Bisher hat die Politik kein probates Mittel gefunden, das seit Jahren geringe Vertrauen der Bevölkerung in den Staat, seine Institutionen und seine Repräsentant:innen zurückzugewinnen. Das setzt auch die liberale Demokratie unter Druck. Eine aktuell im politischen Berlin sehr populäre Erklärung für den Vertrauensverlust: Der Staat „liefere“ nicht. Festgemacht wird das am ausbleibenden Wirtschaftswachstum, an maroden Brücken, der verschleppten Verwaltungsdigitalisierung und öffentlichen Bauvorhaben, die sich immer weiter in die Länge ziehen. Mehr noch: Viele Bürger:innen und Unternehmen haben den Eindruck, dass ihnen Politik und Verwaltung mit undurchschaubaren Entscheidungswegen und zähen Genehmigungsverfahren unnötig Hürden in den Weg stellen. Wenn die Bundesregierung darauf mit einem „Herbst der Reformen“, Bürokratieabbau und Maßnahmen für mehr staatliche Handlungsfähigkeit reagiert, hat diese Antwort deshalb auch eine demokratiepolitische Dimension.
Ein Spannungsfeld, zwei Szenen
Fraglich ist, ob diese Rechnung aufgeht: Kann Staatsmodernisierung verloren gegangenes Demokratievertrauen wiederherstellen? Lassen sich staatliche Verfahren im Zuge der Reform gar weiter demokratisieren? Und ist die Staatsmodernisierung hierbei ein eher verwaltungstechnisches oder genuin politisches Projekt? All diese Fragen würden in einem „Spannungsfeld zwischen wachsendem Anspruch der Bürger:innen und der als abnehmend wahrgenommenen Problemlösungskapazität des Staates“ verhandelt, erklärt Andreas Oldenbourg, Senior Projektmanager beim Progressiven Zentrum, zu Beginn des dritten Round Table Demokratiepolitik und definiert damit die Leitplanken für die Hintergrundrunde an diesem 24. November im Progressiven Zentrum. „Der demokratische Teufel steckt hier oft im Detail“, ergänzt Finn Heinrich, Director für Demokratie und Zusammenhalt bei der Bertelsmann Stiftung – und betont die außergewöhnliche Zusammensetzung der Teilnehmenden: Eher selten träfen Staatsmodernisierungs- und Demokratiepolitik-Szene aufeinander. Wenn diese produktiv ins Gespräch kämen, sei das Ziel des Abends bereits erreicht.
Als Impulsgebende des Abends konnten wir zwei Architekt:innen der Staatsmodernisierung gewinnen: Dr. Dominik Böllhoff, Abteilungsleiter Staatsmodernisierung und Bürokratierückbau im Bundesministerium für Digitalisierung und Staatsmodernisierung (BMDS) und die Unterabteilungsleiterin Modernes Deutschland im Bundesministerium der Finanzen Laura-Kristine Krause. Ihnen gegenüber nahm der Demokratie- und Parteienforscher Prof. Dr. Frank Decker von der Universität Bonn Platz. Dazwischen setzte sich Paulina Fröhlich, mittlerweile Senior Expert bei der Bertelsmann Stiftung und Moderatorin des Abends. Der Verlauf des Round Tables sollte herausstellen, dass die Sitzkonstellation durchaus sinnbildlich war.
Staatsmodernisierung als Projekt der Verwaltung
Doch erstmal herrscht große Einigkeit: Staatsmodernisierung sei das Thema der Stunde. „Der Initiative für einen handlungsfähigen Staat ist es mit ihrem pünktlich vor den Koalitionsverhandlungen vorgelegten Zwischenbericht gelungen, politisches Momentum zu erzeugen“, so Carl Schüppel, Junior Projektmanager des Progressiven Zentrums. Letztlich hätte es ein Großteil der Vorschläge in den Koalitionsvertrag geschafft. Mit der Gründung eines neuen Ministeriums – des BMDS – sei eine Empfehlung umgesetzt worden, bevor die Bundesregierung ihre Arbeit überhaupt richtig aufgenommen habe. In kürzester Zeit brachte das Ministerium eine „Modernisierungsagenda für Staat und Verwaltung“ auf den Weg – am vergangenen Donnerstag wurde zudem eine föderale Modernisierungsagenda auf der Ministerpräsidentenkonferenz beschlossen.
