Mir reicht’s Bürger

Eine Analyse der Montagsdemonstrationen in Chemnitz und Gera im Winter 2022/2023

Zusammenfassung

Politische Lösungen werden keiner Partei richtig zugetraut, Antiamerikanismus und Nationalismus sind weit verbreitet: Die qualitative Studie „Mir reicht’s Bürger“ des Progressiven Zentrums und der Bertelsmann Stiftung hat Teilnehmende der von Rechts organisierten „Montagsdemonstrationen“ in Ostdeutschland nach ihrer Sicht der Dinge gefragt. Der Fokus der Untersuchung liegt dabei nicht auf den Organisator:innen, sondern den „Mitlaufenden“, ihren Protest-Motiven und Erwartungen an die Politik. Sie eint vor allem ein Unmut über die Regierungspolitik, der letztlich auf einem fundamental anderen Deutschlandbild und Demokratieverständnis als dem der Mehrheitsgesellschaft basiert.

Ergebnisse

Das Deutschlandbild der Befragten ist oft nationalistisch geprägt und verlangt einen „souveränen“ (im Sinne von gänzlich auf sich selbst orientiert) handelnden Staat. Demokratie soll möglichst direkt sein, jegliche repräsentative Institutionen und Prozesse stehen dem im Wege. Viele Befragte sehen sich als die „wahren“ Demokrat:innen. Verantwortung trage Deutschland zuallererst für das Wohlergehen der Deutschen, nicht für das der Ukrainer:innen oder anderer Ausländer:innen. Aus dieser Perspektive kann nur Widerspruch zur geltenden Außen-, Wirtschafts-, Klima-, Innen- oder Sozialpolitik entstehen.

Teilnahmemotivation

Die meisten Protestierenden sind geübte Montagsdemonstrant:innen. Mehr als 55 % der Befragten gehen seit Jahren regelmäßig montags auf die Straße. Dabei nennt kaum eine:r die steigenden Energiekosten oder Inflation als einzigen Grund, stattdessen werden Kritik am deutschen Umgang mit dem Ukrainekrieg, Unzufriedenheit mit der Coronapolitik und allgemeine Regierungskritik am häufigsten genannt. In den Interviews tritt ein tief sitzendes Misstrauen gegenüber den politischen Akteur:innen, Antiamerikanismus und Nationalismus zutage.

Zukunft ist Wirtschaft – und die ist in Gefahr

Die allgemeine Sorge um die Zukunft des Wirtschaftsstandorts Deutschland ist außerordentlich hoch: So meinen die Interviewten, Sanktionen gegen Russland träfen in erster Linie die deutsche Wirtschaft und die Sorgen des Mittelstands (z.B. hohe Inflation) würden übergangen. Für viele Befragte sind die Grünen unmittelbar verantwortlich für die schlechten wirtschaftlichen Aussichten. Klimapolitische Maßnahmen wie der schnelle Umstieg auf erneuerbare Energie würden den Industriestandort Deutschland gefährden. Dabei stößt das Thema Umweltschutz im Allgemeinen nicht so eindeutig auf Ablehnung.

Weidel und Wagenknecht als Paar für die Krise

Nach Akteur:innen gefragt, denen die Demonstrierenden Lösungen und Antworten auf die aktuellen Herausforderungen zutrauen, werden immer wieder Alice Weidel, Co-Vorsitzende der AfD-Bundestagsfraktion, und Sahra Wagenknecht, Politikerin der Partei Die Linke genannt, sowohl einzeln als auch sehr oft in Kombination.

Auffällig ist außerdem, dass trotz der Akzeptanz zahlreicher Positionen und Narrativen der rechtspopulistischen AfD der Partei selbst im Allgemeinen nur bedingt eine Lösungskompetenz zugeschrieben wird. Die Grünen sind Kristallisationsfiguren für den Unmut der Befragten – ihnen wird überwiegend Kompetenz zum Regieren abgesprochen. Auffällig im Vergleich zur Präsenz der Grünen in den Interviews ist die Ignoranz gegenüber Kanzler Olaf Scholz und den beiden Regierungsparteien SPD und FDP.

Vorgehen

Wir haben mit zwei Forschungsteams der TU Dresden auf den sogenannten Montagsdemonstrationen in Chemnitz und Gera knapp 200 Teilnehmende befragt. Die Interviews fanden von November 2022 bis Januar 2023 an insgesamt sechs Montagen statt und richteten sich nicht an die Organisator:innen, sondern „Mitlaufende“. Für unsere Interviews nutzten wir einen Leitfaden, der neben Fragen zum Wohnort und der Häufigkeit der Demonstrationsteilnahme vor allem offene Fragen enthielt.

Handlungsempfehlungen

Politische Bildung: Für ein liberales Demokratieverständnis werben

Während zum demokratischen Wesenskern der Bundesrepublik Reibung und Gegenrede, Aushandlung und Kompromiss, Zweifel und Abwägung, sowie die Beachtung von Minderheiten und Interessengruppen gehört, sind all das in der Lesart der Demonstrant:innen Hemmnisse für eine „wahre Demokratie“. 


