Die Zeitenwende bedeutet für den Arbeitsmarkt eine stille Revolution

Ein Gastbeitrag von Bundesminister Hubertus Heil, MdB

Drei Tage nach Kriegsbeginn in der Ukraine erklärte Bundeskanzler Olaf Scholz: „Der russische Überfall auf die Ukraine markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents.“ Ein Jahr später wissen wir: Die Zeitenwende beschreibt nicht nur eine historische Momentaufnahme, sondern eine Generationen-Aufgabe – ein Prozess, den wir politisch nicht auf den Bereich der Verteidigung beschränken, sondern als einen umfassenden politischen, gesellschaftlichen Anspruch begreifen sollten.

In ihrem Tempo, ihrer Dimension und ihrer Komplexität ist diese Zeitenwende historisch. Sie ist die größte Herausforderung für unser Land seit dem Wiederaufbau der Nachkriegszeit und der Gestaltung der Deutschen Einheit. 

Wichtig ist dabei erstens, dass wir einen umfassenden Sicherheitsbegriff vertreten, der neben militärischer Sicherheit nach außen auch immer soziale Sicherheit nach innen mitdenkt. 

Denn gerade angesichts der dramatischen Krisen der letzten Jahre haben ein robuster Arbeitsmarkt und ein handlungsfähiger Sozialstaat wesentlich zur ökonomischen Resilienz und gesellschaftlichen Stabilität beigetragen. Die Befürchtungen vor einer Existenzkrise der Sozialen Marktwirtschaft oder gar „Weimarer Verhältnissen“ haben sich nicht bewahrheitet. Dafür haben wir in den Krisen mit wichtigen Maßnahmen gesorgt ─ wie dem Kurzarbeitergeld, wirkungsvollen Entlastungspaketen und der Einführung des Bürgergeldes.

Zweitens muss es unser Anspruch sein, dass wir Sicherheit und Fortschritt nicht als Gegensätze, sondern als komplementär begreifen. Immer wieder wird in der politischen Debatte Sicherheit als Vorwand dafür missbraucht, progressive Politik von der Agenda zu verdrängen. Es kann aber nicht darum gehen, dass wir angesichts der Wucht des Wandels nur auf Abwehr, Anpassung und Schadensbegrenzung setzen.

Unser Ziel muss es vielmehr sein, dass wir gerade jetzt die enorme Energie der Veränderung dafür nutzen, unser Land ökonomisch, gesellschaftlich und sozial nach vorne zu entwickeln. Wir sollten den Wandel als Chance nutzen für eine progressive Politik, für sozialen Fortschritt.

Sozialer Fortschritt bedeutet, das Leben für viele Menschen besser zu machen: Durch mehr Respekt vor ihrer Leistung, durch ein höheres Einkommen, durch gute Arbeitsbedingungen und durch eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf.

Sozialer Fortschritt bedeutet auch, dass wir dabei alle mitnehmen – nicht nur die Starken. Gerade dann, wenn sich so viel ändert, müssen sich alle auf die soziale Sicherheit in Deutschland verlassen können. Auf stabile Renten und einen Sozialstaat mit weniger Bürokratie, der Chancen und Schutz bietet. 

Sozialer Fortschritt bedeutet auch, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vom Wandel profitieren. Die Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro bedeutet für Millionen Menschen ein sattes Plus von rund 22 Prozent mehr Lohn.

Anständige Löhne sind wichtig, zugleich ist Bezahlung nicht alles, wenn es um Sichtbarkeit, Anerkennung und Wertschätzung geht. Viele Branchen erleben gerade hautnah eine Abstimmung mit den Füssen. Es fehlen an allen Ecken Fach- und Arbeitskräfte, oft dort, wo gute Arbeitsbedingungen eher selten anzutreffen sind. Viele von uns haben es in der Reisezeit an den Flughäfen bemerkt, wenn der Koffer leider nicht rechtzeitig ausgeladen werden konnte. Ähnliche Entwicklungen sehen wir im Hotel- und Gaststättenbereich oder den Paketdienstleistungen.

Die Zeitenwende am Arbeitsmarkt 

Für den Arbeitsmarkt bedeutet die Zeitenwende gleichzeitig nichts weniger als eine stille Revolution – er wird vom Arbeitgebermarkt zum Arbeitnehmermarkt. Denn der russische Angriffskrieg macht deutlich, dass wir die Energiewende noch schneller vorantreiben und gleichzeitig die technologische Souveränität Deutschlands und der EU stärken müssen. Beides hat erhebliche Implikationen für den deutschen Arbeitsmarkt und erhöht vor allem die Nachfrage nach Arbeitskräften.

