme der Partei zwar nicht lösen, aber fürs Erste überdecken konnte.
Nach den jüngsten Wahlniederlagen fragten sich nicht nur Sozialdemokrat:innen, woher denn die Wende kommen soll, die nötig wäre, um das Kanzleramt über 2025 hinaus halten zu können. Immer wieder wird der populäre Verteidigungsminister Boris Pistorius als Ersatzkanzlerkandidat genannt. Ein Einwechseln wird jedoch nicht zuletzt aufgrund der hohen Niedersachsen-Dichte zusehends unwahrscheinlicher. Der SPD könnte Pistorius im Idealfall einen Kamala-Harris-Moment bescheren. Aufgrund der extrem hohen Hoffnungen könnte die Partei dann aber auch einen Martin-Schulz-Moment inklusive Aufstieg und Fall erleben. Und auch Harris in den USA hat ja noch längst nicht gewonnen.
Für Kontinuität, vor allem aber Klarheit sorgen mag hingegen die extrem schnelle Einwechslung des neuen Generalsekretärs Michael Miersch infolge des Rückzugs von Kevin Kühnert. Nichts soll den Burgfrieden im Willy-Brandt-Haus stören. Doch wären nicht angesichts der dramatischen Lage der Partei ganz andere Töne angezeigt? Müssten die Zeichen nicht auf Umbau, Erneuerung und Modernisierung stehen?
Inmitten des allgemeinen Rechtsrucks wirkt die SPD ziel- und orientierungslos. Es gelingt kaum noch, gewinnende Themen zu setzen. Vielmehr werden diese oftmals von der Merz-CDU vorgegeben und dann in der Light-Version von der SPD umgesetzt. Sanktionen gegen sogenannte Totalverweigerer, umfassende Grenzkontrollen und weitere Verschärfungen im Asylrecht folgen dem rechten Zeitgeist, der auf die liberalen Merkel-Jahre folgt bzw. auf die Fortschrittskoalition, die am Ende wohl doch nur eine Übergangskoalition gewesen sein wird. Ob die Ergebnisse der jüngsten Vorstandsklausur mit Vorschlägen zu einer Steuerreform, zu Prämien für E-Autos und zu 15 Euro Mindestlohn das Ruder herumreissen, bleibt abzuwarten.
Über allen Programmfragen steht ohnehin die Frage nach künftigen Mehrheiten: Wenn FDP und Grüne in Richtung Union tendieren, die Partei Die Linke im Sterben liegt und mit der AfD völlig zu Recht niemand etwas zu tun haben will – wo sieht die SPD dann ihre Machtoptionen? Die ohnehin dramatische Lage der Sozialdemokratie ist durch das Aufkommen des BSW ja noch einmal dramatischer geworden. Denn die Partei der Zeitenwende, die trotz allem Zögern und Zaudern maßgeblich für die militärische Unterstützung der Ukraine steht, verliert aus eben diesem Grund massenhaft Stimmen an das Putin-treue BSW, das sich auf die Fahne schreibt, für Frieden zu sorgen – ein Frieden freilich, der für die Ukraine Unterdrückung und Leid bedeuten würde.
Ob es der SPD gelingt, mit Ralf Stegner jenen Teil der Friedensbewegung herauszuschälen, der sich noch nicht in Richtung Moskau verabschiedet hat, ist fraglich. Als Hauptgegner macht die Parteispitze jedenfalls weder AfD noch BSW, sondern die Merz-CDU aus. Doch bleiben am Ende andere Machtoptionen als die Juniorpartnerschaft im Rahmen eines Kabinetts Merz-Klingbeil? Und wo sind eigentlich – auch und vielleicht gerade in Zeiten eines prävalenten und zum Teil verstörenden Migrationsdiskurses – die starken Vertreter:innen des einstmals erfolgreichen rot-grünen Projekts? Ist die sozialökologische Reformagenda angesichts von Ungleichheit und Umweltkatastrophen nicht trotz allem dringlicher denn je?
Es mangelt nicht an zukunftsweisenden Ideen
Es wäre fahrlässig, in der gegenwärtigen Situation Zukunftsprognosen anzustellen. Niemand weiß, ob die Ampel nicht bereits vor Jahresende platzt. „Nikolaus ist Ampel-Aus“, soll es in gewissen liberalen Kreisen heißen. Geschieht dies aber nicht, wird es weitere Zäsuren bis zum September 2025 nicht mehr geben. Es steht danach lediglich noch die Hamburger Bürgerschaftswahl an und es müsste schon mit dem Teufel zugehen, wenn die SPD sie nicht in traditioneller Manier gewinnt.
Man könnte also sagen: Still ruht der See, während die AfD weiter aufsteigt, mit dem BSW auch noch einen Counterpart gefunden hat und Brandmauern immer mehr bröckeln. Keine Revolten, keine Kampfabstimmungen, keine Entlassungen – nirgends. Die progressiven Parteien hoffen überwiegend auf Ruhe und Kontinuität, wo doch spätestens jetzt Aufregung und Neuanfänge angezeigt wären. Es fehlt ja wahrlich nicht an zukunftsweisenden Ideen, wie etwa jüngst der „Zukunftsplan“ im Handelsblatt gezeigt hat, der eine ganze Reihe kraftvoller Impulse enthält.
Stattdessen: Die FDP möchte endlich ernst genommen werden und versucht es mit Profilschärfung. Die Grünen setzen bürgerliche Akzente und wollen die soziale Flanke absichern. Die SPD adressiert zuletzt häufig die „arbeitende Mitte“ als Kernklientel. Ob das ausreicht, um in diesen stürmischen Zeiten Bewegung in die Umfragen zu bekommen, geschweige denn, um das Land zukunftssicher zu machen?
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