Die Schlagzahl im neuen Ministerium ist also hoch. „Denn der Druck ist es auch“, so Böllhoff, und zitiert die kürzlich erschienene dbb Bürgerbefragung Öffentlicher Dienst: 73 Prozent der Bürger:innen hielten den Staat für überfordert und ganze 70 Prozent glaubten nicht, dass die Bundesregierung viel an seiner Leistungsfähigkeit ändern werde. Hinzu kämen die Rezession und die überalterte Bevölkerung. Seine These: „Mehr Demokratievertrauen durch die Verbesserung der Funktionsfähigkeit des Staats ist denkbar.“ Dienstleistungen und Services müssten einfach funktionieren. In den letzten Jahren habe der Fokus eher auf Digitalisierung gelegen, doch – so Krause – „ein schlechter digitaler Prozess bleibt ein schlechter Prozess“. Und Böllhoff nennt das passende Beispiel: Die Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes wurde mit rund zwei Milliarden Euro durch Bund und EU finanziell unterstützt, doch diese hätten zu tausenden verschiedenartigen Lösungen auf kommunaler Ebene geführt.
Deshalb werde der Fokus jetzt auf das „Engineering“ von Verwaltungsprozessen gelegt: „In Deutschland gibt es über 12.000 Gesetze, 20.000 Verordnungen und 200.000 Verwaltungsvorschriften. In dieses hoch regulierte System wollen wir etwas Atmung hereinbringen“, so Böllhoff weiter. „Im BMDS haben wir es in gewisser Weise vorgemacht. Früher waren unsere Themen zwischen Innen-, Justiz-, Verkehrsministerium und dem Kanzleramt verteilt“. Da jetzt alles an einem Ort sei, könne „im und mit dem Maschinenraum“ der Verwaltung viel kohärenter und konsequenter gearbeitet werden. Die Modernisierungsagenda der Bundesregierung versucht diesen Ansatz mit 23 Hebelprojekten auf die gesamte Verwaltung auszudehnen. Projekte wie die 24-Stunden-Unternehmensgründung, die Zentralisierung der internetbasierten Fahrzeugzulassung oder Experimentierklauseln sollen schnell „spürbare Verbesserungen“ für Bürger:innen und Unternehmen erwirken.
Staatsmodernisierung als Projekt für Bürger:innen
Dafür müssten die Verfahren für sie Sinn ergeben, ergänzt Krause: „Viele Menschen verstehen zum Beispiel nicht, warum unterschiedliche behördliche Stellen dieselbe Information doppelt abfragen”, so die Expertin aus dem Bundesministerium der Finanzen. Enttäuschungen wie diese erzeugten bei vielen Bürger:innen eine „Negativvermutung“, die Vertrauen in den Staat und seine Prozesse untergrabe. Mehr noch: „Das belastet sogar einen zentralen Bestandteil deutscher Identität.“ Denn, so zeigt die von Krause angestoßene und jüngst veröffentlichte Studie Deutsche Identität(en)? Wer wir als Gesellschaft sein wollen von More in Common, das Selbstbild „Deutschland als Land funktionierender Systeme“ ist für viele Deutsche ein identitätsstiftendes Motiv.
„Doch die Staatsmodernisierung ist nur ein Teil der Antwort, mit der die Bundesregierung das Vertrauen der Menschen zurückgewinnen will. Der andere ist das Sondervermögen Infrastruktur”, so Krause. Wenn man das schuldenfinanzierte Vermögen nämlich nur dafür verwende, um „zu machen, was man immer so gemacht hat“, gewinne man das Vertrauen der Bürger:innen nicht zurück. Vielmehr brauche es effizientere Abläufe, klare Zuständigkeiten und eine zeitgemäße Verwaltungspraxis, um das Sondervermögen zielgerichtet einzusetzen.
Ein Ergebnis politischer Abwägungen
Wie beim Sondervermögen treffen jedoch auch bei der Staatsmodernisierung verschiedene politische Zielsetzungen aufeinander. „Staatsmodernisierung ist immer auch das Ergebnis politischer Abwägungen.“ Ein Beispiel dafür seien Entscheidungen zu Aufbewahrungsfristen von Buchungsbelegen bei Banken, Versicherungen und Wertpapierinstituten. Eine Verkürzung baue zwar rein rechnerisch Bürokratie ab, doch seien Aufbewahrungsfristen zum Beispiel wichtig für die wirksame Bekämpfung von Steuerhinterziehung – etwa von Cum-Ex-Geschäften. Aus diesem Grund habe das Bundesministerium der Finanzen unter Lars Klingbeil kürzlich eine in der Ampelregierung erfolgte Verkürzung der Aufbewahrungsfristen wieder zurückgenommen. Staatsmodernisierung darf deshalb nicht nur als Selbstzweck oder unter Effizienzgesichtspunkten behandelt werden, sondern ist eine Frage von Politik.
Staatsmodernisierung als Projekt mit den Bürger:innen?