Drei Herausforderungen beschleunigen diese Entwicklung:

Erstens: die Dekarbonisierung. Vor uns liegt die vielleicht größte Transformation unserer Ökonomie seit 100 Jahren. Die Energiewende wird ohne ausreichend Fachkräfte nicht gelingen. Für das Erreichen der Klimaziele werden beispielsweise ganz konkret Heizungs- und Klimatechniker benötigt, die hocheffiziente Gebäude bauen, IT-Spezialistinnen und -Spezialisten, die die Digitalisierung vorantreiben oder Ingenieure und Technikerinnen für den Netzausbau.

Allein für die geplanten Maßnahmen zum Klimaschutz und für den Wohnungsbau brauchen wir ab 2025 zusätzlich etwa 400.000 Erwerbstätige. Doch schon heute kommt es in diesen Berufen zu Engpässen.

Zweitens, die Entwicklung, die wir lange schon haben kommen sehen: den demografischen Wandel. Hier stehen wir vor einer doppelten Herausforderung: Die Generation der Babyboomer geht in Rente. Ihre Leistungskraft und Erfahrung werden dem Arbeitsmarkt fehlen. Umso mehr, weil die nachfolgenden Generationen weit geringere Geburtenraten vorweisen.

Gleichzeitig wächst in einer älter werdenden Gesellschaft der Bedarf an Pflegekräften. Bisher geht man bis 2040 von einem zusätzlichen Bedarf an Arbeitskräften im Gesundheits- und Sozialwesen von rund einer Million aus.

Und drittens, die Digitalisierung. Sie schafft neue Jobs und verändert radikal die Anforderungen an bestehende Berufsbilder ─ auch in traditionellen Schlüsselbranchen wie der Automobilindustrie. Neue Technologien, neue Geschäftsmodelle, sowie immer mehr softwarebasierte Funktionen für Fahrzeuge führen dazu, dass die Anforderungen an die Digitalkompetenz der Beschäftigten immer weiter steigen.

Hinzu kommt die rasante Entwicklung Künstlicher Intelligenz, die ganze Branchen und Berufsbilder tiefgreifend wandeln wird – am Band und im Büro, in medizinischen wie in kreativen Berufen. Szenarien gehen davon aus, dass am Ende dieses Jahrzehnts die Mehrzahl der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Berufen arbeiten werden, die es heute noch gar nicht gibt. 

All das macht deutlich: Gut ausgebildete Arbeitskräfte sind die Grundlage, damit unser Land auch in Zukunft wirtschaftlich erfolgreich und sozial stabil ist. Wenn wir über Fachkräftesicherung reden, dann reden wir über Wohlstandssicherung. Für die Soziale Marktwirtschaft, für die Sozialpartner und die Politik wird es die größte Aufgabe in diesem Jahrzehnt. Und wir reden über die Gestaltung von guter Arbeit in der gesamten Arbeitswelt, und zwar heute, morgen und übermorgen. Gute Arbeit darf nicht nur bei hochqualifizierten Tätigkeiten in unseren Großstädten zur neuen Realität werden, sondern muss selbstverständlich auch für den Paketpostboten, die Kassiererin im Supermarkt, das Bodenpersonal am Rollfeld unserer Flughäfen oder die Aushilfskraft in der Pflege selbstverständlich sein.

Deswegen ist Fachkräftesicherung ein Leitprojekt dieser Bundesregierung. 

Folgende Haupthandlungsfelder haben wir definiert:

Zeitgemäße Ausbildung

Eine gute Ausbildung ist das Ticket für einen soliden Job und anständige Löhne.
Allerdings gibt es in Deutschland rund 1,6 Millionen Menschen zwischen 20 und 30 Jahren ohne eine abgeschlossene Berufsausbildung ─ obwohl wir einen Überhang an Ausbildungsstellen haben. Die geplante Ausbildungsgarantie ist deshalb ein klares Signal für die duale Ausbildung. Für uns ist klar: Alle jungen Menschen, die einen Ausbildungsplatz suchen, müssen auch einen bekommen!

Gezielte Weiterbildung

Eine Erstausbildung reicht heute häufig nicht mehr aus. Der Satz „Ich habe ausgelernt“ hat im Zeitalter der Transformation längst ausgedient. Hier wollen wir mit dem Weiterbildungsgesetz vorangehen: Wir schaffen deshalb ein Qualifizierungsgeld für Unternehmen im Strukturwandel, damit Beschäftigte durch Weiterbildung im Betrieb gehalten werden können. Wir verbessern die Weiterbildungsförderung Beschäftigter zum Beispiel durch feste Fördersätze auch für kleine und mittelständische Unternehmen. Zudem schaffen wir eine Bildungszeit, in der sich Beschäftigte nach Zustimmung ihres Arbeitgebers individuell in Vollzeit oder Teilzeit weiterbilden können.