Eine politische Bildung, die für die pluralistischen Werte einer offenen Gesellschaft wirbt und ihre Vorteile praktisch erläutert, ist daher an vielen Stellen gefordert: in der Schule, in der Ausbildung, am Arbeitsplatz, in den Medien, im Bürgergespräch. Darüber hinaus können auch langfristige, demokratiefördernde Institutionen, wie das Forum Recht, oder Vorhaben in den Regionen, die durch das neue Demokratiefördergesetz gestärkt werden, ihren Beitrag leisten.

Auf den Grund gehen: Was, wann, warum Resonanz findet

Spricht man mit Demonstrant:innen, ist davon auszugehen, dass sie kritisch mit Politik und Regierung ins Gericht gehen. Jedoch werden die Entlastungspakete der Regierung im Umfang von immerhin 135 Milliarden insgesamt überraschend selten thematisiert. Es würde sich lohnen, dies genauer zu analysieren: Welche Maßnahmen finden keine oder mehr Resonanz? Und warum ist das so? Gegebenenfalls könnte auch hierbei ein lokaler Ansatz helfen, um Protestierende und Politiker:innen auf kommunaler, Landes- und Bundesebene mithilfe von neuen Beteiligungsformaten in den Austausch zu bringen.

Fokus auf die Machbarkeit der sozial-ökologischen Transformation richten

Während die Grünen sowohl als Partei als auch als kulturalisierte Personengruppe das zentrale Feindbild im Inneren darstellen, stößt ihr Kernthema, der Umweltschutz, nicht so eindeutig auf Ablehnung. Besonders Parteien und Politiker:innen, die nicht per se und umfänglich als Feindbild angesehen werden, sollten ihren Zugang nutzen, um die Machbarkeit von sozialökologischen Maßnahmen im Zuge der Transformationspolitik zu erläutern. Ihre Erklärungen der Notwendigkeit der Transformation oder Vorschläge zu grundlegenden Möglichkeiten würden nicht auf die vielfach geäußerte Skepsis treffen. Vielversprechend wäre aus unserer Sicht auch, insbesondere die Frage des „wie“ vor dem Hintergrund der ostdeutschen Erfahrungen mit Transformationsprozessen in den Prozess des Aufbaus des Zukunftszentrums Deutsche Einheit mitzudenken.

Stimmen zur Studie

Martin Dulig, Minister im Sächsischen Staatsministerium für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr und stellvertretender Ministerpräsident 

“Die Angst vor Wohlstandsverlust sowie Krieg und Frieden sind berechtigte Fragen. Viele haben Angst, wegen der steigenden Preise abzurutschen.  Viele kommen nur schlecht zurecht. Das muss alles diskutiert werden. Genauso wie Fehler der Coronapolitik oder Herausforderungen der Energiewende und Transformation.         

Doch die Studie zeigt, dass es den meisten „Montagsspaziergängern“ gar nicht um konkrete Verbesserungen geht: Mindestlohn, Entlastungen oder konkrete Politik spielten scheinbar keine Rolle. Viele haben sich hingegen seit vielen Jahren in einer Anti-System-Haltung eingerichtet. Und dies hat nur bedingt mit den aktuellen Krisen zu tun: dass die Proteste gerade in kleinen und mittleren ostdeutschen Städten stattfinden, scheint kein Zufall. Hier erlebte man die Transformation nach 1990 häufig als Niedergang und den dennoch geschafften Wohlstand als brüchig und sehr hart gegen alle Widerstände von außen selbst erarbeitet.

Betrachtet man die Ergebnisse der Studie, ergeben sich für mich mindestens drei Folgerungen: Erstens ist es gut, dass die Bundesregierung unter Olaf Scholz so agiert, dass eine Zwei-Lager-Polarisierung in Deutschland gerade nicht entsteht. Es ist gut, bei zentralen und die Gesellschaft aufwühlenden Themen keine Alternativlosigkeit vorzuschreiben, sondern die Komplexität der Vorhaben betonen, egal ob beim Thema des Angriffskrieges Putins auf die Ukraine und Waffenlieferungen oder auch bei den Themen Klimaschutz und Zuwanderung.

Ohne einen solchen Ort zu überschätzen, es ist zweitens gut, dass das „Zukunftszentrum für die Deutsche Einheit und Europäische Transformation“ nun in Halle gebaut wird. Und es ist zentral, dass die Gefühle des Niedergangs und der Brüchigkeit von Wohlstand dort eine Rolle spielen.

Schließlich drittens muss allen nach dem Lesen der Studie deutlich geworden sein, dass diese Bewegungen gefährlich für unsere Demokratie sind. Werden solche Einstellungen stärker und polarisieren diese sogar das ganze Land, dann wird auch eine Politik unterstützt, welche freie Justiz, Medien und Opposition in Frage stellt und die Axt an die Demokratie legt. Ungarn, Polen, Israel oder auch den USA unter Trump sind bittere Beispiele für eine solche Entwicklung. Allerdings funktioniert hier keine klassische Anti-Rechts Rhetorik. Gefährlich ist es hingegen, diesen Leuten nach dem Mund zu reden, wie dies immer wieder passiert.”

