Vor 10 Jahren gründete sich die Alternative für Deutschland. Die rechtsradikale Partei ist mittlerweile in 15 von 16 Landtagen, im Bundestag und im Europäischen Parlament fest angekommen. Zeit, nicht bloß auf sie, sondern auch auf uns Demokrat:innen zu blicken: Was haben wir im Umgang mit dieser antidemokratischen Kraft gelernt? Und was nicht?
Ignorieren, überzeugen, entlarven – im Umgang mit der AfD gibt es viele Strategien und keine davon ist in jeder Situation die richtige. In den vergangenen zehn Jahren haben Medien, Zivilgesellschaft und Politik Vieles probiert, um der größten rechtsautoritären Kraft in Deutschland etwas entgegenzusetzen, ohne dabei die eigenen Ideale zu unterwandern. Ein Rückblick auf zehn Jahre AfD aus der Perspektive der demokratischen Mehrheit:
Bewusstsein für Sprache und Kontext schärfen
Es brauchte allerhand Übung. Über Jahre hinweg suchten vor allem Vertreter:innen der Medien- und Presselandschaft nach einem geeigneten Umgang mit dieser neuen politischen Kraft, die durch Polarisierung, Provokation, Lügen und Häme auffiel. Sowohl in der Quantität (Anzahl der Interviews oder Talkshowgäste) als auch in der Qualität (Sprache, Kontextualisierung, Kommentierung, Kritik) fiel ihnen die Berichterstattung in den Jahren 2015 bis 2018 sichtlich schwer. Die Frage nach einer Mitverantwortung der Medien, die AfD „großgemacht zu haben“, wurde fiebrig diskutiert. Was die Medienlandschaft mit der Zeit gelernt hat, ist, dass die AfD keine Partei wie jede andere ist und daher auch anders behandelt werden muss. Sie fordert zwar lautstark Gleichbehandlung, ist dabei aber selber nicht bereit, Kritik an ihr als solche anzunehmen, sondern wittert in jedem Gegenwind eine politisch motivierte Kampagne.
Selbstsicherheit im journalistischen Umgang mit Antidemokrat:innen im Bundestag entstand zwar langsam, aber immerhin: Besonders gelobt wurde 2018 das Sommerinterview zwischen Thomas Walde (“Berlin direkt”) und dem damaligen AfD-Chef Alexander Gauland, in dem durch ruhiges und beharrliches Nachfragen deutlich wurde, dass die Partei keinerlei Konzepte und Ideen in Fragen der Sozialpolitik hatte, während sie jedoch polemisch verkündete, einzige Vertreterin des “kleinen Mannes” zu sein.
Die Neuen Deutschen Medienmacher*innen veröffentlichten ein Glossar mit Formulierungshilfen für Medienschaffende, speziell mit Begriffen der Einwanderungsgesellschaft – ein Politikfeld, das damals keine andere Partei so erfolgreich sprachlich besetzte wie die AfD. Das Progressive Zentrum erarbeitete mit Medienschaffenden auf Grundlage ihrer Erfahrungen mit antidemokratischen Akteur:innen Materialien, die bei einem souveränen Umgang helfen sollen. Die meisten öffentlich kommunizierenden Personen und Institutionen lernen, zunehmend reflektiert mit Sprache und ihrer Wirkung umzugehen. Die Erkenntnis, dass geschickte und moderne Kommunikation von Partei zu Bürger:innen eine erhebliche Bedeutung hat und abseits klassischer Medienkanäle stattfindet, bleibt leider jedoch weiterhin von Großteilen demokratischer Politiker:innen unbeachtet.
Ernstnehmen, nicht verharmlosen
“Die erledigen sich schon von selbst” lautete während der ersten AfD-Jahre eine beliebte Einschätzung bequemer Demokrat:innen. Trotz anschaulicher Beispiele anderer Länder, in denen rechtspopulistische und zum Teil rechtsextreme Parteien sich auch nicht von selbst erledigten, hielt sich in Deutschland der Glaube an eine nicht ernstzunehmende, zeitlich begrenzte AfD-Phase. Ein Wahlerfolg nach dem nächsten, zunehmende gesellschaftliche Verwerfungen und eine nicht zu übersehende politische Beeinflussung brachten die These Stück für Stück zum bröckeln. Sicherlich nahmen massive parteiinterne Spannungen nie ab und die Austritte (meist mit der Begründung, die Partei sei zu rechtsextrem geworden) mehrten sich, aber die Partei blieb bestehen – und radikalisierte sich zusehends. Dort, wo Raum entstand, nahm ihn die AfD ein: physisch in strukturschwachen Regionen, digital auf Internetplattformen, politisch im Parlament und geistig im Deutungsdiskurs.
Verharmlosung war ebenfalls bei der Bewertung verschiedener AfD-Politiker:innen zu beobachten. Björn Höcke wurde zwar zweifelsfrei als Rechtsextremist bewertet, jedoch häufig auch als Einzelfall oder Außenseiter, während Jörg Meuthen als vernünftiger Kopf eingeschätzt wurde, „mit dem man reden könne”. Die Radikalität von Jörg Meuthen ist heute nach seinem inszenierten Austritt aus der Partei gut aufgearbeitet und die tiefe Verwurzelung und Stärke von Björn Höcke in der AfD ist ebenfalls sichtbar geworden.
