Wie können wir für höhere Wertschätzung von religiöser und weltanschaulicher Pluralität im Alltag sorgen? Diese Frage adressiert der neue „Good Practice Guide Religiöse Vielfalt lokal gestalten“ von unserer Visiting Fellow Lucie Kretschmer, der in Zusammenarbeit mit der Bertelsmann-Stiftung entstanden ist. Der Guide identifiziert fünf grundlegende Handlungsansätze für die Gestaltung von Vielfalt als politische und gesellschaftliche Aufgabe. Im Interview sprechen wir mit der Autorin.
Lucie, im Good Practice Guide stellst Du Handlungsmöglichkeiten für den Umgang mit religiöser Vielfalt im lokalen Zusammenleben vor. Worauf zielt diese Handlungsanleitung ab? Warum gerade die lokale Ebene?
Lucie Kretschmer: Wir müssen uns zunächst darüber bewusst sein, dass die lokale Ebene zentral für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist. Einen Großteil unserer täglichen Kontakte haben wir – zumindest außerhalb pandemischer Zeiten – hier: am Arbeitsplatz, in der Schule, dem Sportverein oder im Ehrenamt. Wenn wir diese Kontakte als positiv wahrnehmen, wenn sie gruppenübergreifend gelingen, ist das der Kitt, der auch über Gruppengrenzen hinaus die Gesellschaft zusammenhält. Genauso klar ist aber auch: Der Umgang mit Religiosität ist oft besonders herausfordernd.
Warum ist das so?
Lucie Kretschmer: Drei Gründe: Erstens zeigt eine Studie der Bertelsmann-Stiftung, aufgrund derer unser Guide entstanden ist, dass etwa 40 Prozent der Befragten die religiöse Vielfalt als (eher) bedrohlich wahrnehmen. Misstrauen und Bedrohungsgefühle sind auch zwischen den religiösen Gruppen relativ hoch – und ein nicht kleiner Teil der Religiösen empfindet den Atheismus als Bedrohung. Diese Vorurteile abzubauen, ist eine gewichtige Aufgabe.
Zweitens kommt erschwerend hinzu, dass gerade im progressiven politischen Spektrum Viele der Meinung sind, Religion gehöre ins Privatleben und nicht in den politischen Raum. Doch wer das denkt, der übersieht, dass für viele Menschen ihr Glaube oder ihre Weltanschauung ein ganz zentraler Aspekt ihrer Identität ist. Diesen bringen sie mit an den Arbeitsplatz, in den Sportverein und mit ins Klassenzimmer.
„Good Practice Guide Religiöse Vielfalt lokal gestalten“
Der Guide von Lucie Kretschmer ist eine gemeinsame Veröffentlichung des Progressiven Zentrums mit der Bertelsmann Stiftung.
Drittens können wir an der Diskussion über „den Islam“ beobachten, dass Religion nicht selten benutzt wird, um Menschen auszugrenzen, als kulturell fremd zu markieren. Das hat für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in diesem Land fatale politische Folgen. In der Folge wird religiöse Vielfalt oft mit einem negativen Fokus diskutiert. Ich würde mir wünschen, dass wir mehr über die Chancen, die mit dieser Vielfalt einhergehen, sprechen. Wenn wir religiöse Vielfalt richtig anpacken, kann sie viel zum Zusammenhalt beitragen. Genau deshalb zeigt der Good Practice Guide funktionierende Beispiele auf und will so AkteurInnen in ihrer täglichen Arbeit eine Stütze sein – praktisch und lokal.
Gerade im progressiven politischen Spektrum sind viele der Meinung, Religion gehöre ins Privatleben und nicht in den politischen Raum. Doch wer das denkt, der übersieht, dass für viele Menschen ihr Glaube oder ihre Weltanschauung ein ganz zentraler Aspekt ihrer Identität ist.
Ein interessantes Ergebnis des Good Practice Guides ist, dass für den ländlichen und den urbanen Raum unterschiedliche Handlungsansätze sinnvoll sind. Welche Unterschiede bestehen hier und welche Umgangsweisen mit religiöser Vielfalt ergeben sich daraus?
