Wie steht es um die Meinungsfreiheit in Deutschland und Europa? US-Vizepräsident James David Vance hat auf der Münchner Sicherheitskonferenz deutlich gemacht, dass diese Frage fortan ein Kriterium für die Trump-Administration sein wird, wenn es darum geht, die Sicherheit Europas zu garantieren. Der Vorwurf lautet, freie Rede werde hier eingeschränkt, sei es durch die strafrechtliche Verfolgung von Hass und Hetze im Internet, durch diskursiv erzeugte Brandmauern gegen rechtsextremistische Parteien oder durch Annullierung von Wahlen aufgrund des Verdachts russischer Einmischung, wie jüngst in Rumänien. Die Europäer:innen hätten, so urteilte Vance unlängst an anderer Stelle, Angst vor dem Volk. Und angesichts des Umstands, dass die amerikanischen Steuerzahler:innen die „gesamte deutsche Verteidigung“ subventionieren würden, stoße es ihnen sauer auf, „wenn jemand in Deutschland ins Gefängnis kommt, nur weil er einen gemeinen Tweet gepostet hat“.
Was sind mögliche politische Antworten auf diese neue Situation? Haben wir es mit der Kollision unterschiedlicher Begriffe von Meinungsfreiheit zu tun? Hat Vance gar einen Punkt, wie Springer-Chef Martin Döpfner meint? Ist der Digital Services Act (DSA) der EU tatsächlich ein Einfallstor für staatliche Zensur und der Trusted Flagger eigentlich der neue Blockwart? Der Resonanzraum für Vances Vorwürfe ist jedenfalls da, ein Diskurs um „Zensur“ oder „Meinungsdiktatur“ längst vom Zaun gebrochen. Sollten wir die neue Strategie der US-Administration, sich als Meinungsfreiheitspolizei zu präsentieren, also als Chance begreifen, unser eigenes Verhältnis zur Meinungsfreiheit zu prüfen? Müssen wir gar mehr Demokratie wagen, um uns die jahrzehntealte Bündnistreue und den militärischen Schutz der USA wieder zu verdienen?
Meinungsfreiheitsdiskurs – kein Unternehmen im Namen universeller demokratischer Ideale
Wer angesichts der Abhängigkeit von den USA bereit ist, über die Stöckchen zu springen, die Vance, Trump oder Musk hinhalten, wird auf diese Weise erst recht die Sicherheit Europas und Deutschland gefährden. Denn eine Analyse des Meinungsfreiheitsdiskurses der letzten Jahre bis heute zeigt, dass es sich eben nicht um ein Unternehmen im Namen universeller demokratischer Ideale handelt, sondern um deren Instrumentalisierung zum Zwecke eines oligarchischen Projekts mit rechtsextremer Färbung, das in den USA mittlerweile klare Konturen annimmt. Die Tech-Giganten haben entschieden, daran teilzuhaben. Es empfiehlt sich daher für das progressive Europa, Strategien zu entwickeln, um dem nun obwaltenden Recht des Stärkeren auch in demokratiepolitischer Hinsicht etwas entgegenzusetzen.
Deshalb sind Vances Vorstöße auf dem internationalen Parkett zunächst einmal als Einmischungen in die Souveränität demokratischer Staaten zurückzuweisen. Freilich ist es zu einer gängigen Praxis internationaler Politik geworden, sich für Menschenrechte in anderen Staaten einzusetzen, gerade auch in progressiver Absicht. Doch der Hinweis auf die eigene Souveränität, mit dem gerade kleinere Staaten in der jüngsten Vergangenheit der Einmischung Elon Musk begegnet sind, darf durchaus Schule machen. Der neuen US-Administration servil zu folgen, wird kaum dazu führen, als Verhandlungspartner langfristig ernst genommen zu werden.
Verlust des demokratischen Wertekompasses in den USA
Auch Deutschland muss aus seiner alten Rolle als demokratiepolitischer Zögling der USA herauswachsen. Sicher, da war das amerikanische Reeducation-Projekt, das nach dem Ende der NS-Diktatur „Democratization“ ausrief, da waren die Amerikahäuser als kulturelle Hubs, in denen Deutschen durch Diskussionsveranstaltungen das demokratische Diskutieren vermittelt wurde, und da war nicht zuletzt die US-amerikanische Oberhoheit über die Bundesrepublik gemeinsam mit den anderen Alliierten. Es ist also an sich nichts Neues, dass Amerikaner den Deutschen erzählen, wie sie Demokratie auf „richtige“ und für alle Partner sichere Art und Weise praktizieren.
Doch diese Geschichte hält für die heutige Problemlage auch ein interessantes Argument bereit. Denn das Grundgesetz, das im Namen der Menschenwürde verfasst wurde und dementsprechend nicht nur das Recht auf Meinungsfreiheit, sondern auch die Einschränkungen dieses Rechts kodifiziert, wurde vom Hohen Kommissar der USA 1949 abgesegnet. Das Wertefundament, auf dem heute Vergehen gegen Hass und Hetze im Internet strafrechtlich verfolgt werden, das Beschimpfen, Verächtlichmachen oder Verleumden von Personen, das Aufrufen zu Gewalt- und Willkürmaßnahmen gegen Einzelne oder Gruppen aufgrund der ihr zugeschriebenen Zugehörigkeiten, auch der politischen: Das traf sich 1949 mit den Sicherheitsinteressen der USA. Insofern sagt die Haltung der Trump-Administration in Sachen Meinungsfreiheit mehr über den Verlust des demokratischen Wertekompasses in den USA aus als über einen Wandel bundesrepublikanischer oder auch europäischer Maßstäbe. Hier wird nicht nur die Freiheit zur Meinungsäußerung, sondern auch die Freiheit von der Meinungsäußerung, die Persönlichkeitsrechte anderer und damit ihre Menschenwürde verletzt, nach wie vor großgeschrieben.