Die AfD verharmlost ihrerseits ebenfalls, etwa Reichsbürger:innen, wie Nadine Lindner vom Deutschlandfunk kürzlich prägnant kommentierte. Die Partei meint, was sie sagt, tut und schreibt. Sie ist ernstzunehmen. Jede Verharmlosung ihrer antidemokratischen Vorstellungen ist unangebracht. Das haben wir gelernt.
Nicht mit Rechtsradikalen kooperieren, Demokrat:innen stützen
Gestern, am 5. Februar, jährte sich zum dritten Mal ein beispielloser Vorfall aus dem Thüringer Landtag. Der FDP-Politiker Thomas Kemmerich akzeptierte die Wahl zum Ministerpräsidenten, die er nur mit den Stimmen der AfD-Abgeordneten erlangen konnte. Das wichtige Amt war für den Demokraten nur zum Preis rechtsradikaler Unterstützung zu bekommen. Diesen Preis nahm er in Kauf. Die Thüringer Linkenchefin, Susanne Hennig-Wellsow, warf ihm daraufhin den traditionellen Gratulationsstrauß ihrer Fraktion vor die Füße. Das Foto vom Rechtsextremisten Björn Höcke, welcher – den Kopf gnädig geneigt – Kemmerich die Hand schüttelt, lief durch alle Medienkanäle. Wenige Stunden später versammelten sich überall im Land spontan Demonstrierende vor den FDP-Büros. Kemmerich trat kurze Zeit später nach massivem Druck zurück. Das Debakel war den Freien Demokraten eine Lehre. Aber war es das auch für andere? Vor wenigen Wochen brachte die Thüringer CDU-Fraktion einen Antrag durch (“Gendern, nein danke”), welcher nur Dank der Stimmen der AfD Erfolg hatte. Björn Höcke feierte die gemeinsame Arbeit prompt bei einem öffentlichen Auftritt, wie der Spiegel berichtete. Wann politische Kooperation beginnt und wo sie endet, das ist für die Konservativen noch nicht geklärt. Ganz besonders auf Landes- und kommunaler Ebene.
Die AfD erschwert die parlamentarische Arbeit für alle. Ihre Art fordert Konservative heraus, denn sie versucht sich selbst als “bürgerlich-konservativ” darzustellen, nicht weit von anderen Positionen entfernt. Progressive Politiker:innen sollten ihre konservativen Kolleg:innen zu einer klaren Abgrenzung ermutigen und sie dabei unterstützen. Denn sie eint das Wesentliche: Sie sind alle Demokrat:innen. Der Lernprozess aller Demokrat:innen, besonders auf regionaler Ebene, ist hier noch in vollem Gange.
Wähler:innen von Amtsträger:innen trennen
Mit Rechten reden oder nicht? Vermutlich wird auch diese verkürzte Frage nie ausdiskutiert sein. In der demokratiepolitischen Zivilgesellschaftsszene fanden bisweilen heftige Diskussionen statt, in denen manchmal respektvoll argumentiert, manchmal auch unversöhnlich verurteilt wurde. Nach vielen Jahren, in denen sowohl Dialogformate als auch Demonstrationen, Begegnungen und Blockaden ausprobiert wurden, scheinen sich zwei Lehren herauszubilden. Erstens, Wähler:innen der AfD sollten nicht wie Amtsträger:innen der AfD behandelt werden. Während Amtsträger:innen sich nicht nur vollumfänglich im Klaren sind, was sie ideologisch vorantreiben, tragen sie auch direkte Verantwortung dafür. Den Dialog mit ihnen zu verweigern, ist legitim. Wähler:innen hingegen auszuschließen, deren Verantwortung indirekter Art ist, wäre womöglich eine vertane Chance. Denn da der Souverän bei jeder Wahl politische Macht wieder neu legitimiert, stünde ein Aufgeben dieser nicht gerade kleinen Wählergruppe im Gegensatz zum Ziel eines möglichst hohen pro-demokratischen Wahlergebnisses. Anders ausgedrückt: rechtsradikale Amtsträger:innen können ausgeschlossen werden, Wähler:innen rechtsradikaler Parteien sollten nicht aufgegeben werden. Diese Regel ist jedoch nicht mit Akzeptanz misszuverstehen: Auch Wähler:innen sollte deutlich aufgezeigt werden, was man von ihrer Wahlentscheidung hält. Kritik, Widerspruch und rote Linien (zum Beispiel das Grundgesetz) gehören ebenso zur Demokratie wie Dialog und Wahlfreiheit.
