Wie kommt Bewegung in den Wahlkampf?

Seit einem Jahr stagnieren die Umfragewerte der Parteien. Das steht im starken Kontrast zu der Bedeutung, der der vorgezogenen Bundestagswahl im öffentlichen Diskurs beigemessen wird. Wie kann noch Bewegung in den Wahlkampf kommen?

Widerspruch oder Zeichen großer Verunsicherung? Die Bedeutung, die der vorgezogenen Bundestagswahl am 23. Februar im öffentlichen Diskurs beigemessen wird, steht im starken Kontrast zum programmatischen Anspruch der Parteien. Nicht weniger als die Geschäftsgrundlage der Bundesrepublik muss neu erfunden werden. Energie aus Russland, Handel mit China, Sicherheit aus den USA: Tragende Pfeiler des bisherigen deutschen Wohlstands sind eingestürzt oder morsch geworden. Es sind Zeiten, die nach einer grundsätzlichen Neuausrichtung rufen. 

Parallel geht der Aufstieg von Rechtspopulismus und Rechtsradikalismus unvermindert weiter. Nicht zuletzt die Ereignisse im Nachbarland Österreich haben auch hierzulande die bange Frage aufkommen lassen, wann solche Verhältnisse auch in Deutschland drohen. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) spricht von der nächsten Legislatur als „letzter Patrone“, die man im Abwehrkampf gegen die AfD noch habe – was ihn aber nicht davon abhält, seine Union durch ständige Störfeuer zu schwächen und sich auf die Grünen einzuschießen. Mittlerweile hat sich das Diktum festgesetzt, die entscheidende Wahl für das Schicksal der Demokratie sei nicht 2025, sondern 2029 – sofern eine neue Regierung überhaupt so lange hält. Es geht also um viel; doch gewagt wird in den vorliegenden Wahlprogrammen wenig. Keine echte Strukturreform, nirgends. 

Betonierte Umfragewerte seit einem Jahr

So ist es auch kein Wunder, dass sich in den Umfragen kaum etwas bewegt. Seit gut einem Jahr sind die Zustimmungsraten der Parteien wie festbetoniert. Die Union verharrt bei dreißig Prozent als mit Abstand stärkste Kraft, wenn auch mit fallender Tendenz. Die rechtsextreme AfD bleibt mit zwanzig Prozent stabil zweitplatziert. SPD und Grüne kämpfen bei circa fünfzehn Prozent um Platz drei, während FDP, BSW und Linke rund um die Fünfprozenthürde stehen. Möglich ist ein Vier-Fraktionen-Parlament, in dem die beiden progressiven Parteien keine gemeinsame Mehrheit haben, sondern lediglich die lagerübergreifenden Optionen Schwarz-Rot und Schwarz-Grün zur Wahl stehen. Sobald jedoch eine oder mehrere der Kleinparteien in den Bundestag einziehen, wird die Sache komplizierter.

Woher kann in den nächsten gut fünf Wochen die Bewegung kommen, die an den Umfragewerten noch einmal Wesentliches ändern könnte? Ist Merz als nächster Bundeskanzler schon gesetzt und sind die Tage von Olaf Scholz im Kanzleramt bereits gezählt? Ist Robert Habecks Kanzlerkandidatur jetzt schon Makulatur? Denkbar sind immer wieder externe Trump-Schocks, sprich: dass der kommende US-Präsident auch hierzulande mal wieder die Schlagzeilen dominiert und damit Reaktionen auslöst, die den Kanzlerkandidaten Punkte bringen oder sie kosten könnte. Doch es ist längst nicht ausgemacht, welchen Parteien das schadet oder nutzt. Auch beim Thema Ukraine dürfte sich in den nächsten Wochen nichts Wesentliches bewegen; hat doch mittlerweile auch der Sondergesandte Keith Kellogg von den vierundzwanzig Stunden Abstand genommen, in denen Trump das Thema abräumen wollte.

Könnte Scholz seine Trump-Kritik – gerade im Gegensatz zu Merz’ Zögerlichkeit – im Wahlkampf helfen? Auf der anderen Seite: Welche Fehler wird Merz noch machen, die sein Image zementieren würden, sich selbst nicht immer im Griff zu haben? Fällt die Union erstmal unter dreißig Prozent und kann sich auf der anderen Seite ein Kandidat des progressiven Lagers über die Zwanzigermarke hieven, könnten Kipppunkte erreicht sein, die solche durchaus möglichen Trends noch einmal verstärken. Denkbar wäre jedoch auch ein anderer, ganz und gar nicht wünschenswerter Kipppunkt: Der nämlich würde das Rennen von einem Duell Merz gegen Scholz beziehungsweise Merz gegen Habeck zu einem Duell Merz gegen Weidel werden lassen.

Disruptionslevel: vergleichsweise niedrig

Um die Elastizität der Umfragen zu testen, lohnt es sich, die Programme der Parteien einmal hinsichtlich ihres Disruptionslevels zu untersuchen. Disruption muss ja nicht immer nur Zerstörung mit der Kettensäge bedeuten, sondern kann auch allgemein als tiefgreifende konstruktive Veränderung verstanden werden. Denn solche müssen zweifelsohne kommen. 

Die SPD, die auf ihrem Parteitag nun auch offiziell ihren Kanzlerkandidaten gekürt hat, lehnt sich programmatisch nicht allzu weit aus dem Fenster. Neben Steuererstattungen unter dem Label Made in Germany und dem sinnvollen Vorschlag eines Deutschland-Fonds zur Ankurbelung der Wirtschaft, den auch Grünen-Kandidat Habeck fordert, kommt der Entwurf des Regierungsprogramms eher gediegen daher: Von allem für alle etwas; kleinere Geschenke hier und dort; doch ein übergreifendes Thema – wie 2021 beispielsweise der Respekt – fehlt. Zum SPD-Disruptionslevel insgesamt lässt sich sagen, dass es programmatisch zwar irgendwie nach vorne geht, aber dass hier die neue Zeit zieht, wie es in einem alten Parteilied heißt, würde wohl auch kaum jemand behaupten.

