Panel: Keir Starmer, Kristrún Frostadóttir, Neera Tanden, Mark Carney & Anthony Albanese

Mehrheiten für ein neues Sicherheitsversprechen: Erkenntnisse vom Progressiven-Gipfel in London

Ende September ist in London das Who is Who der internationalen Mitte-Links-Politik zusammengekommen. Keir Starmer, Mark Carney, Mette Frederiksen, Anthony Albanese, Pedro Sánchez, Jacinda Ardern und andere diskutierten beim zweitägigen Global Progress Action Summit, wie progressive Parteien in diesen herausfordernden Zeiten Wahlen gewinnen und sich gegen den Aufstieg der Rechtspopulisten behaupten können.

Organisiert wurde der Global Progress Action Summit vom Center for American Progress und den britischen Partnern vom Institute for Public Policy Research (IPPR) und Labour Together. Das Progressive Zentrum hat am ersten Tag des Gipfels Hintergrundrunden und Diskussionen zu den Themen Klima-, Sozial- und Sicherheitspolitik kuratiert und organisiert.  Vor Ort waren neben politischem Spitzenpersonal und deren engsten Berater:innen auch Vertreter:innen von NGOs und Thinktanks.

Highlight-Panel mit Keir Starmer (Premierminister, UK), Kristrún Frostadóttir (PM, Island), Neera Tanden (CEO, Center for American Progress Action Fund), Mark Carney (PM, Kanada) & Anthony Albanese (PM, Australien) © Paul West Photography

Großes Zelt und neues Sicherheitsversprechen

In Workshops und auf Podien wurde deutlich: Bei allen Gemeinsamkeiten sind die progressiven Erzählungen – und die Beispiele für progressive Erfolgsgeschichten – unterschiedlich. Während in Deutschland eine Mitte-Links-Regierung zuletzt gescheitert ist, lohnt der Blick auf andere Länder. In Kanada siegte Mark Carney Anfang des Jahres in Kanada deutlich, in Australien gelang Anthony Albanese mit einem Rekordergebnis die Wiederwahl und dies trotz Inflationskrise. Jonas Gahr Støre setzte sich in Norwegen erst kürzlich erneut durch und Keir Starmer holte im vergangenen Jahr einen historischen Erdrutschsieg für Labour im Vereinigten Königreich. In Spanien regiert Pedro Sánchez seit 2024 wieder mit einer linken Mehrheit und einer Politik, die sich in wichtigen Fragen von Migration und Außen- und Sicherheitspolitik grundlegend von den angelsächsischen Ländern unterscheidet.

Auch wenn keiner der genannten Wahlsiege ohne den jeweiligen spezifischen Kontext erklärt werden kann, beruhen diese Erfolge dennoch auf gemeinsamen Faktoren: ein breiter gesellschaftlicher Ansatz, der verschiedene Milieus unter einem „Big Tent“ versammelt; eine gehörige Portion Selbstbewusstsein; und vor allem ein neues Sicherheitsversprechen. Progressive Sicherheit wird hier nicht nur militärisch verstanden, sondern umfassend: soziale Sicherheit, ökonomische Stabilität, kulturelle Zugehörigkeit.

Panel: Jacinda Ardern, Pedro Sanchez
John Podesta (Founder, Center For American Progress Action Fund), Jacinda Ardern (ehem. Prime Minister, Neuseeland) & Pedro Sanchez (PM, Spanien) © Paul West Photography

Ein inklusives nationales Projekt

Besonders prägnant war die Debatte um einen Begriff, der in den angelsächsischen Ländern längst Teil des progressiven Diskurses ist und in Deutschland für Diskussionen sorgen dürfte: Progressiver Patriotismus. Dabei geht es darum, nationale Zugehörigkeit und Zusammengehörigkeit mit sozialen und inklusiven Werten zu verbinden und Errungenschaften wie Demokratie, Sozialstaat, Klimapolitik, Multilateralismus und Vielfalt als Errungenschaften in den Vordergrund zu stellen. Die Devise lautet hier: nicht von den Rechtspopulisten und den nationalen Verfallsnarrativen in die Defensive drängen lassen, sondern offensiv eine auf demokratischen und progressiven Werten basierende Gegenerzählung anbieten. 