Zweitens, verschiedene Umgänge mit rechtspopulistischen Akteur:innen sind legitim und sogar förderlich. Während Teile der organisierten Zivilgesellschaft sich weiterhin geduldig darauf konzentriert, mit verschwörungsoffenen, rassistisch redenden und sexistisch denkenden Bürger:innen in Dialog zu treten, um ihnen das Giftige daran aufzuzeigen, konzentrieren sich andere auf die harte Abgrenzung und augenblickliche Verurteilung jeglicher gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Beides ist Gold wert. Zivilgesellschaftliche Akteur:innen lernten in den zehn Jahren, in denen die AfD als neue destruktive Kraft unserer Gesellschaft wütete, zunehmend aktivistischen Pluralismus wertzuschätzen.
Wehrhafte Demokratie nutzen
Der Jurist Karl Loewenstein und der Soziologe Karl Mannheim flüchteten vor den Nazis aus Deutschland. Sie sind die ideengeschichtlichen Väter dessen, was wir wehrhafte oder streitbare Demokratie nennen. Eine Demokratie, die sich gegen ihre eigenen Feinde wehren darf und soll, die ihre eigene Abschaffung nicht einfach so geschehen lässt, sondern bereits präventiv gegen Verfassungsfeind:innen in Aktion tritt. Die dafür zur Verfügung stehenden Instrumente und Überzeugungen sollten Demokrai:innen kennen, leben und nutzen. Demokrat:innen können jedes legale Mittel nutzen, um politische Kräfte, die demokratische Grundsätze verachten, entgegenzutreten. Einige würden sagen: Sie müssen.
Wellenartig schwappt die Debatte um die Rechtmäßigkeit und Sinnhaftigkeit eines verhinderten Vizepräsidenten der AfD im Bundestag immer wieder auf. Jede im Bundestag vertretene Partei hat das Recht, eine:n Vizepräsident:in aufzustellen. Aber sie hat nicht das Recht darauf, dass der oder diejenige auch gewählt wird. So urteilte das Bundesverfassungsgericht, nachdem sich die AfD nach vielen gescheiterten Wahlanläufen beschwert hatte. Das Beispiel zeigt: Die Demokratie kann, wenn sie will, ihre Feind:innen mit demokratischen Regeln auf Abstand halten. Kurz nach ihrem Einzug in den Bundestag freute sich die rechtsradikale Partei bereits darauf, mit Alexander Gauland den Alterspräsidenten zu stellen. Die prodemokratische Mehrheit im Bundestag verständigte sich jedoch darauf, dass fortan Alterspräsident:in ist, wer am längsten im Bundestag sitzt, nicht wer am meisten Jahre auf dem Buckel hat. So wurde Gauland als Bundestagsneuling kein Alterspräsident, sondern Wolfgang Schäuble.
Während der ehemalige Chef des Verfassungsschutzes Hans-Georg Maaßen noch mit Aktionen auffiel, wie etwa die Weitergabe unveröffentlichter Informationen aus Verfassungsschutzberichten an Politiker:innen der AfD, wurde die Partei unter dem neuen Behördenchef Thomas Haldenwang bundesweit als rechtsextremer Verdachtsfall eingestuft. Die Entscheidung hatte viele Folgen. Unter anderem diente sie diversen Firmen, Stiftungen und anderen gesellschaftlichen Organisationen als handfester Beweis dafür, dass die Partei keine wie jede andere ist und folglich auch nicht gleich behandelt werden muss. Ein Beweis, der nicht Not tun sollte, um eine eigene demokratische Haltung zu haben, der aber die Wehrhaftigkeit der Demokratie zweifelsohne stärkt.
Während Demokrat:innen also lernen, das Wehrhafte ihrer Demokratie zu nutzen, lernen die Antidemokrat:innen, weniger aufzufallen. Auf diversen Parteitagen der AfD wurde gefordert, sich “auch mal auf die Zunge zu beißen”, öffentlich wird sich scheinbar von Extremist:innen distanziert. Für Demokrat:innen bedeutet das, dass genau hingehört und hingesehen werden muss. Kein netter Mantel in demokratischen Farben sollte über das Innere hinwegtäuschen. Um das zu erkennen und offenzulegen braucht es Wissen, Geduld und mutigen wie unermüdlichen Einsatz.
Eine resiliente Demokratie ist eine lernende Demokratie
Nicht nur haben zehn Jahre AfD Demokrat:innen im Umgang mit der rechtsradikalen Kraft gefordert und geschult, auch haben sie zur Reflektion der eigenen Politik und Haltung angetrieben. Versäumnisse im sozialen, gerechten Umgang mit Bürger:innen und Regionen, Mangel an politisch konstruktivem Streit und Unfähigkeit zur modernen Kommunikation über Soziale Medien sind nur drei von mehreren Vorwürfen, denen die demokratischen Parteien sich zum Teil selbst aussetzen. Die AfD bleibt eine Gefahr für unsere Demokratie. Sie schürt Ressentiments und Ängste, behindert parlamentarischen Fortschritt und leugnet die größte existenzielle Bedrohung unserer Zeit: die Klimakrise. Eine resiliente Demokratie ist auch eine lernende Demokratie. Die Lehren, die in den vergangenen Jahren im Umgang mit der AfD gemacht wurden, ob als Medien, Zivilgesellschaft, Politik, Wirtschaft oder Kulturszene – sie müssen sich stets in Erinnerung gerufen und in vehementes, proaktives Engagement übersetzt werden.