Arbeitspotenziale und Erwerbsbeteiligung erhöhen

Wir müssen alle Erwerbspotenziale in Zukunft besser ausschöpfen. Dazu gehören Mütter und auch Väter, die unfreiwillig in Teilzeit arbeiten, weil es an Betreuungsplätzen fehlt – das kann sich unser Land nicht mehr leisten! Eine gute Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben ist das Fundament für eine stärkere Erwerbsbeteiligung. Wir brauchen deutschlandweit die Möglichkeit der Ganztagsbetreuung, wenn wir die Erwerbsquoten junger Eltern steigern wollen.

Gleichzeitig ergeben sich aus der Digitalisierung Möglichkeiten zum zeit- und ortsflexiblen Arbeiten. Auch das Homeoffice kann bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf helfen. Insbesondere Frauen können durch die gewonnene Zeit ihre Arbeitszeit erhöhen.

Zu den Potenzialen gehören auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit Behinderungen. Sie haben es oftmals besonders schwer auf dem Arbeitsmarkt, obwohl sie im Durchschnitt deutlich besser qualifiziert sind. Hier werden wir die Rahmenbedingungen deutlich verbessern, für mehr Inklusion im Arbeitsmarkt.

Auch die älteren Beschäftigten dürfen wir nicht abschreiben. Wer technologisch den Anschluss verpasst hat, gehört noch längst nicht in den Ruhestand. Deshalb ist es umso wichtiger, diesen Menschen betriebliche Weiterbildung zu ermöglichen und an ihren Erfahrungsschatz anzuknüpfen.

Einwanderung modernisieren

Last but not least: Deutschland muss ein gutes Einwanderungsland sein. Eines, das auch im internationalen Wettbewerb um Fachkräfte attraktiv ist. Deshalb senken wir die Hürden für diejenigen, die schon einen Arbeitsvertrag haben und eine anerkannte Qualifikation. Wir schaffen zudem einen zweiten Weg nach Deutschland für Berufserfahrene. Sie können hier einreisen, ohne zuvor ihre Anerkennung zu beantragen. Der dritte Weg führt über ein Punktesystem – mit der neuen Chancenkarte. Dazu zählt, wie viel Potenzial jemand mitbringt: Berufserfahrung, Sprachkenntnisse, Deutschlandbezug. 

Wir schaffen damit das modernste Einwanderungsrecht in Europa. Ein Einwanderungsrecht, das Menschen aus allen außereuropäischen Ländern gleichbehandelt. Gleichzeitig schützen wir Menschen vor Lohndumping und Ausbeutung. Denn Chancen und Schutz gehören zusammen. Das ist das Grundprinzip unseres Sozialstaats.

Ausblick: Chancen und Schutz im Wandel

Ein Jahr nach der Zeitenwende können wir feststellen: Die schlimmsten Szenarien für unser Land konnten wir abwenden. Die Stabilität und der soziale Friede in Deutschland sind und bleiben die großen Stärken unseres Landes. 

Jetzt geht es darum, dass wir in der Zeitenwende Chancen und Schutz, Sicherheit und Fortschritt zusammendenken. Der Arbeitsmarkt wird dabei zur Schnittstelle für technischen und ökonomischen, ökologischen und sozialen Fortschritt.

In der Krise haben viele Beschäftigte Lob und Anerkennung für ihre wichtige Arbeit erhalten, die lange auf vergleichbare Wertschätzung warten mussten. Um nicht im „Klatschen vom Balkon“ stehenzubleiben, müssen wir insbesondere für Beschäftigte mit schwer belastenden Tätigkeiten für mehr Lohngerechtigkeit (siehe Mindestlohn auf 12 €) sorgen und zugleich deren Arbeitsbedingungen stärker in den Blick nehmen. Standards guter Arbeitsorganisation, wie sie in der Industrie seit Jahrzehnten üblich sind, müssen endlich auch für den Dienstleistungsbereich gelten.

Wenn die Transformation unseres Landes gelingen soll, dann brauchen wir beides. Sicherheit für die Beschäftigten, indem wir die von Umbrüchen und Strukturwandel veränderte Arbeitswelt sozial und gerecht gestalten. Und wir brauchen Fortschritt für unser Land, in dem Arbeit auch ein Treiber für eine bessere Gesellschaft sein muss. 

Autor

Hubertus Heil

Circle of Friends
Hubertus Heil ist seit März 2018 Bundesminister für Arbeit und Soziales. Er ist seit über 30 Jahren in der SPD aktiv und hatte verschiedene Ämter inne, unter anderem war er Generalsekretär der SPD und stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion. Heil studierte Politikwissenschaft und Soziologie an der Universität Potsdam und der Fernuniversität. Er ist Mitglied im Circle of Friends von Das Progressive Zentrum.

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