„Es greift einfach zu kurz, wenn wir uns immer nur mit dem Tun und Nichtstun der AfD beschäftigen. Es ist falsch zu sagen, dass die gesellschaftlichen Debatten nur an dieser Partei kranken“, störte sich Julia Reuschenbach an der Anfrage des Suhrkamp Verlages, ein weiteres Buch zur AfD zu schreiben. Und genau diese Anfrage war es, die sie motivierte, gemeinsam mit Korbinian Frenzel, Redaktionsleiter beim Deutschlandfunk Kultur, sich eben damit auseinanderzusetzen: den defekten Debatten in Deutschland. Beide stellten das so entstandene Buch nun im gut gefüllten Konferenzraum des Progressiven Zentrums vor und diskutierten mit Moderatorin Paulina Fröhlich, Publizistin Liane Bednarz, ZEIT-Journalist Robert Pausch und den Teilnehmer:innen, welche Verantwortung Politiker:innen der demokratischen Mitte an einer gesunden Debattenkultur tragen – und wie sie ihr gerecht werden können.
Streit ist nicht das Problem
Man stelle sich folgendes Ideal vor: Der Wirtschaftsminister Robert Habeck ruft das Ziel des klimaneutralen Heizens bis 2045 aus und die Öffentlichkeit diskutiert, wie sich das am besten bewerkstelligen lässt. „Politiker:innen sollten die Möglichkeit haben, Ideen zur Diskussion zu stellen, die noch nicht perfekt ausgereift sind“, proklamiert Frenzel gleich zu Beginn des Abends, „und Parlamente stärker als Orte des Aushandelns genutzt werden, in denen miteinander geredet wird, statt Reden zu halten.“ Dann setze sich – Habermas’ Ideal des zwanglosen Zwangs folgend – das bessere Argument schon durch. Überhaupt sei Streit nicht das Problem – auch wenn der CDU-Parteivorsitzende Friedrich Merz kürzlich einmal mehr forderte, die Streitereien der Ampelregierung müssten aufhören. Unter Merkel habe es Frenzel zufolge sogar zu wenig öffentliche Auseinandersetzungen gegeben. Was aber ist dann das Problem?
Gute Debatten brauchen verlässliche Ergebnisse
„Hauptproblem“, erklärt Reuschenbach, „ist die unzureichende Verlässlichkeit am Ende des Streits“. Verhandlungsergebnisse der Ampelregierung seien von einzelnen Koalitionspartnern immer wieder infrage gestellt worden. Das sei gerade in volatilen Krisenzeiten und bei Fragen der Transformation ernüchternd, wo viele Menschen unsicher sind, ob sie am Ende als Gewinner oder Verlierer vom Platz gehen. „Wie wäre es mit einer Art Rücktrittsausschluss in Koalitionen?“, schlägt ihr Co-Autor Frenzel als Sofortlösung vor. Nachdem eine Entscheidung getroffen wurde, solle diese noch zwei Wochen lang infrage gestellt werden dürfen, dann aber nicht mehr. So würde die Kohärenz und Verlässlichkeit politischer Entscheidungen erhöht, sind sich die Autor:innen einig.
Reuschenbach sieht ein weiteres Problem darin, dass Kompromisse in Deutschland einen wahnsinnig schlechten Ruf hätten: „Sie gelten als faul und als Verrat an den eigenen Prinzipien“. Die Forderung der Autor:innen: die Kompromissfindung aufzuwerten. Dazu sollte die Legitimation einer Entscheidung nicht nur auf der Qualität des Ergebnisses, sondern auch auf der des Entscheidungsprozesses basieren – gebraucht würden faire, offene Verfahren, die alle Beteiligten berücksichtigen. Und wenn in Mehrheitskoalitionen keine Einigung zustande kommt, dann sollten sie, so Reuschenbach und Frenzel, sich nicht darauf versteifen, sondern Agree-to-disagree-Klauseln nutzen, die signalisieren: Wir stimmen überein, dass wir nicht übereinstimmen und das ist in Ordnung.
Gute Debatten brauchen eine klare Kommunikation
Damit Debatten aber überhaupt zu guten Ergebnissen führen können, müssten Politiker:innen, so Reuschenbach, in einer einfachen und klaren Sprache kommunizieren und damit die Streitthemen für alle Menschen zugänglich machen. Aktuell würde der Staat stattdessen seine Kommunikation in einer überkomplexen Sprache führen – es werde etwa um eine Rückmeldung statt um eine Antwort gebeten. Studien würden zeigen, so die Politikwissenschaftlerin, dass Menschen, die nicht verstehen, worum es geht, Frusterfahrungen erleben und sich von der Politik fernhalten. Sie hätten das Gefühl: Der Staat redet mit mir, aber es ist kein Dialog. Falsch wäre es aber, den Menschen deshalb keine komplizierten Sachverhalte zuzumuten. Dabei müsse man aber das richtige Verhältnis zwischen der Komplexität der Kommunikation und der Komplexität der Dinge finden.