Eine politische Einbettung der Staatsmodernisierung wird für Böllhoff auch an den Rahmenbedingungen sichtbar, unter denen Politik stattfindet. Er beschrieb den „kurzfristigen Erfolgsdruck“ unter dem Politiker:innen stünden, weil dies auch die Reichweite seiner Bemühungen im BMDS schmälere: „Durch längere Legislaturperioden wäre es zum Beispiel möglich, in längeren Linien zu denken, komplexere Projekte am Stück umzusetzen und auch unbequeme Entscheidungen zu treffen“, so der Verwaltungswissenschaftler. Frank Decker quittiert diesen Vorschlag mit einem energischen Kopfschütteln.
Sowohl die bisherige Diskussion als auch die geplante Modernisierungsagenda konzentrierten sich sehr auf die Ergebnisse für Bürger:innen. Wichtig sei jedoch auch, sie als Akteure einzubeziehen, etwa mit parlamentarischen Petitionsrechten, direktdemokratischen Beteiligungsformen sowie Klagerechten. „Der Rückbau demokratischer Teilhabe zugunsten von Effizienz, wie Sie ihn vorschlagen, suggeriert dagegen, dass der Wähler das Problem ist“, so Decker zu Böllhoff. In der Schweiz oder den skandinavischen Ländern sei der Staat nicht nur leistungsfähiger, sondern auch durch mehr demokratische Teilhabe gekennzeichnet. Gleichzeitig gebe es ein hohes Vertrauen in Staat und Demokratie. Sein Fazit: „Man muss Effizienz und Teilhabe zusammen denken und beide stärken.“
Das „Gegenwarts-Zukunfts-Problem“
Auch wenn die Modernisierungsagenda zum Beispiel mit dem digitalen Meldeportal für Bürokratie Beteiligungsmöglichkeiten für Bürger:innen vorsehe, sieht Decker im Zwischenbericht der Initiative für einen handlungsfähigen Staat mehr demokratiepolitische Anknüpfungspunkte. Insbesondere der Verweis auf das Festhalten an bisherigen Verfahrensfristen sorge dafür, dass keine Fehler im Gesetzgebungsverfahren gemacht würden, wie es bei verkürzten Fristen vorkommen kann. In der anschließenden Diskussion formuliert es ein Teilnehmer schärfer: Besonders in puncto Transparenzgesetzgebung sei Deutschland im europäischen Vergleich weit abgeschlagen. Die Modernisierungsagenda schaffe es nicht, die Lage zu verbessern, im Gegenteil, sie sei eine „Grundrechtsabbauagenda“, weil sie demokratische Beteiligungs- und Kontrollrechte einschränke und die Zivilgesellschaft nicht ausreichend integriere.
Frank Decker ordnet diese Diskussion in einen größeren theoretischen Rahmen ein und diagnostiziert ein „Gegenwarts-Zukunfts-Problem“ der Demokratie: Während viele politische Entscheidungen nur kurzfristig angelegt seien, würden zentrale, häufig sehr strittige Zukunftsfragen an Kommissionen oder das Bundesverfassungsgericht ausgelagert. Demokratische Innovationen wie Bürgerräte könnten hier für größere Akzeptanz bestimmter Maßnahmen sorgen. So ließe sich mit derselben Maßnahme sowohl die Input- als auch die Output-Kapazität des Staates stärken.
Die demokratiepolitische Szene steht bereit
Deutlich wird: Staatsmodernisierung bleibt ein Feld, in dem demokratiepolitische und verwaltungspraktische Perspektiven in einer gewissen Spannung zueinander stehen. Die Runde war sich einig, dass effiziente Prozesse und niedrigschwellige Verwaltungsleistungen Demokratievertrauen stärken können, weil sie das Gefühl vermitteln, dass der Staat Probleme schnell und verständlich lösen kann. Gleichzeitig schaffen auch Partizipation, Deliberation und Transparenz Vertrauen. Deshalb entfaltet die Staatsmodernisierung ihr volles Potenzial dann, wenn beide Perspektiven zusammen gedacht werden. Der Abend hat gezeigt, dass zentrale demokratiepolitische Akteure bereitstehen, die Staatsmodernisierung mal kritisch, mal unterstützend zu begleiten – und den beteiligten Akteuren Mut zu machen.
Denn Mut brauchen sie angesichts des fehlenden Vertrauensvorschusses in die Regierung und einer zunehmend skeptischen Öffentlichkeit. Den Mut, offen über Zielkonflikte, Zeitrahmen sowie politische Prioritäten und Abwägungen zu sprechen. Und vielleicht auch den Mut, deutlich auszusprechen, dass Staatsmodernisierung die Vertrauenskrise nicht allein lösen wird.
In Zusammenarbeit mit der Bertelsmann Stiftung