Keir Starmer sprach in London von einer „patriotischen Erneuerung, verwurzelt in nationalen Geschichten, Stolz dort wiederherzustellen, wo Menschen leben und arbeiten“. In der britischen Debatte bedeute dies den Kampf für nationale Symbole – aber im Sinne einer „multiethnischen modernen Nation” (Starmer). Seine angelsächsischen Amtskollegen Mark Carney und Anthony Albanese formulierten es ähnlich.

Pete Buttigieg, US-Verkehrsminister unter Joe Biden, erinnerte daran, dass Patriotismus nicht ausschließend sein müsse, im Gegenteil: „Patriotismus kann ein Weg sein, immer mehr Menschen in ein gemeinsames nationales Projekt einzubeziehen.“ Und der britische Vize-Regierungschef David Lammy ergänzte: „In der Politik bist du nichts, wenn du keinen Ort und keine Zugehörigkeit ansprichst. Du musst den Menschen etwas bieten, das ihr Zugehörigkeitsgefühl stärkt.“

Pete Buttigieg, David Lammy
Pete Buttigieg (ehem. Secretary of Transportation, USA), David Lammy (Deputy Prime Minister, Secretary of State for Justice, UK) © Paul West Photography

Mehrheiten durch spürbare Veränderung und emotionale Zugehörigkeit

International lässt sich damit beobachten, wie progressive Kräfte bestimmte Felder und Begriffe aktiv besetzen, statt sie den (Neuen) Rechten zu überlassen. Was lässt sich daraus für die deutsche Debatte lernen? Diese Art des Erzählens verschiebt den Fokus: Es geht nicht um Verteidigung des Status quo, sondern um Aufbruch, um Erneuerung – und darum, Menschen in ein gemeinsames Projekt einzubinden. 

Denn der Status quo reicht nicht aus – er funktioniert für zu viele nicht. Ihn zu verteidigen, genügt deshalb nicht. Es muss um Veränderung gehen, die jeder spürt. Veränderung, die die Lebenshaltungskosten für die arbeitende Bevölkerung senkt und die „niemanden zurückhält, und niemanden zurücklässt”, wie es Anthony Albanese formulierte. Daher darf Wahlkampf „auch keine Demokratie-Vorlesung sein“, wie J. B. Pritzker, Gouverneur von Illinois, es zuspitzte. 

Doch Politik, die liefert, ist nur ein Baustein von Erfolg. Es braucht Links der Mitte  auch eine identitätsstiftende Erzählung für Arbeiter:innen und Angestellte. Internationale Mitte-Links-Parteien zeigen: Nur wer auch emotionale Zugehörigkeit schafft, kann Mehrheiten zurückgewinnen. David Lammy erinnerte in London daran: „Empathie und Authentizität sind entscheidend, man muss zuhören, Geschichten aufnehmen und sie zurückgeben.“

JB Pritzker, Elly Schlein
JB Pritzker (Governor von llinois, USA), Elly Schlein (MP, Leader Democrats, Italien) © Paul West Photography

Die Fragen sind klar – die Antworten offen

In London stellten sich die Akteur:innen Fragen, die auch eine deutsche Linke beantworten muss: Geht es im Kern um das klassische „Oben gegen Unten”, also die Frage nach materieller Gerechtigkeit? Ist es der Kampf zwischen demokratischer Mitte und rechtspopulistischen wie rechtsextremen Kräften, der geführt werden muss? Oder schließlich: Ist der Konflikt zwischen links und rechts als eine Auseinandersetzung um Werte, Identität und gesellschaftlichen Zusammenhalt zentral für Strategieüberlegungen? Ob sozialdemokratisch, grün, sozial-liberal oder links: Es gilt, darauf vorwärtsgewandte Antworten zu finden.

Hollie Ridley, Braeden Caley, Paul Erickson, Dominic Schwickert
Session „The Progressive Playbook“ mit Braeden Caley (Deputy Chief of Staff PM, Kanada), Hollie Ridley (Secretary General, Labour Party, UK), Paul Erickson (National Secretary of the Labor Party, Australien), moderiert von Dominic Schwickert (Das Progressive Zentrum) © Paul West Photography
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