Progressive Sicherheit: Leitlinien für eine zukunftsfähige globale Sicherheitsstrategie

Die globalen Krisen der Moderne haben ein Gefühl kollektiver Verunsicherung erzeugt. Florian Ranft und Dominic Schwickert erklären, womit sich progressive Sicherheitspolitik beschäftigen muss, um diesem Gefühl zu begegnen.

Wir leben in unsicheren Zeiten. Wirtschaftliche Schocks, technologische Veränderungen, Pandemien, die Klimakrise und zahlreiche Konflikte tragen erheblich zu einem Gefühl allgemeiner Verunsicherung in westlichen Gesellschaften bei. Diese Unsicherheit scheint ein wichtiger Faktor für die Konsolidierung der politischen Rechten in Europa zu sein – für eine Politik, die auf die Bewahrung von Status quo, Abgrenzung und überkommenen Weltbildern setzt. In den vergangenen Jahren haben wir gesehen, wie insbesondere die populistische Rechte in Deutschland und vielen anderen Ländern Frust und Spannungen in der Gesellschaft nutzt, um unechte Konflikte auszufechten. 

Unechte Konflikte beziehen sich dem Politikberater Johannes Hillje zufolge auf kulturelle Differenzen, mit denen einzelne Gruppen zu Sündenböcken oder Feindbildern stilisiert werden. Echte Konflikte – wie etwa steigende Lebenshaltungskosten – werden in diesen Kontext integriert. Der Ausgang der Wahlen zum Europäischen Parlament und die Aussicht auf einen rechtsextremen Premierminister in Frankreich sind nur die jüngsten Belege für die Anziehungskraft des Rufes nach Mauern, Grenzen und dem Ausfechten von kulturell aufgeladenen Konflikten, die oft auf der Grundlage von Desinformation ausgetragen werden.

Für Progressive, deren politische Mission auf Fortschritt, Optimismus und den Glauben an die Kraft gemeinschaftlicher Anstrengungen gründet, stellt all das eine große Herausforderung dar. Ihre politischen Antworten auf Krieg, Wirtschaft, soziale Not und die Klimakrise basieren auf liberalen Werten. Sie versuchen jedenfalls nicht, Frustration und Unsicherheit durch einfache Botschaften, Stilisierung und Ausgrenzung ein Ventil zu geben. Progressive Politik könnte diesen Kräften das Feld mit Verweis auf die Dimension der Herausforderungen überlassen. Aber ist das der richtige Weg?

Progressive Politik setzt andere Schwerpunkte

Auch progressive Politik kennt Antworten auf das Gefühl der Unsicherheit. Sie setzt aber andere Schwerpunkte als die Antworten der Rechten und großer Teile des konservativen Mainstreams. Schon die Ursachenanalyse ist eine andere. Sie beginnt damit, dass die Instabilität weniger in den Verbindungen von Individuen, Klassen und Nationen als vielmehr in der unzulänglichen Konstruktion dieser Verbindungen liegt – oder in den Unzulänglichkeiten im Umgang mit ihnen. Sie konzentriert sich auf die eigentlichen Ursachen der Unsicherheit statt nur auf ihre unmittelbaren Erscheinungsformen. 

Fortschrittliche Antworten auf die Ursachen von Unsicherheit können cooperationcohesionund capacity building sein: Eine stärkere Zusammenarbeit über konfessionelle und nationale Grenzen hinweg („cooperation”), ein stärkerer Zusammenhalt und damit eine widerstandsfähigere Wirtschaft und Gesellschaft („cohesion”) und auch die Fähigkeit zur kollektiven Bewältigung von Krisen („capacity building “) verdienen Gehör als Paradigmen einer zukunftsfähigen globalen Sicherheitsstrategie. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz hat es zuletzt in seiner Erklärung vor dem Bundestag am 7. Juni und in Anlehnung an Willy Brandt so formuliert: „Ohne Sicherheit ist alles andere nichts.“ Auch darum müssen Progressive ihn machen: den „case for Progressive Security”.

Grundgefühl der Unsicherheit

In vielen Regionen der Welt sind politische Entscheidungsträger:innen, Politiker:innen und Denker:innen mit diesem Grundgefühl der Unsicherheit konfrontiert, das sich unter einer größeren Überschrift subsumieren lässt: etwas, das wir als „Progressive Sicherheit“ bezeichnen. Das kann als Bemühung in zweierlei Hinsicht verstanden werden: Dass auch progressive Kräfte bereit sind, in der Frage der nationalen Sicherheit in Zeiten von Krieg Verantwortung zu übernehmen. Andererseits muss deutlich werden, dass sie genau darum weiterhin für Fortschritt und Reformen einstehen und diese voranbringen – um nämlich den Ursachen wirtschaftlicher und sozialer Unsicherheit zu begegnen. 