Knut Kunze, Bürgermeister für Recht, Sicherheit und Umweltschutz in Chemnitz

“Grundsätzlich sind friedliche Demonstrationen ein legales durch das Grundgesetz geschütztes Mittel, welches auch in Chemnitz von verschiedensten Gruppierungen und Parteien genutzt wird, um ihre politischen Meinungen zu äußern. Viele Punkte der Studie bestätigen den Eindruck, den wir in der Stadt haben. Die Teilnehmerzahlen der genannten Versammlungen, die wir auch weiterhin beobachten und deren Entwicklung wir auch in enger Zusammenarbeit mit der Polizei verfolgen, bilden die städtische Gesamtbevölkerung mittlerweile lediglich noch im Promillebereich ab. Kein Grund sich entspannt zurückzulehnen, aber Demokratie lebt von Mehrheiten. Die seit vielen Jahren etablierten Demokratieprojekte, offenen Gesprächsrunden und Diskussionsformate werden in Chemnitz gut angenommen und somit können wir auch der Schlussfolgerungen der Autoren, mit weiteren Projekten Demokratie zu fördern und für diese zu werben, folgen.“

Marie Müser, Landesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen Sachsen

“Gerade als Leipzigerin ist es bestürzend zu sehen, dass der historische Leipziger Innenstadtring an Montagen mit antidemokratischen Tönen beschallt wird. Hier wird die Geschichte verkannt: Der Kampf für Freiheit, den die Menschen 89 in einem Unrechtsstaat führen mussten, wird hier als Vergleich genutzt und in Relation gesetzt zu politischen Entscheidungen, mit denen man unzufrieden ist. Doch auch wenn es bestürzt müssen wir uns die Frage stellen: Wieso misstrauen Menschen in demokratische Institutionen und Prozesse und was ist der Ursprung ihrer Sorgen? Auch als Politikerinnen und Politiker müssen wir darauf Antworten finden. Das Gegenhalten alleine reicht hier nicht mehr aus.“

Hanka Kliese, Stellvertretende Vorsitzende der SPD im Sächsischen Landtag

“Die Ergebnisse der Studie werfen erneut die Frage auf, inwieweit in Teilen der Bevölkerung eine andere Vorstellung von Demokratie herrscht als die durch das Grundgesetz formulierte. Das kann man als Auftrag für die politische Bildung betrachten, aber auch als Motivation, Beteiligungsformate weiter auszubauen und politische Entscheidungen noch besser zu erklären.“

“Besorgniserregend ist die starke Fokussierung der Kritik auf Einzelpersonen aus der Politik, da diese, wie nicht zuletzt in Sachsen, häufiger in Bedrohungen mündet. Die Ergebnisse bezüglich des Zutrauens gegenüber einzelnen Personen aus der Politik sind dahingehend bemerkenswert, dass der AfD als Partei selbst weniger zugetraut wird, als es Wahlergebnisse vermuten lassen. Die AfD hat im Parlament enttäuscht – vor allem die eigene Klientel.”

“Obwohl es sich bei den Befragten um einen geringen Prozentsatz der Bevölkerung handelt, sind die Ergebnisse ein guter Impuls für die demokratischen Parteien. Es bleibt unsere Aufgabe, politische Entscheidungen in ihrer Komplexität zu erklären, statt der Versuchung zu erliegen, einfache Wahrheiten zu verkünden.”

Die Studie „Mir reicht’s Bürger“ in der Presse


Die Studie ist in Zusammenarbeit mit der Bertelsmann Stiftung entstanden.

Autor:innen

Paulina Fröhlich

Stellvertretende Geschäftsführerin und Leiterin | Resiliente Demokratie
Paulina Fröhlich ist stellvertretende Geschäftsführerin und verantwortet den Schwerpunkt „Resiliente Demokratie“ des Berliner Think Tanks Das Progressive Zentrum. Dort entwirft sie Dialog- und Diskursräume, leitet die europäische Demokratiekonferenz „Innocracy“ und ist Co-Autorin von Studien und Discussion Papers.
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Erik Vollmann

Technische Universität Dresden
Erik Vollmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Politische Systeme und Systemvergleich an der TU Dresden. Zuvor war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg am Lehrstuhl für Deutsche und Vergleichende Politikwissenschaft, Europaforschung und Politische Ökonomie sowie im DFG-Projekt „Dezentralisierung in der arabischen Welt“ tätig.

Studienleitung

Paulina Fröhlich

Stellvertretende Geschäftsführerin und Leiterin | Resiliente Demokratie

Florian Ranft

Mitglied der Geschäftsleitung und Leiter | Green New Deal

Pressekontakt

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