Milliardenpotenzial ungenutzt: Soziale Innovationen und Transformation

Jenseits der Energiewende fehlen noch immer politische Zielbilder dazu, wie unsere Gesellschaft in den kommenden Jahrzehnten aussieht. Eine missionsorientierte Handlungslogik könnte das Milliardenpotenzial sozialer Innovationen heben.

Das deutsche Geschäftsmodell ist reformbedürftig. Zu lange lag der Fokus allein darauf, international wettbewerbsfähig zu bleiben. Dieses Ziel ist weiterhin wichtig, aber mit dem Klimaschutz, der Digitalisierung und technologischer Souveränität sind neue Ziele hinzugekommen. In der Debatte darum, wie wir den verschiedenen Zieldimensionen gerecht werden können, liegt der Schwerpunkt auf großen Industrieunternehmen und dem deutschen Mittelstand. Zu selten sprechen wir aber über eine Kraft, die ebenso einen erheblichen Beitrag zum Gelingen einer gerechten Transformation in ein zukunftsfähiges Modell leisten kann: das soziale Unternehmertum. 

Verpasste Chance: Etablierte Innovationen werden nicht skaliert

Schon im Jahr 2019 zeigte eine Studie von Ashoka und McKinsey das mögliche Ausmaß dieser Kraft: “Würden die Lösungen der über 1.700 Sozialunternehmer in Deutschland systematisch genutzt und besser in bestehende Systeme integriert, ergäbe sich ein wirtschaftlicher Nutzen mit Milliardenpotenzial”. Sozialunternehmerische Lösungen für gesellschaftliche Probleme sind demnach bereits in großer Zahl vorhanden, jedoch müssen bestehende Hürden und Hindernisse beseitigt werden, um deren Potential zu verwirklichen. Die Verantwortung dafür liegt nicht zuletzt bei der Politik. 

In Anbetracht der multiplen Krisen und Herausforderungen, wie dem Klimawandel, dem Fachkräftemangel oder auch den aktuellen geoökonomischen Verschiebungen, werden Lösungen immer wichtiger, die vorrangig in einer Wirkungslogik und erst nachgeordnet in der Logik der Gewinnorientierung agieren. Wirkungslogik bedeutet, dass die zu erzielende Wirkung an erster Stelle steht, noch vor potentiell wirtschaftlichem Gewinn. 

Die Ampel-Koalition hat dies bereits erkannt und daher im aktuellen Koalitionsvertrag vereinbart “im Jahreswirtschaftsbericht eine Wohlstandsberichterstattung [zu] integrieren, die neben ökonomischen auch ökologische, soziale und gesellschaftliche Dimensionen des Wohlstands erfasst”. 

Dies ist der erste Schritt hin zu Kennzahlen, die nicht nur Budgets wiedergeben, sondern auch den Effekt, der durch den Einsatz oder die Gewinnung dieser erzielt wird. Beispielsweise sollte uns weniger interessieren, wie viel Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die Finanzierung von Startups fließt, sondern ob sich daraus effektiv positive Auswirkungen auf die Unternehmen und den Sektor ableiten lassen. Neben den ökonomischen Kennzahlen benötigt es somit auch Handlungsziele, entlang derer die erhobenen Kennzahlen evaluiert werden können. Nur dadurch können wir ein realistisches Bild davon bekommen, wo wir als Gesellschaft wirklich stehen. 

Zahlreiche Sozialunternehmen belegen durch Wirkungsmessung schon jetzt, dass sie in hoch relevanten Bereichen wie der Fachkräftemigration, Integration, Bildung, Digitalisierung, Gesundheit und Energie auf die jeweilige gesellschaftliche Herausforderung fokussierte wirksame Lösungen entwickelt haben. Sie können schon jetzt ihre Wirkung entlang der eigenen Handlungsziele belegen. 

