Das Vertrauen in den Sozialstaat und darin, politisch gehört zu werden, bröckelt – und das massiv. Das zeigt die aktuelle Erhebung des Ungleichheitsbarometers des Exzellenzclusters „The Politics of Inequality” an der Universität Konstanz, dessen Ergebnisse es in Kooperation mit dem Progressiven Zentrum und dem Zentrum für neue Sozialpolitik im April in zwei Papern veröffentlicht hat. Wie kann Politik diesem Vertrauensverlust entgegenwirken – und politische Teilhabe stärken? Welche konkreten Maßnahmen sind dazu nötig – und was ist diesbezüglich von einer Koalition aus CDU/CSU und SPD zu erwarten? Diese Fragen haben wir am 7. April im Rahmen eines Roundtables mit etwa 40 Expert:innen aus Politik, Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Medien diskutiert.
Ausgangspunkt der Diskussion waren die Ergebnisse der jüngsten Erhebung des Konstanzer Ungleichheitsbarometers, die die Autoren Dr. Marius Busemeyer, Professor für Politikwissenschaft und Sprecher des Konstanzer Exzellenzclusters, und Felix Jäger, Research Associate im zugehörigen Clusterprojekt „Ungleichheitsbarometer“, zu Beginn vorstellten. Der Fokus der Untersuchung, für die 6.000 Personen befragt wurden, lag dabei auf der subjektiven Wahrnehmung von Ungleichheit in den Bereichen Einkommen und Vermögen, Wohlfahrtsstaat, soziale Mobilität, Auswirkung des Klimawandels und politische Beteiligung – und die Ergebnisse zeichnen ein besorgniserregendes Bild.
Erosion des demokratischen Fundaments durch gefühlte Ungleichheit
Mehr als 70 Prozent der Befragten äußerten ein (sehr) geringes Vertrauen sowohl in die Leistungsfähigkeit, Fairness sowie langfristige Finanzierbarkeit des deutschen Sozialstaats. Diese Einschätzung ist Busemeyer zufolge besonders ausgeprägt in Bevölkerungsgruppen mit geringerem Einkommen und Bildungsstand – ebenso wie die geringe Wahrnehmung politischer Einflussmöglichkeiten. Personen mit höheren Einkommen sähen vor allem in den Bereichen Bildung und sozialer Aufstieg eine gesellschaftliche Ungleichbehandlung. Insbesondere im Bereich Rente nähmen hingegen vor allem Befragte mit geringem Einkommen eine unfaire Behandlung wahr – möglicherweise aus Sorge vor Altersarmut. „Scheinbar gibt es eine weit verbreitete Unsicherheit und Unzufriedenheit mit der Performanz des Rentensystems”, so Busemeyer – und das, obwohl das Rentensystem nach dem Äquivalenzprinzip zwischen eingezahlten Beträgen und ausgezahlten Renten funktioniert. Die neue Bundesregierung sollte dies zum Anlass nehmen, das System durch langfristig orientierte Reformen nachhaltig abzusichern, so der Autor.

Darüber hinaus bestehe ein Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung von Ungleichheit und dem Wahlverhalten, so Busemeyer. Insbesondere Personen, die angaben, bei der Bundestagswahl im Februar 2025 die AfD wählen zu wollen, nehmen sowohl eine hohe ökonomische Ungleichheit als auch eine geringe politische Selbstwirksamkeit wahr. „Soziale Ungleichheit unterspült im Ergebnis das demokratische Fundament des deutschen Sozialstaats”, so Busemeyer. In der Frage, inwiefern das politische System auf Wünsche und Bedürfnisse der Wähler:innen reagiert, zeigten sich allerdings Befragte mit verschiedensten Parteipräferenzen sowie aller Einkommens- und Bildungsgruppen sehr skeptisch: 85 Prozent geben an, dass Politiker:innen sich nicht darum kümmern, was „einfache Leute” denken; 82 Prozent sind der Meinung, dass sich Politiker:innen nicht um einen engen Kontakt zur Bevölkerung bemühen.
Verzerrte Wahrnehmungen? Folgen für Demokratie und Sozialstaat
Die Ergebnisse müssen besorgen – nicht, weil sie neu sind. Politische Beobachter:innen, da waren sich die Roundtable-Teilnehmer:innen einig, beobachten schon seit Jahren ein sinkendes Vertrauen in den Staat. Was die Mitdiskutant:innen des Roundtables an diesem Abend – u. a. Anna Mayr, Redakteurin im Hauptstadtbüro von „Die Zeit”, und Jörg Deml, Referatsleiter für „Wohlstandsmessung, Armuts- und Reichtumsfragen“ im Bundesministerium für Arbeit und Soziales – jedoch aufhorchen lässt, sind das Ausmaß sowie die Deutlichkeit der Befunde auch in der gesellschaftlichen Breite.