Die Publizistik Liane Bednarz reagiert mit einem aktuellen Beispiel für eine Debatte, die diesem Anspruch nicht gerecht geworden sei: Beim Bürgergeld hätte der verschwindend geringe Anteil an Totalverweiger:innen die Debatte über die Sicherung des Lebensunterhalts von fünf Millionen Menschen dominiert. Was können Politiker:innen hier besser machen? Ihre Studienkompetenz verbessern, so Reuschenbach – und dadurch auf aktuellem wissenschaftlichen Stand und nicht an der Realität vorbei diskutieren.
Nicht jedes Thema eignet sich für eine öffentliche Debatte
Und dann stellt sich auch noch ganz grundsätzlich die Frage, ob – im Sinne des Ideals von Transparenz – überhaupt jeder politische Konflikt in der Öffentlichkeit ausgetragen werden sollte. Buchautor Frenzel betont, dass manche Diskussionen zunächst besser in den bereits bestehenden Debattenvorräumen der Politik – den Kabinetten, Koalitionsausschüssen und Ministerien – geführt werden sollten.
Denn: Der ständige öffentliche Streit innerhalb der Ampelkoalition werde in der Bevölkerung als Ausdruck einer Dysfunktionalität wahrgenommen. Wesentlich sei es, politische Prozesse gründlich vorzubereiten, bevor sie in der Öffentlichkeit ausgetragen werden. Dafür könnte auch das sogenannte Hinterzimmer aufgewertet werden, als ein Raum, in dem politische Akteur:innen ohne öffentlichen Druck zielführend verhandeln können – ein Vorschlag, der vor allem einer Akteursgruppe missfallen dürfte: den Journalist:innen.
Die Verantwortung, Themen zu setzen
„Politik und Medien tragen einen großen Anteil daran, was die Öffentlichkeit beschäftigt“, sagt Robert Pausch, Redakteur im Ressort Politik der ZEIT, und stellt sich damit an diesem Abend hinter die zentrale These des Buches. Welche Konflikte die Debattenräume bestimmen, hänge nicht allein von der Stimmung in der Gesellschaft ab. Parteien und ihre Politiker:innen seien keine reine Wähler:innen-Membran, sondern hätten die Macht, Themen und Ton der öffentlichen Diskussion mitzubestimmen. Symptomatisch dafür sei beispielsweise die Äußerung von CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann, der behauptete, die drei wichtigsten Themen seien derzeit „Migration, Migration, Migration“. Dies verdeutliche, betont Pausch, dass die Priorisierung in der Politik oft eher eine Folge des Agenda-Settings durch Politiker:innen selbst sei und nicht unbedingt den Sorgen und Prioritäten der Bevölkerung entspreche.
Auch Bednarz unterstreicht die Verantwortung von Politiker:innen, Themen gezielt zu setzen. Dafür zitiert sie aus einem Interview, das Scholz am Vortag der Schwäbischen Zeitung gegeben hatte. Darin beschwert er sich, ständig zu Umfang und Geschwindigkeit der Waffenlieferungen an die Ukraine befragt zu werden, nicht aber nach der grundsätzlichen Richtigkeit von Waffenlieferungen. Bednarz widerspricht energisch: „Als Kanzler hat er durchaus die Möglichkeit, diese Debatte selbst anzustoßen.“
Die demokratische Mitte ist für gute Debatten mitverantwortlich
Am Ende des Abends herrscht Einigkeit: Die demokratischen Parteien trügen an defekten politischen Debatten ihren Anteil – dafür seien nicht nur populistische Kräfte verantwortlich. Und gleichzeitig gebe es viele kleine und große Hebel, um das zu ändern. Frenzel wird leidenschaftlich, als er am Ende des Abends davon spricht, dass die deutsche Demokratie ein stabiles Fundament habe und die Voraussetzungen für eine gesunde Debattenkultur vorhanden seien – sie müssten nur genutzt werden. „Lasst uns lernfähig bleiben“, schließt Fröhlich den offiziellen Teil dieser angeregten Buchdiskussion. Und eines darf gesagt sein: Die Debatten gingen an diesem Abend noch eine ganze Weile weiter – gute und vor allem wichtige Debatten.