Nur einige wenige der zahlreichen Beispiele:

  • Energie
    • Der Ansatz von Africa GreenTech (https://www.africagreentec.com/) befähigt Menschen durch nachhaltige Energielösungen zu mehr Selbstbestimmung und Wachstum. Durch das Abschaffen von Kohleöfen und Dieselmotoren tragen sie zusätzlich zur Verringerung von Emissionen bei.
  • Arbeitsmarktintegration
    • Die Lösungen von JOBLINGE (https://www.joblinge.de/) oder auch der MUTAcademy (https://mutacademy.de/) zeigen auf, wie wirksame Brücken zur besseren Integration von Geflüchteten und benachteiligten Jugendlichen in den Arbeitsmarkt gebaut werden können.
  • Digitalisierung
    • Die Suchmaschine Ecosia (https://www.ecosia.org/) macht Großkonzernen Konkurrenz und wurde zum klimapositiven technischen Sozialunternehmen, indem durch jede Suche Bäume gepflanzt und geschützt werden. Das Unternehmen macht laut Selbstauskunft aktuell monatlich zwischen 2 bis 3 Mio. € Umsatz; bisher sind über 13 Mio. Euroin die Baumprojekte geflossen.
  • Verbesserung der physischen und mentalen Gesundheit
    • Sozialunternehmen wie krisenchat (https://krisenchat.de/), das die Krisenberatung digitalisiert und revolutioniert hat, oder discovering hands (https://www.discovering-hands.de/), das den überlegenen Tastsinn sehbehinderter Frauen für die Brustkrebsfrüherkennung einsetzt, zeigen neue Wege auf. 

Wenn wir all diese Beispiele schon haben, was ist also unser Problem? Warum entfaltet sich das Potenzial im Zuge der Transformation nicht schon in Gänze?

Gute Lösungen dafür gibt es – im Ausland

Im Bereich der sozialen Innovationen zeichnet sich ein ähnliches Bild ab, das auch in anderen Innovationsbereichen zu beobachten ist: Funktionierende Modelle, wie Innovationen transferiert und skaliert werden können, gibt es leider selten in Deutschland. Obwohl gerade im Vorgründungs- und Gründungsbereich zahlreiche Angebote existieren und auch für Sozialunternehmer*innen immer weiter ausgebaut werden, stehen viele nach den ersten Schritten alleine da. Der Versuch der Skalierung etablierter sozialer Innovationen stößt noch allzu oft an eine gläserne Decke. 

Im Vereinigten Königreich wurde die Innovationsagentur Nesta (National Endowment for Science, Technology and Arts) gegründet, um dieses Problem zu beheben. Die Strategie der Agentur  ist es “Innovation for social good” zu unterstützen. Ihre drei klaren Missionen sind ein gerechterer Start für jedes Kind, ein gesundes Leben für alle und eine nachhaltige Zukunft, in der die Wirtschaft für die Menschen und den Planeten besser funktioniert. Diese eindeutige Fokussierung auf zentrale Wirkungsziele ist notwendig, um das Milliardenpotenzial sozialer Innovationen zu heben. 

Was es braucht? Mut zum Risiko!

In der traditionellen Startup-Szene ist es für Investoren ein akzeptiertes und kalkuliertes Risiko, dass Investitionen in Millionenhöhe scheitern können. Im Bereich der sozialen Innovationen werden Vorhaben jedoch oft in Projektlogiken gepresst, die kein Scheitern zulassen und somit oft den Handlungsspielraum auf eine kalkulierbare Minimalerwartung reduzieren. Die Politik muss diese Risikobereitschaft auch und gerade bei gesellschaftlichen Herausforderungen an den Tag legen. Anstatt nur die Investitionen von Risikokapitalinvestoren zu matchen, muss die Politik sicherstellen, dass auch für soziale Innovationen das notwendige Kapital bereitsteht. 