Wie auch die SPD wollen Bündnis90/Die Grünen die Schuldenbremse reformieren, höhere Vermögen stärker besteuern und den Mindestlohn auf fünfzehn Euro erhöhen. Würde es am Ende doch noch irgendwie für Rot-Grün oder Grün-Rot reichen, dürften Koalitionsverhandlungen relativ einfach werden. Nach jetzigem Stand aber ist das nicht zu erwarten. Unterschiede sind allenfalls darin zu erkennen, dass das Grünen-Programm weniger konkret daherkommt, während man dem SPD-Text die Gremienarbeit ansieht. Mediale Aufmerksamkeit erzeugen insbesondere die höheren Verteidigungsausgaben, die Grünen-Kanzlerkandidat Robert Habeck (3,5 Prozent) im Vergleich zu Olaf Scholz (2 Prozent) fordert. Das grüne Stammthema Klimaschutz findet sich hingegen erst ganz hinten im Programm. Auch hier bleibt das Disruptionslevel vergleichsweise niedrig: Man wagt aus der Position des Underdogs heraus schon auch ein bisschen, aber bei Weitem nicht so viel, wie eigentlich nötig wäre. Immerhin: Mit der Forderung, Sozialversicherungsabgaben auch auf Kapitalerträge zu erheben, kam zuletzt neuer Schwung in die Kampagne.

Soufflé und Entzauberung

Indes hat es die CDU tatsächlich geschafft, in drei Jahren nicht nur keine einzige originelle Idee zu entwickeln, sondern auch kein neues Personal aufzubauen. Wenn dann Julia Klöckner, Jens Spahn oder Alexander Dobrindt ihre alten Schlager im neuen Gewand darbieten und sich an der Ex-Ampel abarbeiten, fühlt man sich an das Joschka-Fischer-Wort vom Soufflé erinnert, das sofort in sich zusammenfällt, wenn man einmal reinpiekt. Und so lässt sich auch zum CDU/CSU-Disruptionslevel sagen, dass es äußerst gering ausfällt: die Ampel rückabwickeln, große und rechtsstaatlich bedenkliche Töne bei Migration und Bürgergeld spucken, hoffen, dass sich davon die AfD irgendwie in Luft auflöst, im Übrigen auf Wirtschaftswachstum setzen, das kommen kann oder auch nicht – diese dürftige Melange wird die liberale Demokratie nicht retten.

Auch was die kleineren Parteien angeht, disruptiert da eher wenig. Die FDP laboriert mal wieder an den Folgen einer Regierungsphase und schießt dabei wild um sich („Umweltbundesamt abschaffen!“). Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) ist dabei, sich bemerkenswert schnell zu entzaubern und in internen Kämpfen aufzureiben. Die Linke schließlich wird wohl, wenn überhaupt, nur durch Direktmandate erneut in den nächsten Bundestag einziehen – nach wie vor mit lauter ungeklärten Richtungsfragen.

Nicht nur die Köpfe gewinnen, sondern auch die Herzen

Pfadabhängigkeiten, wohin das Auge blickt – während dieser Pfad langsam auf einen Abgrund zuführt. Dabei liegen die Megathemen von der kommunalen bis hin zur europäischen Ebene ja direkt vor den Füßen und wurden vielfach beschrieben. Die To-Do-Liste der künftigen Regierung ist lang. Wer immer sie angeht, muss jedoch eine passende Klammer finden, eine überzeugende Erzählung, wie es wahrscheinlich seit Ludwig Erhards “Wohlstand für alle” oder Willy Brandts “Mehr Demokratie wagen” niemand mehr vermocht hat. Dies zu versuchen, ohne der permanenten Vergiftung des öffentlichen Diskurses durch Putin, Musk, AfD & Co. endlich wirksame Instrumente entgegenzusetzen, kann allerdings kaum gelingen. Es war der Arzt und Soziologe Wilhelm Reich, der 1933 angesichts des ersten Aufstiegs von Rechtsradikalismus und Faschismus bemerkte, dass „die bloße Erörterung der objektiven sozialökonomischen Krisenprozesse“ kaum jemanden erreicht. Es müsse auch „der Geist“ angesprochen werden. Am Ende gewann die weithin unvernünftige „Mystik“ der Nationalsozialisten über die Faktenorientierung der Weimarer Parteien.

Wer immer sich anschickt, diese erneute Welle, die alle westlichen Demokratien heimsucht und nun auch in Deutschland höher schwappt, doch noch brechen zu wollen, muss nicht nur die Köpfe gewinnen, sondern mehr noch die Herzen. Springt irgendwo ein Funke über, könnte nochmal Bewegung in die Umfragen kommen. Dafür aber müsste Olaf Scholz von der Besonnenheit zur Tatenlust umschwenken, Phrasen weglassen und den Veränderungsanspruch der SPD verdeutlichen. Robert Habeck müsste grüne Kernthemen in Vorbereitung auf eine mögliche schwarz-grüne Konstellation nicht länger verstecken. Vorsichtiges Hin- und Herlavieren erscheint oft vernünftig und realistisch. Es ist aber selten von Erfolg gekrönt.

Herzliche Grüße

Karl Adam

Autor

Karl Adam

Freier Redakteur
Karl Adam schreibt für das Progressive Zentrum als Freier Redakteur. Er ist selbstständiger Projektmanager und Mitglied im Vorstand der Deutsch-Polnischen Gesellschaft und der Europa-Union Göttingen.

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