Meinungsbildung und Wahrheitsfindung – zwei verschiedene Dinge
So wie Rechtsextreme und Libertäre den Freiheitsbegriff besetzt haben, so neigen auch Sprecher:innen in der politischen Mitte Deutschlands dazu, politische Regelsetzung im Sinne des Grundgesetzes als Strategie zur Verteidigung „linksliberaler Hegemonie“ zu denunzieren. Jasper von Altenbockum hat in der FAZ moniert, Politik könne nie „ganz und gar ideologiefrei definieren“, was Hass, Hetze und Desinformation sein solle1. Das ist an sich richtig. Nur geht von Altenbockum so weit, die Entscheidung Mark Zuckerbergs, auf Facebook den unabhängigen „Faktencheck“ abzuschaffen, als Rückkehr zur freien Rede und zur Pressefreiheit zu werten. Meinungsbildung und Wahrheitsfindung sind jedoch zwei verschiedene Dinge. Die Unterscheidung zwischen wahr und falsch treffen zu können, gehört (noch) zu den kulturellen Kompetenzen, auf die westliche Demokratien bauen, und sie treffen zu wollen, dafür steht auch die Presse seit ihrer Entstehung. Faktenchecker – noch dazu unabhängige – setzten diese Grundregel eines demokratischen Diskurses durch in Räumen, wo es keine journalistischen Gatekeeper und keine Fakten checkenden Chefredakteur:innen mehr gibt.
Wenn von Altenbockum aber dafür plädiert, Mark Zuckerberg oder Elon Musk die Verantwortung dafür zu überlassen, wie sie den Diskursraum in ihren Plattformen ausgestalten, hat er womöglich von der Welt der Presse allzu schnell auf die Welt des Internets geschlossen. Es ist naiv, zu glauben, Plattformen selbst könnten Meinungsbildung als „ein Produkt des Wettstreits und der Konkurrenz“ herstellen. Plattformen haben sich als vermachtete Räume herausgestellt. Die Beschaffenheit der „Marktplätze“, die sie zur Verfügung stellen, liegt einzig und allein in der Hand einer Unternehmensführung. Plattformen sind daher das, was die Diktaturgeschichte „gelenkte Öffentlichkeiten“ nennt.
Die Öffentlichkeit, die sie herstellen, funktioniert nach Regeln, die für die User nicht verhandelbar und nicht durchbrechbar sind. Sie können nur versuchen, nach diesen Regeln zu spielen und für sich das Beste herauszuschlagen. Das häufig vorgebrachte Argument, das Netzwerk X habe seinen zugrundeliegenden Algorithmus offengelegt, ist eigentlich keines. Denn welche Handlungsmacht erwächst für den User daraus, außer sich auf die Regeln dieses Algorithmus einzulassen? Faktenchecker oder Meldestellen für Hassrede sind vor diesem Hintergrund auch als ein Quäntchen Markt inmitten der gelenkten Öffentlichkeit der Plattformen zu verstehen, die aus sich heraus, wie sich mittlerweile zeigt, nur eine Färbung der Inhalte und nur eine Form des Vortrags priorisieren.
Unbeschränkte Macht statt freier Markt
Wem der Modus nicht gefalle, mit dem Musk, Zuckerberg und Co. ihre Plattformen betreiben, der könne sich ja etwas anderes suchen als X oder Instagram, so Altenbockum. Doch das Internet ist kein gut sortierter Bahnhofskiosk. Medienwissenschaftler:innen haben festgestellt, dass die Vielfalt des Internets sich im Nutzerverhalten nicht widerspiegelt. Die Plattformen erweisen sich faktisch als Monopolisten, die sich keiner Konkurrenz stellen müssen und möchten. Damit stehen die Tech-Giganten – nicht nur die amerikanischen – eben gerade nicht für den freien Markt, sondern für die unbeschränkte Macht, die Regeln des Marktes zu setzen. Das ruft geradezu notwendig, wie in jeder anderen Branche, den Staat aufs Tapet.
Demokratische Rechtsstaaten haben sich von jeher dadurch ausgezeichnet, Regeln für die politische Debatte zu setzen und sich selbst gegen Akteure zu schützen, die durch Volksverhetzung und andere Strategien den demokratischen Rechtsstaat und seine Werte auszuhöhlen versuchen. Die Geschichte des Staatsschutzes ist selbstverständlich auch eine politische Geschichte, bei der es um die Eindämmung der Extreme geht. Die längste Zeit war das auf zwischenstaatlicher Ebene (und auch in der FAZ) Konsens – so lange, wie die einstige Schutzmacht der liberalen Demokratie jenseits des Atlantiks selbst liberalen Werten verpflichtet war. Insofern können Deutsche und Europäer die USA heute auch an ihre verlorenen Traditionen erinnern.
1Jasper von Altenbockum, Die Angst vor dem Verlust linksliberaler Hegemonie, in: FAZ, 9. Januar 2025.