Das gemeinnützige Unternehmen “The OceanCleanup” hat gezeigt, was mit der gleichen Risiko- und Investitionsbereitschaft im Bereich sozial-ökologischer Innovationen entstehen kann. Das Ziel, die Gewässer dieser Welt von Plastik zu befreien, hat eindeutige positive Auswirkungen auf unsere Umwelt und löst Herausforderungen wie die Verschmutzung von Trinkwasser. Ende 2020 hat die NGO über 43 Millionen Euro eingesammelt, um genau dieses grenzüberschreitende Problem zu lösen . Obwohl erste Versuche scheiterten, wurde weiter in die Suche nach Lösungen investiert. Fraglich ist, ob dies mit einem rein profitorientierten Ansatz ebenfalls funktioniert hätte. Noch wichtiger ist die Frage, ob die Lösung für eine Herausforderung nur legitim ist, wenn sie ebenfalls wieder Profite einspielt.  Das Beispiel verdeutlicht: Es gibt Herausforderungen, die nicht nach marktwirtschaftlichen Logiken gelöst werden können oder sollten.

Fünf Leitprinzipien für die Förderung Sozialer Innovationen bilden eine Erfolgsformel, die in anderen Ländern schon jetzt realisiert wird:

  1. Wirkung priorisieren
    • Wenn die Wirklogik im Vordergrund stehen soll, dann muss das Ziel die maximale soziale Wirkung sein. In Förderlogiken haben Verwaltungskostenpauschalen oft noch einen höheren Stellenwert als das eigentliche Ergebnis der Vorhaben. Auch bei anderen Finanzierungsinstrumenten sollte an erster Stelle stehen, wie gut die Lösungen wirken und nicht welche sich möglichst schnell monetarisieren lassen. 
  2. Bürokratie minimieren
    • Bürokratie tötet Innovation. Das gilt für konventionelle Startups ebenso wie für soziale Innovationen und Sozialunternehmer*innen. Schlanke, transparente Antragsverfahren und unbürokratische Reporting-Prozesse können Iterationen und den Lernprozess besser fördern als Dokumente, die primär für die Aktenordner erstellt werden. 
  3. Längerfristig fördern oder finanzieren
    • Egal ob Impact Investing oder ideelle Förderungen: Eine längerfristige Finanzierungsperspektive ermöglicht den Aufbau institutioneller Kapazitäten sowie die nachhaltige Entwicklung, Verbreitung und Verankerung systemischer Lösungen. Tiefgreifende Ursachen von Herausforderungen anzugehen benötigt Zeit.
  4. Flexibilität und Mut zum Risiko
    • Auch und gerade soziale Innovationen benötigen flexible Mittel, um ko-kreativ und iterativ Lösungen zu finden sowie die wirksamste Umsetzung derer zu realisieren. Innovation bedeutet ins Risiko zu gehen und zu akzeptieren, dass nicht jedes Konzept erfolgreich sein kann. Das sollte auch für soziale Innovationen gelten. 
  5. Finanzielle Wertschätzung 
    • Wir brauchen mehr Top-Talente im Social Impact Sektor. Daher müssen wir an den Stellschrauben drehen, die ein Gehaltsgefälle zu anderen Branchen reduzieren können.

Worin liegt also in Deutschland das Problem? Eine der größten Herausforderungen für die Skalierung sozialer Innovationen ist auch heute noch der verzerrte Fokus, wenn es um die Finanzierung erfolgversprechender Zukunftslösungen geht. Anstatt nur sogenannte “Unicorns” zu zählen, sollten wir den Anspruch haben, die “Zebras” von morgen zu bauen. Zebras haben das Ziel, sowohl profitabel als auch nachhaltig zu sein. Sie konzentrieren sich nicht nur auf Wachstum und eine möglichst schnelle Skalierung, sondern bringen mit ihren Geschäftsmodellen Nachhaltigkeit und langfristigen wirtschaftlichen Erfolg in Einklang.

Milliarden könnten Milliardenpotenzial realisieren und vervielfachen

Der Handlungsdruck kommt auch in den Finanzmärkten immer stärker an. Trotz des relativ neuen Fokus auf nachhaltige Vermögensanlagen verschwinden die dadurch in höherem Maßeverfügbaren finanziellen Ressourcen sehr oft in marktkonformen Lösungen mit einem möglichst aussichtsreichen Renditeversprechen. 