Lucie Kretschmer: Die Unterschiede ergeben sich zum einen aus den unterschiedlichen Lebensverhältnissen in der Stadt und auf dem Land. In der Stadt leben die Menschen enger beieinander, das schafft Begegnung, aber die kann auch Anlass für Konflikte sein. Auf dem Land sind die Wege weiter, aber „der Draht“ oft kürzer, weil engagierte Menschen schon auf anderen Ebenen miteinander zusammenarbeiten.
Zudem ist die religiöse Vielfalt auf dem Land meist gering. Viele Städte sind deutlich diverser. In homogenen Settings gilt es eher, die religiöse Vielfalt in einen breiteren Kontext zu stellen, etwa die Demokratie- oder die allgemeine Diversity-Arbeit, und gelingende Beispiele sichtbar zu machen. In diversen Settings geht es dagegen in erster Linie darum, Angehörige verschiedener Gruppen in einen Dialog und Austausch zu bringen – und diesen positiv zu gestalten. Gerade enge Kontakte sind ein wichtiges Instrument, um Vorurteile abzubauen. Daher muss auch hier Diversity „gemanaged“ werden.
Die Ansätze zum Umgang mit religiöser Vielfalt richten sich an unterschiedliche AkteurInnengruppen. An welchen Schnittstellen wird die religiöse Vielfalt unserer Gesellschaft gestaltet?
Lucie Kretschmer: Der Umgang mit religiöser Vielfalt ist eine Querschnittsaufgabe. Sie geht uns alle an. Natürlich haben bestimmte AkteurInnen größere Gestaltungsmöglichkeiten als andere und tragen entsprechend eine besondere Verantwortung: EntscheiderInnen in Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Behörden, PädagogInnen und Medienschaffende arbeiten an besonderen Schnittstellen. Sie sind MultiplikatorInnen, die großen Einfluss auf andere haben. Gerade an diesen Schnittstellen gilt es, eine differenzsensible Praxis und gleichberechtigte Teilhabe zu fördern. Im Good Practice Guide greifen wir die wichtigsten dieser Akteursgruppen auf lokaler Ebene heraus und geben ihnen Strategien und Anregungen an die Hand, mit dieser Verantwortung umzugehen.
Du warnst davor, dass die Beschäftigung mit religiöser Vielfalt exotisierend wirken kann. Wie kann die Sensibilisierung für religiöse Vielfalt mit ihrer Normalisierung in Einklang gebracht werden? Welche Rolle spielen hier private Einrichtungen?
Lucie Kretschmer: Vielfalt sichtbar(er) zu machen und gleichzeitig nicht auf die Differenzen zu fokussieren, braucht einen sensiblen Ansatz. Eine anlasslose Betonung von Vielfalt kann negative Wirkungen haben, etwa die genannte Exotisierung. Wenn etwa in einer Kita ein religiöses Fest begangen wird, zu dem weder die Kinder noch die beteiligten PädagogInnen einen Bezug haben, wirkt das wenig authentisch und reproduziert eher religiöse Stereotype. So kann das entsprechende Fest für die Kinder besonders fremd erscheinen.
Aber auch in anderen Kontexten kann eine vermeintlich positive Betonung von Vielfalt negative Folgen haben. Etwa, wenn sie im Sinne des Tokenismus dafür missbraucht wird, ein Unternehmen als besonders fortschrittlich darzustellen. Ein Beispiel wäre, wenn die einzige Mitarbeiterin, die ein Kopftuch trägt, als Aushängeschild für Vielfalt vor sich hergetragen wird. Grundsätzlich gilt: Personen sollten keinesfalls in religiöse Schubladen gesteckt oder zum Offenlegen religiöser Vorstellungen gedrängt werden. Stattdessen gilt es, eine Kultur zu erschaffen, in der Mitarbeitende, KundInnen, SchülerInnen usw. das Gefühl haben, mit allen Aspekten ihrer Identität wertgeschätzt zu werden. Das Ziel ist es, mit Vielfalt gleichzeitig selbstverständlich und anerkennend umzugehen.
