Ökonomin Anke Hassel macht konkrete Vorschläge für die Agenda einer progressiven Regierungspolitik im Bereich Arbeit und Soziales.
Der Arbeitsmarkt hat sich in den vergangenen 15 Jahren fast ausschließlich positiv entwickelt. Die Beschäftigungsquote ist gestiegen, die Arbeitslosenquote ist auf ein Rekordniveau gesunken. Die Finanzkrise wurde mithilfe des Kurzarbeitergeldes gut bewältigt.
Zugleich hat die Politik den Arbeitsmarkt mit einer Reihe von politischen Maßnahmen re-reguliert. Dazu gehören der gesetzliche Mindestlohn, Maßnahmen zur Beschränkung der Leiharbeit, die Stärkung der Tarifautonomie, der Ausbau der Kinderbetreuung sowie die Verbesserung von Weiterbildung und Teilzeitbeschäftigung. Ausbildungsgänge wurden durchlässiger gemacht und die Optionen für das duale Studium erweitert. Anders als ArbeitsökonomInnen befürchtet hatten, haben sich die Re-regulierung des Arbeitsmarktes und die Einführung des Mindestlohns in keiner Weise negativ auf den Arbeitsmarkt ausgewirkt.
Viele dieser Maßnahmen dienen dem Schutz der Beschäftigten und dem Umbau des Arbeitsmarktes – weg von dem Alleinverdiener-Modell der Nachkriegszeit, hin zu einem 1,5 oder gar Doppelverdiener-Modell. Frauen sollen leichter arbeiten können; Familien sollen bei den vielfältigen Aufgaben in der Kinder- und Elternbetreuung unterstützt werden.
Dies ist ein Beitrag für den Blog „Progressives Regieren 2020plus“. In diesem setzen AutorInnen aus Wissenschaft, Wirtschaft und politischer Praxis Impulse für eine progressive Regierungsagenda ab 2020 und darüber hinaus.
Gleichwohl ist dieser Prozess in Richtung eines familienorientierten Arbeitsmarktes noch lange nicht abgeschlossen, sondern er ist bislang nur halb geglückt. Der Arbeitsmarkt ist weiterhin sehr stark nach Geschlecht segregiert, was sich in einer hohen Gender-Pay-Gap und der geringen Zahl an Arbeitsstunden von Frauen ausdrückt. Auch hat sich der Umfang des Niedriglohnsektors trotz Vollbeschäftigung nicht reduziert, er verbleibt auf vergleichsweise hohem Niveau. Hinzu kommt: Die Rentenreformen der Vergangenheit haben weder das sich abzeichnende Problem der Altersarmut noch die demographischen Herausforderungen des Rentensystems gelöst.
Auf die Agenda einer progressiven Regierungspolitik gehören daher folgende Themen:
- Ehegattensplitting. Es erscheint politisch fast unmöglich, das Ehegattensplitting abzuschaffen. Dennoch sollte dieses Ziel weiter formuliert werden, weil das Splitting einer der wichtigsten Faktoren für die hohe Quote von „kleiner Teilzeit“ und dem großen Gender-Pay-Gap ist. Die hohe Besteuerung des zweiten Einkommens führt regelmäßig dazu, dass Frauen ihre Arbeitszeit stärker reduzieren als dies für ihr berufliches Fortkommen sinnvoll ist.
- Die Entlastung niedriger Einkommen von Sozialbeiträgen. Der so genannte tax-wedge (die Summe aus Einkommensteuern und Sozialversicherungsbeiträgen) für niedrige Einkommen ist in Deutschland bisher ausgesprochen hoch. Er sollte dringend reduziert werden. Diese Tatsache nimmt die EU-Kommission beharrlich in ihre länderspezifischen Empfehlungen auf, ohne dass sich die Bundesregierung davon bisher beeindrucken lässt. Dass NiedrigverdienerInnen steuerlich stärker belastet werden als Besserverdiener, ist ein Unding.
- Anpassung des Mindestlohns. Das Mindestlohngesetz und die Geschäftsordnung der Mindestlohn-Kommission sollten reformiert werden. Ziel sollte es sein, dass der Mindestlohn jährlich angepasst wird und diese Anpassung nicht an die Entwicklung der Tariflöhne gebunden ist.
- Zumindest nachgedacht werden sollte über Maßnahmen der Vermögensbildung für Familien mit niedrigen Einkommen. Im internationalen Vergleich besitzen die Menschen aus unteren Einkommensgruppen hierzulande sehr wenig Vermögen. Rund 40 Prozent der Deutschen haben entweder kein Vermögen oder sogar Schulden. Das macht ein selbständiges Leben schwierig und erklärt auch die heftige Debatte über Hartz IV, da Menschen ohne Vermögen häufig sehr nah an einem Hartz IV-Bezug sind. Die Politik sollte vermögensbildende Maßnahmen insbesondere für Kinder und Jugendliche in Erwägung ziehen.
- Neues Rentenkonzept. In einem neuen Rentenkonzept sollte die Rentenkommission die Rolle der kapitalgedeckten Renten neu adressieren. Die Riesterrente ist kein gutes Produkt für die Absicherung des Lebensstandards im Alter. Das bedeutet jedoch nicht, dass es keine guten Produkte geben könnte. Die skandinavischen Länder verfügen über eine gute Altersvorsorge auf der Grundlage einer staatlichen Rente in Kombination mit tariflich organisierten Betriebsrenten und individuellen Renten. Dieses Modell sollte nochmals geprüft werden, allerdings ohne den Einfluss der Versicherungsunternehmen. Eine progressive Rentenpolitik muss sich nicht zwangsläufig an dem österreichischen Vorbild orientieren und höhere Beitragssätze anstreben.
- Weitere Investitionen in qualitativ hochwertige Kinderbetreuung und Pflege. In den letzten Jahren wurde zu stark auf die Zahlen geachtet und nicht genügend auf die Qualität.
- Lohnpolitik. Die positive Lohnentwicklung der vergangenen Jahre sollte weiter positiv begleitet werden. Die Arbeitskultur in Deutschland muss sich wandeln, so dass Niedriglöhne in qualifizierten Berufen nicht einfach akzeptiert werden. Dies gilt auch für die Gewerkschaften, die zu lange an einer Politik der starken Lohnzurückhaltung festgehalten haben. Wenn es zu einer Konjunktureintrübung kommt, sollte stärker auf eine nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik gesetzt werden, die auch Investitionsanreize bietet. Unternehmen tragen sehr hohe Überschüsse vor sich her und müssen nicht weiter entlastet werden.