Die Frage ist: Wodurch werden diese Wahrnehmungen geprägt? Inwiefern schlagen Verzerrungseffekte zu Buche? Während die sozialstaatliche Versorgung heut nicht schlechter sei als früher, so gehe die Wahrnehmung der Menschen doch in eine deutlich andere Richtung. Die Autoren beschrieben die Ursache als komplexes Zusammenspiel aus sozialwissenschaftlichen, kommunikationswissenschaftlichen, sozialpsychologischen und ideologischen Faktoren, das wissenschaftlich längst nicht tief genug ergründet sei.
Auch der Einfluss medialer Narrative fand im Zusammenhang mit der Prägung von subjektiver Wahrnehmung immer wieder Erwähnung. So könne beispielsweise eine überproportionale Thematisierung von Migration im Wahlkampf die Wahrnehmung wichtiger politischer Themen sowie die Einschätzung von Ungleichheit erheblich beeinflussen – selbst wenn diese Themen für die alltäglichen Sorgen vieler Menschen von geringerer Bedeutung sind.
Real hingegen sei die wahrgenommene Bevorzugung höherer Einkommensgruppen bei politischen Entscheidungen. Die Politik müsse derweil sowohl tatsachennahe als auch objektiv gesehen verzerrte Wahrnehmungen ernst nehmen – weil beide konkrete Implikationen für das gesellschaftliche Gefüge haben. Die Frage ist: Wo können Politiker:innen konkret ansetzen angesichts einer von so vielen Faktoren beeinflussten Gemengelage? – weil beide konkrete Implikationen auf das gesellschaftliche Gefüge und das politische Handeln der Bürger:innen hierzulande haben.
Begegnungsorte über sozioökonomische Interessen hinweg – und ein funktionsfähiger Staat
In der Diskussion wurden verschiedene Handlungsfelder identifiziert, um der negativen subjektiven Wahrnehmung und der damit einhergehenden Distanzierung von etablierten politischen Prozessen entgegenzuwirken. Ein wesentlicher Punkt war die Notwendigkeit, niedrigschwellige Begegnungsorte zu schaffen. Insbesondere betonten die Teilnehmer:innen das Fehlen von Räumen, in denen ein Austausch über sozioökonomische Grenzen hinweg stattfinden kann – sei es im Wohnumfeld, beim Einkaufen oder im Bildungsbereich. Die mangelnde Durchmischung beeinflusse die Selbst- und Fremdwahrnehmung und verhindere ein gemeinsames Verständnis unterschiedlicher Lebensrealitäten.

Auch die Optimierung der tatsächlichen Wirksamkeit staatlicher Leistungen sei ein wesentlicher und ganz realpolitischer Hebel. Lange Wartezeiten und die Überlastungen von Behörden prägten das Erleben vieler Bürger:innen, der Staat funktioniere an vielen Stellen tatsächlich nicht. Auch vermittle der komplizierte Zugang zu Leistungen das Bild eines responsiven Bürokratiemonsters, das seinen Teil zur erfassten Wahrnehmung beitragen dürfte.
Essenziell sei darüber hinaus eine inklusivere und bürgernahe politische Kommunikation – auch um tatsächlich verzerrte Wahrnehmungen zu korrigieren. Das Beispiel der Kommunikation rund um das Bürgergeld verdeutliche die Schwierigkeit einer verständlichen Vermittlung und adäquaten Auseinandersetzung mit bestehenden Unzufriedenheiten. Ohne diese elementaren Missstände tatsächlich anzugehen, könne – so war man sich einig – Vertrauen in demokratische Institutionen nicht zurückgewonnen werden.