Im vergangenen Oktober trauerte Frankreich um den Lehrer Samuel Paty, der auf grausame Weise von einem jungen Tschetschenen ermordet und enthauptet worden war, weil er im Unterricht die Mohammed-Karikaturen des Magazins Charlie Hebdo zur Debatte gestellt hatte. Präsident Macron äußerte daraufhin, man sei “im Krieg” gegen den radikalen Islamismus. Was können Deutschland und Frankreich in Bezug auf religiöse Vielfalt voneinander lernen?
Lucie Kretschmer: Die Demokratie muss sich gegen ihre Feinde wehren, dazu gehören auch religiöse FundamentalistInnen. Die Studie der Bertelsmann Stiftung hat auch gezeigt, dass Menschen, die auf dem Absolutheitsanspruch ihrer Religion – oder ihrer Weltanschauung – beharren und andere Glaubensüberzeugungen nicht tolerieren, oft weitere demokratieferne bis -feindliche Überzeugungen teilen. Das können beispielsweise Antipluralismus und eine autoritäre Vorstellung von Politik und Gesellschaft sein. Diese Personen muss der Staat auch präventiv ansprechen. Eine Kriegsrhetorik ist dabei in Deutschland schon aus kulturell-historischen Gründen schwierig – und wie hilfreich sie ist, sei dahingestellt –, aber der deutsche Staat hat auch eine andere Einstellung gegenüber Religionsgemeinschaften als der französische.
Die fehlende diskursive Trennung zwischen friedlichen MuslimInnen und IslamistInnen, die unterstellte Rückständigkeit, der ständige Rechtfertigungsdruck, dem MuslimInnen ausgesetzt sind – all das kennen wir auch in Deutschland.
Inwiefern?
Lucie Kretschmer: In Frankreich wird Religion traditionell tendenziell als spalterisch angesehen. Das zeigt zum Beispiel die Aussage des französischen Innenministers, als er sich nach dem Anschlag auf Paty über Halal-Regale in französischen Supermärkten ärgerte. Dabei ging es aber nicht um die Halal-Produkte an sich – er selber kaufe beim Halal-Schlachter, so Darmanin. Aber dass die Produkte abgesondert in extra dafür bereitgestellten Regalen stünden, sei Ausdruck einer spalterischen Tendenz. Der deutsche Staat hingegen bietet den Religionsgemeinschaften mehr Raum und Kooperationsmöglichkeiten. Er betont also eher den konstruktiven Aspekt von Religion für die Gemeinschaft.
Aber auch Deutschland tut sich schwer mit der Integration der muslimischen Gemeinden ins Religionsverfassungssystem. Ich denke, man kann sagen, dass in beiden Ländern auch der gesellschaftspolitische Diskurs ein Hindernis für eine volle „Integration“ darstellt. Hierbei geht es traurigerweise oft noch immer um die Zugehörigkeit von MuslimInnen. Sowohl in Macrons Kriegsrhetorik als auch in Darmanins Halal-Aussagen schwingen Zwischentöne mit, die – teils auch deutlicher – auch bei uns fester Bestandteil der Debatte um muslimische Religionspraktiken wie das Tragen des Kopftuchs sind.
Die fehlende diskursive Trennung zwischen friedlichen MuslimInnen und IslamistInnen, die unterstellte Rückständigkeit, der ständige Rechtfertigungsdruck, dem MuslimInnen ausgesetzt sind – all das kennen wir auch in Deutschland. Das hat vor allem damit zu tun, dass der Islam als kulturell nicht zugehörig gekennzeichnet wird – und die Millionen MuslimInnen in Deutschland gleich mit. Auch darum geht es um im Good Practice Guide: Gleichberechtigte Teilhabe zu stärken und die religiöse Vielfalt in diesem Land als Bereicherung sichtbar zu machen.
Die Interviewfragen stellten Franziska Wessel und Moritz Hergl.