In einer Zeit sich weltweit verschärfender Konflikte tragen progressive Politiker:innen besondere politische Verantwortung für eine neue geopolitische Sicherheitspolitik. Die beiden Staaten, die mit Abstand am meisten zur Selbstverteidigung der Ukraine gegen die russische Invasion beigetragen haben – die USA und Deutschland – werden von Mitte-Links-Regierungen geführt. In einer Reihe von Ländern ist es Aufgabe der Progressiven, Militär und Nachrichtendienste aus- oder auch aufzubauen – weil dies von konservativen Vorgängerregierungen oft durch Haushaltskürzungen vernachlässigt wurde. In einem neuen Konzept-Papier, das diese Woche für den Progressive Governance Summit in Berlin veröffentlicht wird, heißt es, dass progressive Sicherheit mehr als Sicherheit im militärischen Sinne ist und zusätzlich jene Sicherheitsaspekte umfasst, die die Menschen in ihrem täglichen Leben beschäftigen. Sie ist schützend und emanzipatorisch zugleich – und mehr als eine Mauer, die Bedrohungen abschirmt; sie schaut voraus, ist auf langfristige Wirkung, auf Zusammenhalt, auf Kooperation und Dialog ausgerichtet und orientiert sich an Evidenz, Vernunft und Pragmatismus. Progressive Sicherheit ergibt sich in diesem Sinne im Zusammenwirken entlang dreier großer Linien: Kooperation, Zusammenhalt und Handlungsfähigikeit.

Ruf nach „progressivem Realismus“

Zunächst der Aspekt der Kooperation: Natürlich müssen sich nationale Regierungen auf ihre nationalen Interessen konzentrieren. Aber in einer Zeit, in der die Ursachen von Unsicherheit – von destabilisierenden Finanzströmen, Geldwäsche und der Bedrohung durch Terrorismus bis hin zu Pandemien, unkontrollierbaren Technologien und der Klimakrise – global wirken, liegt es auch im jeweiligen nationalen Interesse, wenn Regierungen ambitioniert kooperieren und ihre Anstrengungen mit Inklusion und demokratischen Werten unterstreichen. Der Schattenaußenminister der britischen Labour-Partei, David Lammy, hat diesen Aspekt der progressiven Sicherheit mit seiner Forderung nach einem „progressiven Realismus“ auf den Punkt gebracht.

Zweitens: Sicherheit erfordert Zusammenhalt. Eine Politik des „die und wir“ trägt zur Verschärfung von Polarisierung und Ungleichheiten bei, die wiederum zum Stresstest für demokratische Institutionen und gesellschaftlichen Zusammenhalt werden. So weisen diverse Untersuchungen einen engen Zusammenhang zwischen materieller Ungleichheit und der Zunahme von Gewalt und Kriminalität nach. Zusammenhalt trägt aber auch zum subjektiven Sicherheitsempfinden der Menschen bei, das abhängig ist von ihrem Zugehörigkeits- und Selbstwertgefühl. Dieser Aspekt sozialer Integration ist ein originär progressives Projekt.

Es geht um das Prinzip der Hoffnung

Und schließlich können unsere Gesellschaften keine Sicherheit bieten, wenn sie sich selbst ihrer institutionellen und finanziellen Kapazitäten berauben. Die Krisen der vergangenen Jahre haben uns den Wert handlungs- und widerstandsfähiger Staaten, funktionierender Lieferketten und stabiler Zivilgesellschaften in einer Art und Weise vor Augen geführt, die die überkommenen Laissez-faire-Annahmen vom Wert kleinstaatlicher, kurzfristiger Effizienz eindrücklich konterkariert haben. Progressive Sicherheit bedeutet also auch, die staatliche Widerstandsfähigkeit und Handlungsfähigkeit zu stärken – zum Beispiel, indem investitionshemmende Maßnahmen wie die deutsche Schuldenbremse oder der Stabilitäts- und Wachstumspakt der EU in seiner jetzigen Form bei diskutiert werden.

Vor allem aber geht es bei progressiver Sicherheit um das Prinzip der Hoffnung: Die Hoffnung auf den Aufbau einer gerechten, nachhaltigen und resilienten Gesellschaft – selbst in diesen schwierigen Zeiten mit Kriegen, der Klimakrise und sozialer Not weltweit. Es ist geradezu Aufgabe progressiver Politik, das Prinzip der Hoffnung wiederherzustellen und zu erneuern. Vielleicht liegen vor uns nur einige wenige Monate, in denen sich die Regierungen der großen westlichen Demokratien in Washington, London, Berlin, Warschau, Kiew, Madrid und darüber hinaus gemeinsam zu den Grundsätzen von Zusammenarbeit, Zusammenhalt und Handlungsfähigkeit bekennen. Die Zeiten könnten sich schnell wieder ändern. Darum müssen wir handeln – eher heute als morgen.


Zuerst erschienen am 20. Juni 2024 in „Table.Briefings“ hier: https://table.media/berlin/standpunkt/progressive-sicherheit-leitlinien-fuer-eine-zukunftsfaehige-globale-sicherheitsstrategie/  

Autoren

Florian Ranft

Mitglied der Geschäftsleitung und Leiter | Green New Deal
Florian Ranft ist Mitglied der Geschäftsleitung und verantwortet den Schwerpunkt „Green New Deal“ des Progressiven Zentrums.

Dominic Schwickert

Geschäftsführer des Progressiven Zentrums
Dominic Schwickert ist seit Ende 2012 Geschäftsführer des Progressiven Zentrums. Er hat langjährige Erfahrung in der Politik- und Strategieberatung (u.a. Stiftung Wissenschaft und Politik, Bertelsmann Stiftung, IFOK GmbH, Stiftung Neue Verantwortung, Deutscher Bundestag, Bundesministerium für Wirtschaft und Energie).
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