Finanzierungsmöglichkeiten für Sozialinnovator*innen und Sozialunternehmer*innen gibt es bisher wenige. Eine Lösung hierfür könnten niedrigschwellige Innovationsförderungen sein, analog zu Programmen wie EXIST oder auch die Öffnung etablierter Instrumente wie dem INVEST-Zuschuss. Auch Ko-Finanzierungs-Instrumente für etablierte Akteure könnten echte Anreize zur Hebelung zusätzlicher Ressourcen durch andere Sektoren und Akteure schaffen. Ein Co-Impact Investment-Fonds für geduldiges Kapital oder ein Crowdfunding-Matching-Fonds zur Hebelung zivilgesellschaftlicher Unterstützung sind nur zwei der vielen Möglichkeiten. 

Um jedoch das genannte Milliardenpotenzial, das in sozialen Innovationen schlummert, nicht nur zu realisieren sondern auch zu vervielfachen, ist ein größerer Heben notwendig. 

Ein solcher Hebel existiert und wird bereits in anderen Ländern genutzt: Die nachrichtenlosen Assets, die auf zahlreichen Konten in Deutschland schlummern. Unter nachrichtenlosen Assets werden Vermögenswerte verstanden, bei denen Finanzdienstleister den Kund*innenkontakt verloren haben und nicht wiederherstellen können, weil zum Beispiel deren Eigentümer*innen bereits verstorben sind. In Großbritannien verabschiedete die Regierung 2008 das Gesetz über nachrichtenlose Bankkonten (Dormant Bank and Building Society Accounts Act), das den Startschuss für die Social Investment Wholesale Bank gab, die 2010 in Big Society Capital (BSC) umgewandelt wurde. Mit 400 Millionen Pfund aus nachrichtenlosen Konten und 200 Millionen Pfund von Banken als Minderheitsaktionäre, fungiert BSC als Dachfonds mit dem Ziel, den Markt für soziale Investitionen aufzubauen. 

Eine Erfolgsgeschichte: Mehr als 1.500 Organisationen nutzen nachrichtenlose Vermögenswerte mittlerweile in Großbritannien. BSC hat bewirkt, dass soziale Innovationen mit mehr als 2,5 Milliarden Pfund unterstützt und andere Investoren ermutigt wurden, sich mit 1,8 Milliarden Pfund zu beteiligen. Auch in Deutschland gilt es,die Lücke zwischen Philanthropie und privaten Investments zu schließen. Dafür sollten privaten Investoren noch mehr Anreize gesetzt werden, in den “Impact-First” Bereich zu investieren. 

Die aktuelle Regierung hat sich in ihrem Koalitionsvertrag vorgenommen, die “rechtlichen Rahmenbedingungen [zu] schaffen, um Guthaben auf verwaisten Konten zur Förderung des Gemeinwohls nutzen zu können”. 

Der erste Schritt ist damit getan. Der Erfolg wird davon abhängen, ob die potenziell frei werdenden Mittel wirklich in die Entstehung und Skalierung sozial-ökologischer Lösungen fließen oder nicht. Bleibt eine strategische und missionsorientierte Nutzung der Mittel aus, könnten diese leicht versickern. 

Erfolgsentscheidend wird sein, ob sich die aktuelle Regierung dem Ziel verschreibt, das Milliardenpotenzial sozialer Innovationen missionsorientiert zu heben und es dann auch konsequent zu tun.

Sabrina Konzok

Social Entrepreneurship Netzwerk Deutschland
Sabrina Konzok ist Unternehmerin und Expertin für soziale Innovationen und digitale Bildung. Als Vorstandsvorsitzende des Social Entrepreneurship Netzwerk Deutschland (SEND e.V.) arbeitet sie an zukunftsfähigen systemischen Lösungen und besseren Rahmenbedingungen für diese.

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